Eine wahrscheinliche Quelle zur Entstehung der Novelle

Ein Ende der Fragestellungen, die Gladius Dei aufwirft, ist aber noch nicht in Sicht, es wird in der Tat noch ganz dramatisch. Im fernen St. Gallen in der Schweiz macht sich nämlich 1893 Johannes Stauffacher, Hauptlehrer für künstlerisches Zeichnen (Naturzeichnen) am dortigen Industrie- und Gewerbemuseum auf den Weg mit dem Zug nach Dresden, um dort im Kunstgewerbemuseum eine Ausstellung von Mustern für Textil-Industrie, Tapeten und Vorsatzpapiere in Buntdruck zu besuchen. Er wird seine Eindrücke und Gedanken später in seinem Buch Studienreisen. Freimüthige Aeußerungen über Kunst und Leben, St. Gallen 1897 zusammenfassen. Unterwegs streifen seine Gedanken über die Gesellschaft, die Kunst, die Alten Meister, die Poesie und vieles andere mehr. Er schreibt an einer Stelle über unverdiente Kritik an die alten Dichter: „und bald wird der ganze Hühnerhof verrückt ... es giebt ein Geschnatter und Gegluckse zum Rasendwerden“ [72], und verwendet dabei ein Wort, das bei Gladius Dei von einem der beiden Jünglinge vor der Auslage von M. Blüthenzweig benutzt wird: „Ein Weib zum Rasendwerden!“ Stauffachers Weg führt ihn über München: „München! Ein Gesumme – ganz wie in anderen größeren Bahnhöfen“. Er besucht den Glaspalast, also die Münchener Jahresausstellung von 1893: „nichts bringe ich mit, als ein aufrichtiges Herz, das Heimweh hat nach euch und eurer Kunst und zwei gute Augen, die sich satt sehen wollen an Schönheit [!] und sonniger Farbenpracht“. Es tritt das Gegenteil ein. Der Autor nimmt enttäuscht nur wahr „Mansardenmisère, Spitalscenen, Stiergefechte, Gladiatoren-, Märtyrer-, Tiger- und Löwendurcheinander, dazwischen ein Arbeiteraufstand und eine Anarchistenversammlung, so trommeln die Carrière-Macher auf unseren Nerven herum, und wer dem Rummel nie auf den Grund gesehen hat, für den kann er einige schlaflose Nächte mit einem tollen Wirrwarr grässlicher Visionen [!] zur Folge haben“ [73].

Stauffacher besucht anschließend die „Secessionisten in der Prinzregentenstraße“. Er wirft ein Auge auf Franz Stuck, der ihn schwer enttäuscht – „um ihn ist es mir leid“. Stauffacher meint, dass seit den Blättern, die Stuck für den Verlag Gerlach in Wien gezeichnet hat [74], „Jahre des Kampfes und des Strebens dahin gegangen“ sind: „Der Kraftmensch, der einst in kecken Federstrichen allen Leuten der alten, süßlichen Richtung eine Überfülle von Aerger und Verdruss geschaffen hat, malte Bilder, vor denen sich Mancher mit dem Zeigefinger nach der Stirne tupfte“. Stauffacher kommt allmählich in Schwung und nimmt sich u.a. Die Sünde vor: „Von den neun Bildern, die Stuck bei den Secessionisten ausgestellt hat, ragen zwei besonders hervor, Die Sünde und Der Sieger: „Eines ist so gesucht und so falsch als das andere ... Die Sünde ist das Schönste und Ekelhafteste in enger Umschlingung: ein meisterhaft gemalter Oberkörper eines – vielleicht noch jungen Weibes, umrahmt von einem schweren, feuchten, kalten Schlangenleib, der in schwarzblauen Farben zu den Fleischtönen einen impertinent raffinierten Kontrast bildet“ [75]. Spätestens jetzt könnte die Erkenntnis reifen, dass Stauffacher bei seiner gleichzeitigen Faszination und Ekel vor Stucks Bild, sich in demselben ästhetischen und moralischen Dilemma befindet, wie später Savonarola in Gladius Dei.

 

[72] J. Stauffacher. Studienreisen. Freimüthige Aeußerungen über Kunst und Leben und speciell über das künstlerische und kunstgewerbliche Bildungswesen. Geschrieben, illustriert und herausgegeben von J. Stauffacher, St. Gallen 1897, S. 8; zum Industrie- und Gewerbemuseum St. Gallen, s.: Monica Strässle. Die textil-gewerbliche Bildungsinstitute in St. Gallen, in: Stickerei-Zeit, St. Gallen, Kultur und Kunst 1870-1930, in St. Gallen, St. Gallen 1989, Ausstellungskatalog des Kunstmuseums St. Gallen, S. 52-59, bes. S. 55.

[73] Stauffacher, op. zit., S. 18.

[74] Franz Stuck. Karten und Vignetten. Entwürfe und Compositions-Motive für Weinkarten, Menus, Hochzeitsblätter, Glückwunschkarten, Programme und Einladungen zu Musik-, Gesangs- oder Ballfesten, zur Jagd etc.; Festkarten für den Eis-, Wettrenn-, Velociped-, Turn-, Kegel- und sonstigen Sport nebst einem Cyklus humoristischer Vignetten. [Nach] Original-Zeichnungen von F. Stuck. Hg. Martin Gerlach, Verlag: Wien, Gerlach & Schenk, o. J. (1886).

[75] Stauffacher, op. zit., S. 30.

Verfasst von: Graham Dry