Revolution und Spanische Grippe

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Polizisten in Seattle, die während der Spanischen Grippe Masken des Roten Kreuzes trugen, Dezember 1918

Nach dem Tod von Hedwig Lachmann gerät das Leben von Gustav Landauer und seinen Töchtern vollkommen aus den Fugen. Der trauernde Witwer kann monatelang nicht mehr arbeiten; er zieht sich ganz zurück und trifft keine Freunde mehr. Als er im April 1918 erstmals wieder zu Vorträgen nach Düsseldorf und Frankfurt aufbricht, fasst er vorübergehend wieder etwas Mut – um danach erneut in Trauer zu versinken, die ihm alle Schaffenskraft raubt. Erst im September erwacht Landauer endlich aus seiner Apathie: Die Intendanten des Schauspielhauses Düsseldorf, Louise Dumont-Lindemann und Gustav Lindemann, haben ihm eine Dramaturgenstelle angeboten. Landauer sagt zu und reist zu vorbereitenden Gesprächen nach Düsseldorf.

Zu dieser Zeit grassiert in Deutschland bereits die Spanische Grippe, die sich seit dem Frühjahr von einem US-amerikanischen Militärlager aus über die ganze Welt ausgebreitet hat. Die spanische Zeitung El Sol hat im Mai als erste in Europa über die Epidemie berichtet, während die Zeitungen in den anderen Ländern schweigend darüber hinweggegangen sind. Im Krieg herrscht Pressezensur, das Durchhaltevermögen der Bevölkerung soll nicht durch Katastrophenmeldungen geschwächt werden.

Auf seiner Rückfahrt aus Düsseldorf legt Gustav Landauer mehrere Stationen ein, um Freunde und Verwandte zu treffen. Dabei begegnet er auffallend vielen Menschen, die offenkundig heftig erkrankt sind. Als sich am 7. November 1918 dann in München der Umsturz ereignet und Kurt Eisner den Freistaat Bayern ausruft, kann Landauer die Ereignisse nur vom Krankenlager aus mitverfolgen. Die Spanische Grippe hat nun auch ihn erfasst. Ausgerechnet in diesem Zustand erreicht ihn ein Telegramm von Kurt Eisner mit der Bitte, umgehend nach München zu kommen. Landauer antwortet: „Lieber Kamerad, da liege ich nun an der Grippe im Bett und will mich dazu noch schonen, um am Leben zu bleiben; man dürfte unsereins fürs zweite nötiger haben als fürs erste.“

Einige Tage später schickt Eisner einen Brief, indem er seine Bitte wiederholt und Landauer darlegt, welche Unterstützung er sich von ihm in München erhofft: „Kommen Sie, sobald es Ihre Gesundheit erlaubt. Was ich von Ihnen möchte, dass Sie durch rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen mitarbeiten.“

Und so fährt Landauer, obwohl er noch nicht auskuriert ist, am 15. November nach München und stürzt sich in die Arbeit. Die vielfältigen Aufgaben beanspruchen ihn so sehr, dass er nicht die Zeit findet, wieder richtig zu Kräften zu kommen. In seinen Briefen klagt er über häufige Katarrhe und ständige Abmagerung. Und die Belastung nimmt noch zu: Am 21. Februar 1919, genau ein Jahr nach Hedwig Lachmanns Tod, wird Kurt Eisner ermordet. Die Stimmung in der Bevölkerung heizt sich nach dieser Bluttat derart auf, dass sich sofort ein „Zentralrat der Republik Bayern“ bildet, um die Lage unter Kontrolle zu bringen und bis auf weiteres die Regierung zu übernehmen.

Als es am 7. April 1919 zur Ausrufung der „Räterepublik Baiern“ kommt, erhält Landauer den Posten als Volksbeauftragter für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste. Wieder verzichtet er darauf, sich zu schonen, und arbeitet vom ersten Tag an wie ein Besessener an einer geplanten Reform der Hochschulen. Doch schon am 13. April endet die Räterepublik durch einen Putschversuch. Noch am selben Tag wird eine zweite Räterepublik unter Führung der Kommunisten ausgerufen. Landauer bietet auch hier seine Mitarbeit an. Doch als er feststellen muss, dass seine Ideen keine Resonanz finden, zieht er sich enttäuscht zurück.

Zu diesem Zeitpunkt wohnt Landauer im Haus von Else Eisner, der Witwe des ermordeten Ministerpräsidenten. Dort bekommt er am 27. April Besuch von zwei Männern: Einer von beiden ist der Arzt und Mathematiker Theophil Christen, der andere Silvio Gesell, der in den sechs Tagen der ersten Räterepublik Volksbeauftragter für Finanzen war. Als die Männer Landauer gegenüberstehen, bemerken sie erschrocken, wie eingefallen sein Gesicht ist. Theophil Christen schildert die Begegnung später so: „Er bekannte sich als chronisch darmleidend und ich machte ihm energische Vorwürfe über sein unvernünftiges Zigarettenrauchen, womit er den Rest seiner körperlichen Widerstandskraft vollends untergrub. Er lächelte müde, und ich sah, daß er nicht mehr die Kraft hatte, die Tabaksklaverei abzuschütteln, wußte auch, daß ich einen Todgeweihten vor mir hatte.“

Am Ende stirbt Gustav Landauer jedoch nicht an der totalen Verausgabung seiner Kräfte. Sein Leben endet nur fünf Tage später mit der brutalen Ermordung durch konterrevolutionäre Soldaten.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Rita Steininger

Sekundärliteratur:

Christen, Theophil (1919): Aus den Münchener Revolutionstagen. Buchdruckerei des Schweizerischen Grütlivereins, Zürich.

Leder, Tilman; Wolf, Siegbert (Hg.) (2014): Die Politik eines „Antipolitikers“. Eine politische Biographie Gustav Landauers. 2 Bde. Verlag Edition AV, Lich.

Steininger, Rita (2020): Gustav Landauer. Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit. Volk Verlag, München.

Quelle:

Martin Buber; Ina Britschgi-Schimmer (Hg.): Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. 2 Bde. Verlag Rütten und Loening, Frankfurt am Main 1929.