Unvorhersehbares

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Im Auge des Pottwals – Zeichnung aus: James Colnett, A Voyage to the South Atlantic and round Cape Horn into the Pacific Ocean ... London, 1798.

Eine Reihe von Stellen in Moby-Dick beschäftigen sich mit den Augen des Wals, mal als Detail in der geschilderten Handlung, mal reflektierend. Recht ironisch äußert Melville sich über die mangelnde Sachkenntnis einiger Autoren. (Interessanterweise ist bis heute vieles in der Biologie der Pottwale nicht bekannt: Wie genau jagen sie? Wie lange dauert die Tragzeit der Kühe? ...)

Als ersten Wissenschaftler zitiert Melville in Kapitel 32 Carl von Linné, der den Wal 1766 immerhin nicht länger als Fisch, sondern als Säugetier klassifizierte. Melville zitiert Linné wie folgt (Kapitel 32): „Wegen ihres warmen Herzens mit zwei Kammern, ihrer Lungen, ihrer beweglichen Augenlider, ihrer innen hohlen Ohren, penem intrantem feminam mammis lactantem …“ Das mit dem eindringenden Penis und den Milch gebenden Brüsten ließ sich damals offenbar nur auf Lateinisch schreiben.

In Kapitel 55 setzt Melville sich ironisch mit einem Buch von einem Kapitän Colnett auseinander, das eine angeblich maßstabsgetreue Zeichnung des Pottwals enthält, die nach einem 1793 erlegten Tier gefertigt worden sei. „Würde man das Auge, das dort gezeigt wird, dem beigefügten Maßstab entsprechend auf einen ausgewachsenen Pottwal übertragen, so ergäbe es ein Bogenfenster von ungefähr fünf Fuß [1,50 m] Breite. Ach, mein wackerer Kapitän, warum hast du nicht Jona für uns verewigt, wie er aus diesem Auge herausschaut!“

Mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse stellt Melville eigene Überlegungen über die Augen des Pottwals an (Kapitel 74): „Seitlich am Kopf, weit hinten und tief unten, nicht weit von den Kiefergelenken, werdet ihr bei beiden Walen, wenn ihr genau hinschaut, schließlich ein wimpernloses Auge entdecken ...“

Der Wal, folgert Melville, könne nicht sehen, was sich direkt vor ihm befinde (etwa, das sagt er hier noch nicht, ein anzugreifendes Schiff, oder auch, das sagt er hier bereits, einen angreifenden Feind). „Der Wal dürfte ... zwangsläufig ein klares Bild auf der einen und ein anderes auf der anderen Seite sehen; alles dazwischen wird für ihn hingegen tiefstes Dunkel und blankes Nichts sein ...“

Der Mensch, so beobachtet unser Erzähler, könne sich immer nur auf einen gesehenen Gegenstand fokussieren, niemals auf zwei oder mehrere zugleich. Wie kommt der Wal dann mit zwei verschiedenen Bildern zurecht? „Zugegeben, beide Augen müssen unabhängig voneinander zur gleichen Zeit arbeiten – aber ist sein Hirn so viel umfassender, scharfsinniger und besser im Verknüpfen als das menschliche Hirn, dass er gleichzeitig zwei verschiedene Bilder aufmerksam betrachten kann, dass eine auf einer, das andere auf der genau gegenüberliegenden Seite?“

Wie steht es um die Wahrnehmung der Welt, möchte man fragen. Wird nicht ein Mensch, der unter dem Druck steht, zwei „Welten“, sagen wir zwei Stressoren, gleichzeitig seine Aufmerksamkeit widmen zu müssen, blind sein für das, was auf ihn zukommt? Finden wir hier eine melvillesche Ursituation vor? Etwa: zu wissen, dass man nur zum Schreiben etwas taugt, und gleichzeitig die Familie – Mutter, Schwestern, Frau und Kinder – ernähren zu müssen? Oder: aufgefordert zu sein, an den eigenen Manuskripten sorgfältiger zu arbeiten, und gleichzeitig den Drang verspüren, nur immer weiter Neues zu schreiben? Und dann dieser Verdacht, wenn auch in Skeptizismus gekleidet: Wale sind nach Meinung Melvilles zweifellos intelligent. Am Ende vielleicht intelligenter als Menschen? Jedenfalls verstehen sie es, ihre eigene Lebensgrundlage nicht zu zerstören.

Verfasst von: Thomas Lang