Erich Mühsam – Anarchie und Wahrhaftigkeit

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Erich Mühsam in der Festungshaftanstalt Ansbach, 1919

Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchistische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk. Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen. Sie schreien nach Polizei, weil sie allein sich nicht schützen können gegen die Bestialität ihrer Instinkte. Wo ihr Zusammenleben gemeinsame Entschlüsse verlangt, da lassen sie sich vertreten (die deutsche Sprache ist sehr feinfühlig), weil sie den eigenen Entschlüssen zu trauen nicht dem Mut haben.

(Erich Mühsam: Anarchie. In: Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte Hg.: Günther Gerstenberg, München 2002)

Der Dichter, Publizist, Bohemien und Anarchist Erich Mühsam wurde am 6. April 1878 als Sohn eines jüdischen Apothekers in Berlin geboren und wuchs in Lübeck auf. Wegen „sozialistischer Umtriebe“ wurde er 1896 des Gymnasiums verwiesen. Ab 1901 lebte er als freier Journalist in Berlin, arbeitete für verschiedene Zeitschriften und verkehrte in den Zirkeln der Berliner Bohème. Von 1904 bis 1908 ging er auf Reisen und hielt sich an verschiedenen Orten auf: Zürich, Ascona, Norditalien, München, Wien und Paris. Auf dem Monte Veritá am Lago Maggiore schloss er Freundschaft mit Gustav Arthur Gräser, der dort eine Siedlung gegründet hatte, die neue Lebensformen praktizierte. In dem malerischen Ort am Lago Maggiore, unweit des Kurorts Locarno, hatten sich bereits um die Jahrhundertwende gesellschaftskritische Aussteiger niedergelassen, die auf unterschiedliche Weise die Idee des „neuen Menschen“ realisieren wollten: Anarchisten, Pazifisten, Künstler, Schriftsteller, Bohemiens, Wissenschaftler, Frauenrechtlerinnen, Naturheiler, Nudisten, Tanzbegeisterte. „Lebensreform“ lautete das gemeinsame Ziel, das eine Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus bilden sollte. Industrialisierung und technischer Fortschritt wurden als Feinde der Natur und damit des Menschen abgelehnt. Es galt, das Rousseau'sche „Zurück zur Natur“ zu finden, verbunden mit Lehren von freier Liebe, natürlicher Ernährung und künstlerischer Selbstverwirklichung. Ascona wurde zum Schauplatz sozialer Experimente, zu einer Art Versuchslabor für alternative Lebensformen.

Vieles davon fand Mühsam in der Schwabinger Bohème wieder, als er sich 1909 in München niederließ. Er war Mitarbeiter des Kabaretts Elf Scharfrichter, schrieb Artikel für den Simplicissimus und gab von 1911 bis 1919 die monatliche erscheinende Zeitung Kain heraus. Zeitschrift für Menschlichkeit heraus, in der er ausschließlich eigene Texte publizierte.

Mühsam zählte, zusammen mit Ernst Toller und Gustav Landauer, zu den Leitfiguren der Münchener Räterepublik. 1919, nach deren Sturz, wurde er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, 1924 begnadigt und aus Bayern ausgewiesen. Seine Tagebuchaufzeichnungen von 1910 bis 1924 zeigen ihn als phantasievollen Weltveränderer, der Konventionen verneinte und seinen Anarchismus im Alltag lebte. In der Weimarer Republik kämpfte er für die Freilassung politischer Gefangener. Schon früh warnte er vor dem erstarkenden Faschismus. 1932 publizierte er die Schrift Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, wurde er verhaftet, in Gefängnissen und Lagern misshandelt und in der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934 von einer bayerischen SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Der Gefangene

Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!

Ich soll? Ich muß? – Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen beßre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann's euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen – Tyrannei!
Dann ruf ich's in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!

(Erich Mühsam: An die Soldaten. In: ders.: Sammlung 1898 bis 1928. Berlin 1978)

Verfasst von: Gunna Wendt

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