Entmystifizierung der Autoritäten

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Eine Demonstrantin bietet eine Blume der am Pentagon wachhabenden Militärpolizei während einer Anti-Vietnam-Demonstration in Arlington (Virginia, USA) an, 21. Oktober 1967.

Die Riesenzwerge lassen sich als breitangelegte Gesellschaftssatire paradigmatisch als Entmystifizierungsroman lesen. Die noch fest im religiösen Glauben verwurzelte Nachkriegsgesellschaft versteht Kinderreichtum als Segen Gottes und erhebt die Vielkinderfamilie zum Ideal. Am Beispiel des Taxifahrers werden die vielen Kinder jedoch als finanzielle und psychische Belastung entlarvt. Überhaupt wird die Frömmigkeit, insbesondere die Nächstenliebe radikal demaskiert, wie das Beispiel des egoistischen und unbarmherzigen Verhaltens des Pfarrers, der einer Frau, die vor dem aggressiven Hund des Doktors Zuflucht in der Kirche suchen will, den Zutritt verwehrt, demonstriert. Dieses Verhalten erinnert wiederum an das Versagen der kirchlichen Institution während des Nationalsozialismus. Und im Zusammenhang mit der generellen Entmystifizierung der Autoritätspersonen erinnert der Fall des Doktors auch an die Barbarei der Euthanasie: Der Hund des Doktors spiegelt seine eigene Macht. Das bissige Tier beschert ihm immer wieder neue Patienten, die er wie Objekte behandelt – heute aus ökonomischen Gründen, damals zu Forschungszwecken. Der Gott in Weiß ist zugleich ein Teufel. Diese Darstellung steht dem Berufsstand der Ärzte diametral entgegen: Mit der Stilisierung des Arztes in den 1950er- und 1960er-Jahren – man denke dabei auch an die Hochkonjunktur von Arztfilmen – war eine Nachkriegshoffnung verbunden. Der Weißkittel wurde zum Heiler der Kriegswunden mystifiziert.

Auch in Der Nachwuchs (1968) illustriert Elsner die bürgerliche Scheinheiligkeit und Hoheitsgläubigkeit der Bevölkerung. An das Presseecho der Riesenzwerge können die Folgewerke allerdings nicht anknüpfen, sie werden geradezu verrissen und als müde Nachlese abgetan. Doch wird in dem zweiten Roman ein weiterer Themenschwerpunkt ersichtlich, der auch den '68er-Geist spiegelt: Die Autorin beschreibt Anpassungsverhalten und Unterwerfungsgesten der Jugend gegenüber den gesellschaftlichen und elterlichen Erwartungen. Im Mittelpunkt steht die Figur des jungen Nöll, eines „Zwergriesen“, anhand dessen Lebenswelt aufs Neue die Familienstruktur und Wohnkultur der bundesdeutschen 1960er-Jahre illustriert wird, insbesondere die Eigenheim-Obsession der Eltern. Immerhin durchbricht der Sohn diese Erwartungen in seinem konformen Lebensentwurf darin, dass er keine Familie gründet und keinen „Nachwuchs“ in die Welt setzt. Es sind bei weitem (noch) keine kleinen Revolutionäre, die in der Republik heranwachsen. In den Riesenzwergen treibt die Autorin die in den Schulen herrschenden autoritären Erziehungsmodelle, welche die Verhältnisse zu Hause reproduzieren, auf die Spitze: Die Schüler verhalten sich so gedrillt und gleichgeschaltet, dass sie sich nicht einmal mehr an ihre Namen erinnern können.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Cremer, Dorothe (2003): „Ihre Gebärden sind riesig, ihre Äußerungen winzig“. Zu Gisela Elsners Die Riesenzwerge. Schreibweise und soziale Realität de Adenauerzeit (Frauen in der Literaturgeschichte, 13). Herbolzheim.

Hehl, Michael Peter (2014): Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung: Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik. München.

Künzel, Christine (2012): „Ich bin eine schmutzige Satirikerin“. Zum Werk Gisela Elsners (1937-1992). Sulzbach/Taunus.