Spießrutenlaufen von der Synagoge zur Kirche

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Therese Giehse als Kind, 1903

Im Alter von sechs Jahren, 1904, wurde Therese in der Volksschule am St.-Anna-Platz im Münchner Lehel eingeschult. Über ihren ersten Schultag befand sie: „Ganz hübsch, aber so zeitraubend.“ Der Lernstoff interessierte sie nicht. Das, was sie selbst gerade beschäftigte und bedrängte, kam im Unterricht nicht vor, zum Beispiel warum sich Menschen so unberechenbar verhielten, wie sie es gerade am eigenen Leibe erfuhr. Von den Mitschülerinnen und Mitschülern, mit denen sie sich anfangs gut verstanden hatte, wurde sie auf einmal geschnitten – zur Außerseiterin gemobbt, wie man es heute nennen würde. Grundlos, ohne dass sie selbst ihr Verhalten geändert oder in irgendeiner Weise dazu beigetragen hätte.

Der kurze Schulweg von der elterlichen Wohnung in der Herzog-Rudolf-Straße zur Volksschule am St.-Anna-Platz geriet für Therese immer mehr zum täglichen Spießrutenlauf zwischen zwei gegensätzlichen Welten. Wenn sie morgens aus dem Haus trat, fiel ihr erster Blick auf die gegenüberliegende Synagoge. Nach etwas mehr als fünf Minuten am Ziel angelangt wurde sie gleich von zwei katholischen Monumenten empfangen: der St.-Anna-Klosterkirche und der gewaltigen St.-Anna-Pfarrkirche, neben der sich ihre Schule befand. Zwischen den Stationen Wohnung und Schule lagen unerfreuliche Zusammenstöße mit Mitschülern, die sie jeden Tag aufs Neue fürchtete: Die Kinder hänselten und drangsalierten sie, riefen ihr „Judden, Judden“ nach, rissen an ihren langen roten Zöpfen. Täglich galt es diesen Parcours der Niedertracht zu überwinden. Der katholische Religionslehrer lieferte seinen Schülern sogar noch die Begründung für ihr Verhalten, so dass Therese das Fazit zog: „Ich war dick und rothaarig und hatt' den Herrn Jesu umgebracht.“

1908 wechselte Therese nach vier Jahren Volksschule am St.-Anna-Platz ins angesehene höhere Bildungsinstitut für Mädchen, die Kerschensteiner Schule in Schwabing in der Franz-Joseph-Straße. Dort lebte damals die Familie Mann.

Laut Selbstaussage war Therese eine schlechte Schülerin. Der Unterricht langweilte sie nach wie vor und ihr Außenseitertum belastete sie. So schnell wie möglich wollte sie die Schule abschließen. 1914 war es dann so weit. Endlich fühlte sie sich frei. 

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Gunna Wendt