Thomas Grasberger – Grant als Selbstverteidigungsstrategie

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Foto: Susanne John

Autor, Journalist: Geboren in Altötting. Thomas Grasberger studierte Politikwissenschaften, Philosophie und Geschichte. Er arbeitet als freier Autor für den Bayerischen Rundfunk, diverse Printmedien und veröffentlichte einige Bücher, darunter Grant. Der Blues des Südens. Zuletzt erschien Flins. Das Geld des Südens.

Anarchismus ist ein Thema, das in Deinen Radioessays, Texten und Büchern immer wieder auftaucht. Was interessiert dich daran?

Ja mei, Herkunft verpflichtet halt. Wie die Allermeisten von uns, finde auch ich im Stammbaum keine Prinzessinnen oder Grafen, sondern vor allem Bauern oder Taglöhner, Steinhauer oder Leinenweber, Korbflechter oder Schuster, Kleinhändler oder Fabrikarbeiter. Menschen also, deren Leben oft geprägt war von Entbehrungen und Schikanen. Manche(r) kam mit der Obrigkeit auf die eine oder andere Weise in Konflikt. Und trotzdem gab es immer wieder welche, die sich gewehrt haben, die ein besseres Leben wollten, ohne dafür irgendwelchen Führern oder Parteifürsten hinterherzulaufen. Sie haben das Heft des Handelns selbst in die Hand genommen und nachgedacht, wie man Freiheit und Gleichheit ohne Zwang unter einen Hut bringt. Auch wenn man dafür manchmal gegen obrigkeitsstaatliche (Zellen-)Wände läuft. Ich finde, diese Menschen haben Respekt und Aufmerksamkeit verdient.

Was ist Anarchismus für dich?

Zunächst ein problematischer Begriff, der oft reduziert wurde auf Mord und Totschlag, Terror und Zerstörung. Der Anarchist als schlecht rasierter, zerlumpter, „ruassiger“ Bürgerschreck, der unserer braven, feschen Kaiserin Sisi am Genfersee eine rostige Feile durchs enge Mieder mitten ins Herz bohrt! Klar, solche Attentate hat's gegeben! Vor allem im 19. Jahrhundert. Aber sie waren nicht so zahlreich, wie es die obrigkeitsstaatliche Propaganda gern behauptete. Trotzdem gelang es ihr, die libertär-sozialistische Bewegung auf das Bombenleger-Image zu reduzieren. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die meisten Mega-Morde der Geschichte ja auf das Konto des staatlichen Terrors gehen: Hitler, Stalin, Mao, um nur die allerscheußlichsten zu nennen.

Haben historische Anarchisten für dich eine wichtige Rolle gespielt?

Im Alter von 16 oder 17 bin ich in meine Lieblingsbuchhandlung in Altötting gegangen und hab nach den Gesammelten Werken Michail Bakunins gefragt. Hatten sie leider nicht. Die Buchhändlerin wurde zwar etwas schmallippig – „Na, Sie lesen ja Sachen!“–, bestellte die drei Bände aber anstandslos. So konnte ich im örtlichen Kaffeehaus mit Bleistift mehr oder minder kluge Anmerkungen an den Rand „meines“ Bakunin kritzeln. Ein paar kluge Sätze sind sogar hängen geblieben. Zum Beispiel: „Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegienwirtschaft und ungerecht; Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität.“

Jedenfalls hatten wir damals in Altötting gerade ein Jugendzentrum gegründet, wo auch viel die Rede war von Freiheit und Selbstverwaltung. Was in der Umsetzung leidlich gut klappte, bis die Stadtväter meinten, zuviel Freiheit sei der oberbayerischen Jugend doch nicht zuzumuten. Also setzte man uns einen Sozialpädagogen vor die Nase. Aber ich glaub, der hatte auch Bakunin gelesen.

Im Studium standen dann Proudhon und Kropotkin auf meiner Liste, auch der Ökologe Murry Bookchin und der radikale Individualist Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner aus Bayreuth. Und natürlich die anderen „Baiern“, die 1919 für kurze Zeit ins Rampenlicht der Geschichte getreten waren: Gustav Landauer, der gelehrte und tiefgründige Philosoph, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Oder Erich Mühsam, der widerspenstige Bohemien und Dichter aus der Münchner Akademiestraße. Oder der oberbayerische „Provinzschriftsteller“ Oskar Maria Graf aus Berg am See. Viele kluge Köpfe also, feinsinnige Menschen, die sich in die Politik mischten, aber nie Berufspolitiker wurden, sondern Humanisten, Pazifisten und Idealisten blieben und eine Vision hatten von einer besseren Gesellschaft. Und die dann zu Verbrechern gestempelt und erschlagen oder vertrieben wurden, obwohl sie selbst nie Blut an ihren Händen hatten.

Wen würdest du heute als Anarchist/in bezeichnen?

Freiheitliche Linke würde mir besser gefallen. Das sind alle, die sich empören können über Ungerechtigkeiten und Ausbeutung, sinnlose Hierarchien und von oben verordneten Unsinn. Alle, die politische Entscheidungen lieber von unten nach oben treffen und keine vorschnellen Basta-Beschlüsse hinnehmen, selbst wenn das manchmal mühsamer ist und länger dauert. Auch alle, die ein Herz haben für kleine und größere Renitenzen im Kampf gegen die globale Flurbereinigung der Herzen und Hirne, Städte und Landschaften. Also Leute, die keine historischen Patentrezepte anbieten, keine vorgestanzten Fahrpläne zum irdischen Paradies, sondern selber denken und handeln. Wobei ich allerdings nicht zu denen gehöre, die heute im demokratischen Staat immer und überall einen Feind der Freiheit sehen. Und ebensowenig dient jeder Widerstand der Straße schon der Freiheit; im Gegenteil, manche Demo zieht heute höchst unangenehme Schwefelgerüche hinter sich her, die an Autoritäres oder an Faschismus erinnern.

Anarchismus und Bayern – wie passt das für dich zusammen?

Kommt drauf an, wie man's schreibt. Bayern mit -ay steht gemeinhin für den Staat, und der verträgt sich mit Anarchismus bekanntlich nicht so gut. Einfacher ist es bei Baiern mit -ai, als Ausdruck bairischer Kultur und Sprache. Da ist das anarchische Prinzip der Sturschädlichkeit quasi von Haus aus eingebaut. Die Tradition reicht von den aufständischen Bauern im 17. und 18. Jahrhundert bis zu den syndikalistischen Handwerkern und Arbeitern im frühen 20. Jahrhundert; von den exotischen Freigeistern der Schwabinger Bohème bis zur Spaßguerilla der Situationisten in den 1950er- und 60er-Jahren. Oder von den 68er-Studenten bis zu den wackeren Wackersdorfern, die sich staatlicher Arroganz und Wasserwerfern entgegen stellten.

Was hat zum Beispiel „Grant“ mit Anarchismus zu tun?

Grant als Selbstverteidigungstrategie gegen die Zumutungen des Alltag kann manchmal auch politisch werden. Wir alle, die wir zwar viel zu sagen, aber wenig mitzureden haben, ist der Grant dann ein Ventil. Man kann vor sich hinschimpfen und lästern oder die da oben derblecken. Eine kleine bairische Form anarchischen Widerstands und verbaler Dissidenz. Also durchaus eine feine Sache, der Grant, solange er nicht gallig oder gar bösartig wird.

Verfasst von: Gunna Wendt (Interview)