Savonarola der Neuzeit

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Abb. 78: Robert Haug (1857-1922), Stuttgart. "Der Vortrupp Blüchers erblickt den Rhein bei Caub", um 1893. Öl auf Leinwand, 135 x 215 cm. Auktionshaus Neumeister, München.

Es schleicht sich der allmähliche Verdacht heran, dass Thomas Mann dieses Werk von Stauffacher gekannt haben muss. Es ist tatsächlich ein Verdacht, der sich bei der weiteren Lektüre des Reiseberichts erhärten wird. Stauffacher kommt nun wirklich in Fahrt und präsentiert seinen Lesern ein Gedicht Die Sünde. Einen etwas längeren Ausschnitt lohnt es zu zitieren, um eine Idee davon zu vermitteln, wie die Ablehnung von Stuck in jener Zeit ausgesehen hat, aber auch einfach um ein Werk von stellenweise unfreiwilliger Komik vorzustellen, das seit 1897 trotz unermüdlicher Stuck-Forschung unbekannt geblieben ist: Das Wort „entblösst“ kommt wie später bei Thomas Mann vor, vielleicht unvermeidlich, auch „leuchtend“ kennen wir München aus dem späteren Gladius Dei, aber interessant ist, dass der Dichter Stauffacher, wie bei Savonarola in Gladius Dei, im Gegensatz zu anderen gebannt bei dem Bilde stehen bleibt und bei aller Ablehnung des Bildes erst nicht nach Hause geht:

Die Sünde

Ein käufliches Modell – ein widerliches Weib,
Auf schwarzem Grund ein weisser frechentblösster Leib
Nicht jung – nicht alt – nur nackt – und leuchtend hell gemalt.
Die Wangen ohne Scham, – so hat vor Gross und Klein
Der Künstler sie gestellt in grellen Tagesschein
Und aus des Weibes Augen glänzt: „Ich bin bezahlt“.

Um diese lasterhafte Venus aber schlingt
In schwärzlich blauen Farben eine Schlange sich
Und über dieses Weibes weisse Schulter ragt heraus
Auf tiefem Schwarz der Schlangenkopf und starrt auf dich
Mit einem gift‘gen Blick, der Mark und Bein durchdringt.
„Die Sünde“, heisst das Bild – Du lachst und gehst nach Hause.

Ich lache nicht ..., Ich bleibe vor dem Bilde stehn.
Die Sünde? Maler – nein, das ist die Sünde nicht!
Die Sünde, die geschehne That, ist kein Gedicht
Und kein Gemälde. Nein, das ist die Sünde nicht!

Und am Ende kommt die Abrechnung mit dem Maler Stuck:

Nicht eine Huldgestalt mit unentweihter Stirne –
Ihr preist mit eurer Kunst die freche Strassendirne –
Und das ist eine Sünde! Lieber Meister Stuck,
Den rechten Namen gabst du deinem Höllenspuk. [76]

Die Ähnlichkeiten mit der Einstellung von Savonarola beim Betrachten des „aufsehenerregenden Bildes“ im Schaufenster von M. Blüthenzweig sind kaum zu übersehen und wären alleine starke Belege, um den Verdacht zu untermauern, Thomas Mann habe Kenntnis von Stauffachers Text haben müssen. Es geht aber noch viel dramatischer weiter, denn Stauffachers Zorn und Eifer über die moderne Kunst, die vor allem Stucks Die Sünde beim Autor verursacht hat, lassen seine bußpredigerhafte Einstellung nicht in Ruhe. Aber Erlösung naht: „Wie eine Erlösung aus einem traumhaften, nervösen, tollen Durcheinander sind mir einige Landschaften, die mit einer geradezu verblüffenden Treffsicherheit der Farbenwerthe gemalt sind. Eine Erlösung von all den Geschmacklosigkeiten und Brutalitäten überreizter, verhetzter Kunstjünger aber ist mir das große, patriotische Bild von Robert Haug Der Vortrab Blücher’s erblickt nach der Schlacht bei Leipzig den Rhein [77]. (Abb. 78)

Ich athme auf! Luft ...... Licht ...... Raum ...... Freiheit! Heiliger deutscher Rhein, auch ich grüße dich! Und dich grüße ich, grosser, ehrlicher, deutscher Heldengeist, – auch dich grüße ich, grosser, ehrlicher, herzlieber Blücher! ... Und doch, Blücher, sende einen zischenden Flammenstrahl in dieses höhnische, nervös empfindende, marktschreierische undeutsche, unmännliche Komödiantenvolk, das der Kunst und dem Namen der göttlichen, ewigen Schönheit Hohn spricht, die grosse, reine Harmonie der Schöpfung und die unaussprechliche Tapferkeit und Liebefähigkeit des Menschenherzens verlästert und verleugnet! Mit der blanken Klinge warfst du die tapferen, übermüthigen Franzosen einst zum deutschen Lande hinaus, – aber heute stehen im starken, einigen, deutschen Reiche die Thüren und Thore weit offen für fremde Lüge und jedes frech und fremdartig gekleidete Laster. Blücher, sende deinen ziehenden Flammenstrahl! [78]

Zweimal nacheinander „Flammenstrahl“ als ersehnte Strafe eines preußischen Generals für das in München herrschende Laster, eine größere Beleidigung lässt sich von Münchener Seite kaum vorstellen: Stauffacher wird hier in seinem Eifer und fast hysterischer Ablehnung des angeblichen moralischen Missstandes eines Großteils der modernen Kunst endgültig zu einem Savonarola der Neuzeit. Aber die Sache ist immer noch nicht beendet, der Höhepunkt steht aus. Es gibt tatsächlich noch die erhoffte Steigerung, die den Text endgültig an die Darstellung Savonarolas in Gladius Dei heranführt und den abschließenden Beleg für Thomas Manns Kenntnis dieses Werks darstellen müsste. Stauffacher verfällt zunächst ins Bedauern: „Blücher schickt den Flammenstrahl nicht – und du, deutsches Volk, magst selber sehen, wie du dich der Verlotterung und der Blasphemie in Literatur und Malerei erwehrst. Wenn der liebe Gott es gut mit dir meint, woran ich nicht zweifle, so schickt er dir einen grossen Reiniger, der mit dem flammenden Schwerte des Geistes den fremden Cynisnus und die entnervte, greisenhafte Lüsternheit zum Lande hinauswirft“ [79]. Näher können sich Stauffacher und Thomas Manns Savonarola bei seiner Vision des Untergangs Münchens nicht kommen.

So endet der Text zu Stauffachers Besuch in München, genauso dramatisch wie die letzten Zeilen von Gladius Dei, die Savonarolas Vision des flammenden Schwertes über der Erde – „Gladius Dei super terram – Cito et velociter“ nur Ungutes für München und ihre Kunst verheißen. Die Figur von Stauffacher, auch seine erregte Sprache, bietet im Prinzip eine perfekte Vorlage für die Doppelgestalt Hieronymus/Savonarola und es ist kaum vorstellbar, dass Thomas Mann diese als Schweizer Privat-Publikation damals eigentlich kaum öffentlich greifbares Werk nicht gern für die eigenen Zwecke seiner inhaltsverwandten Novelle benutzt hat. Vielleicht hat er das Buch bei J. Littauer gesehen, oder nebenan bei der M. Rieger’schen Universitäts-Buchhandlung. Gänzlich übersehen war Stauffachers Werk damals nicht: Das Buch wurde in der Münchener Kunstzeitschrift „Die Kunst für Alle“ im Jahre 1897 besprochen, ohne allerdings, dass der Rezensent auf die Kapitel über München und Franz Stuck eingegangen ist [80]. Die allerletzte Spekulation kann trotz allem nicht vollständig ausgeräumt werden, aber die sprachliche und inhaltliche Beweislage ist dennoch ziemlich überzeugend [81]. Thomas Mann hat die aufregende Episode mit Mary Smith wohl mit Unterstützung eines Zeichenlehrers aus Sankt Gallen verewigt und ad acta gelegt.

 

[76] Ebda., S. 31f.

[77] Der Stuttgarter Maler Robert Haug, als „Schlachtenmaler“ bekannt, lehrte 1894 bis 1922 als Professor an der Stuttgarter Kunstschule (ab 1901 Akademie), von der er 1902 bis 1912 Direktor war. Das hier abgebildete Gemälde ist nicht das Originalgemälde, dessen Standort nicht bekannt ist, sondern eine vom Künstler etwas später angefertigte Version; sie wurde am 21. September 2005 in einer Auktion von Neumeister, Münchener Kunstauktionshaus angeboten: Für die Erlaubnis, das Bild abzubilden danke ich dem Auktionshaus Neumeister. Das Originalbild wurde 1893 als ganzseitige bräunliche Beilage in „Die Kunst für Alle“, München abgebildet, auch im Katalog der Secessions-Ausstellung München 1893 ist das Bild im Abbildungs-Anhang vertreten.

[78] Stauffacher, op. zit., S. 34f.

[79] Ebda., S. 35.

[80] Die Kunst für Alle, München, Bd. 13, 1897, S. 107.

[81] Z.B. befindet sich kein Exemplar von Stauffachers „Studienreisen“ in der Nachlassbibliothek des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich.

Verfasst von: Graham Dry