Die Vergeblichkeit

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Sisyphos-Darstellung Tizians, 1548/49

In Gert Hofmanns Hörspiel Der Stein (1962) tritt Sisyphos nach langjährigem Kampf mit seinem Gegenspieler, dem Stein, in einen Dialog. Sisyphos kennt den Berg genau, den er mit dem Stein erklimmen muss. Und er kennt den Stein und seine Tücken. Nachts, wenn sie zusammen lagen und der Stein schlief, war er wach geblieben, hatte den Stein befühlt und dabei herausgefunden, dass dessen Sieg über ihn eine Frage des Schwerpunkts war. In der richtigen Nutzung seines Schwerpunkts lag die Stärke des Steins. Er sprang im geeigneten Moment, während Sisyphos zum Beispiel zum Himmel blickte, von seiner Achsel.

Mittlerweile ist Sisyphos darauf vorbereitet. Und nicht nur das: Er hat in all den Jahren auch den Berg kennengelernt und für diese Kenntnis mit Umwegen, mit Stürzen, mit früher Erschöpfung gezahlt. Es hat sich gelohnt, denn er weiß, dass der, der das Gelände kennt, den Kampf schon fast gewonnen hat. Der Stein ist skeptisch bei so viel Siegessicherheit und weist Sisyphos darauf hin, dass er älter geworden sei, kaum noch aufrecht gehen könne und nach kurzer Zeit vor Anstrengung keuche. Der Stein erinnert sich daran, dass Sisyphos bei ihrem ersten gemeinsamen Aufstieg aus Übermut gesungen habe. Als der Stein damals, nachdem sie den Gipfel erreicht hatten, wieder den Berg hinabgesprungen sei, habe Sisyphos ihm überrascht nachgeschaut.

In Gert Hofmanns Hörspiel Der Stein blicken Sisyphos und der Stein auf ihre gemeinsame Geschichte zurück, die sowohl Elemente einer Rivalitäts- als auch Elemente einer Liebesbeziehung enthält. Sind sie Gegner oder Partner? Kämpfen sie gegeneinander oder miteinander? Vielleicht werden diese Fragen im Verlauf eines so langen Nebeneinanderlebens unwichtig.

Allerdings haben sich Sisyphos und der Stein dabei auf unterschiedliche Weise verändert. Während Sisyphos schwächer wurde, ist der Stein gewachsen und selbst zum Berg geworden. Er brüstet sich seiner Größe und verspottet Sisyphos so lange, bis dieser schweigt. Das ist für den Stein nur schwer auszuhalten.

„Sisyphos: Es gibt vieles, Stein, das du nicht weißt!
Der Stein: Es gibt etwas, was du mir verbirgst?
Sisyphos: (keuchend) Und was ... verberg ich dir?
Der Stein: Deine Gedanken!
Sisyphos: Gedanken?
Der Stein: Wie lang schon leb ich Brust an Brust mit dir? Und doch kann ich dich nicht verstehen.
Sisyphos: (keuchend) Wer könnte das: mich verstehen?
Der Stein: Was gibt dir jeden Tag die Kraft?
Sisyphos: Der Glaube ... an meinen Sieg. [...]
Der Stein: Woran denkst du?
Sisyphos: An meinen Sieg.
Der Stein: Das ist nicht alles, was du denkst! Gib zu: du ahnst noch mehr!
Sisyphos: (keuchend) Noch mehr!
Der Stein: Was, Sisyphos? Was?
Sisyphos: Willst du mein Geheimnis wissen? (flüsternd) Ich weiß,
dass es umsonst ist!“

(Der Stein)

Verfasst von: Gunna Wendt