Ichfindung und Ichverlust im Trip

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Eröffnungszeremonie von Woodstock, 14. August 1969

Im Februar 1971 wird Bernward Vesper in die Psychiatrie München-Haar eingeliefert: Er schlägt einer Genossin das Bügeleisen an den Kopf, da sie Teufelshufe habe, verwüstet die Wohnungseinrichtung, springt nackt im schneebedeckten Innenhof auf den kaputten Brettern herum, und schreit, wie er es auch in der Niederschrift immer wiederkehrend verkündet, er sei Jesus, von dem er ebenso behauptet, er habe sich auf einem Trip befunden. Vesper erleidet an diesem Nachmittag einen schizophrenen Schub. Der Autor selbst begreift seine Erkrankung hingegen als die Entwicklung vom Sein zum Bewusstsein – sie ist Ausdruck von Leiden und Erfolg der denkenden Tätigkeit und vollkommener Einsicht in das Leben. Auf die notwendige Isolation und Selbstanalyse im therapeutischen Schreibprozess folgt die Selbstbefreiung in der durch den Drogenkonsum induzierten Bewusstseinserweiterung. Die Drogentrips sind Reisen in der Reise, gedacht als Erinnerungsreisen, die er demnach nicht zum Zwecke des lustvollen Rauschs antritt, sondern um vermittels ihrer bewusstseinserweiternden Wirkung seine Vergangenheit aufzuklären – Sigmund Freuds Anthropologie der Sexualität und Einsichten in die Wirkmechanismen der Unterbewusstseins fanden in der Generation der '68ern großen Anklang. Ein Kapitel heißt entsprechend: „Der lange Marsch durch die Illusionen“.

Vesper erhofft sich von den psychedelischen Erfahrungen eine Selbstbefreiung: Die halluzinogene Wirkung der Substanzen verspricht den Gewinn von Selbstvertrauen und eine Ablösung von der Sozialisierung, sie stellt einen absoluten Gegenwartsbezug her, in dem Vergangenheit und Zukunft in das Gefühl einer ewigen Zeitlosigkeit diffundieren. Dabei geht dem Konsum eine Reihe von Niederlagen voraus: Vesper erlebt seine Unfähigkeit sich von seiner jugendlichen Prägung abzulösen, leidet unter der gescheiterten Beziehung mit Gudrun, und empfindet eine allgemeine Entwurzelung und Rastlosigkeit – Verlorenheitsgefühle, die ihn überhaupt erst zu seiner Reise motivieren. Der Versuch, aus der Vergangenheit eine Brücke in die Zukunft zu schlagen und einen neuen sozialen Bezugsrahmen mit stabilisierenden Bindungen zu etablieren und dergestalt die Identitätskrise zu überwinden, ist gescheitert. Bindung und Freiheit sind gleichermaßen menschliche Grundbedürfnisse, verhalten sich komplementär. Die Befreiung gerät hier jedoch zum Selbstverlust. Die freie, ungebundene Liebe – dessen ungeachtet gab es eine Verlobung zwischen Vesper und Ensslin – ist ein Schauplatz der Selbstfindung und wird zugleich von Unsicherheit bestimmt. Selbst das gemeinsame Kind kann das Paar nicht aneinander binden – Baader wird Ensslin Vesper ersetzen, bis dass der Tod sie 1977 scheidet. Und so gerät Vesper auch in einen Zwiespalt gegenüber seinem Sohn Felix, den er während dieser Zeit zu Pflegeeltern gegeben hat und während der Reise schmerzlich zu vermissen beginnt.

Über die vermeintlich erhellende und damit zur Selbstwerdung erlösende Wirkung der Droge lässt der Autor verlauten:

Das Wertesystem verschiebt sich. Es ist das gleiche, wie wenn man zum ersten Mal klaut, zum ersten Mal abtreibt, zum ersten Mal den Satz begreift, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Man ist gefeit gegen alle neuen Suggestionen des Idealismus. Man wirft die Systeme in die Luft und sie fliegen davon, Spreu der Ideologien.

(Die Reise, S. 97.)

Die kindliche Erziehung hat ihn betäubt, das bürgerliche Denken ihn konditioniert. Die Droge befreit und eröffnet einen neuen Zugang zur Realität. Doch diese Befreiung entwickelt eine Eigendynamik – so liest sich die Reise auch als Dokument einer erkrankenden Psyche: Die Ich-Findung wird abgelöst durch die Selbstentfremdung (wie die Hofgartenszene illustriert) – der Sohn sieht den Vater noch näher an sie heranrücken. Anstatt Klärung zu erfahren, werden ihm noch mehr Widersprüche der eigenen Person offenbar – aus Selbsthass wird Selbstzerstörung. Das Vorhaben, mit dem Vater ins Gericht gehen zu können, mündet darin, dass er gegen sich selbst prozessiert. Eine Befreiung aus dem Solipsismus erwirkt die Spaltung am allerwenigsten. Erst recht wird der Erzähler in der Halluzination auf sich zurückgeworfen und von der Realität abgetrennt. Der Trip bringt ebenso wenig Erlösung wie die Gewalt – beide Antworten enden in Wahn, und am Ende der eingangs formulierten Formel steht der Untergang.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Luckscheiter, Roman (2001): Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung. Berlin.

Resch, Stephan (2007): Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Frankfurt a. Main.