Mary Smith
Als virtueller Sieger, auch wenn nur in Form von einer ihn rechtfertigenden Vision und einer Stimme von oben geht Savonarola aus dem Geschehen hervor, und Thomas Manns Sympathie für diesen hässlichen Menschen und fanatischen Eiferer gegen das Leben und seinen Triumph ist nicht zu übersehen. Mann hatte bekanntlich zeit seines Lebens eine gerahmte Reproduktion von Fra Bartolommeos Bild des Bußpredigers auf seinem Schreibtisch [65]. Mann scheint in ihm selbst, den Florentiner Eiferer, den hässlichen Außenseiter, denjenigen zu erkennen, der nur vor dem Fenster steht und nicht an die dahinter liegende Schönheit oder auch die Wollust herankommen kann, dem das Erotische fremd und verwehrt zu bleiben scheint, und hat für ihn Verständnis: So schreibt Savonarola in einer seiner Predigten: „Denn der Eifer ist nichts anderes als eine starke Liebe, die im Herzen des Gerechten lebt; die ihn nicht ruhen läßt, sondern immer sucht all das wegzuräumen, was, wie er sieht, der Ehre Gottes – den er stürmisch liebt – entgegen ist“.
In derselben Predigt ist sehr viel von „Sünden“ die Rede und auch davon, dass die genusssüchtigen Damen sich wie Huren benehmen: „Sieh z.B. wie heute die Damen die Kennzeichen und den Schmuck der Dirnen tragen, und all die Moden, mit denen sich die Dirnen schön machen, wollen sie nachahmen ... Sag mir, wenn du eine Dame mit tief ausgeschnittener Brust und mit überflüssigem Schmuck behangen siehst, sagst du nicht: „Was bedeutet das? Das sind nicht die Zeichen einer ehrbaren Frau“ [66]. Thomas Mann erkennt wohl in sich selbst auch dieselbe Ablehnung der Erotik, die sein Held vor dem Bild im Schaufenster von M. Blüthenzweig zeigt. Er kommt weder mit der angeblichen Erotik vom Renaissance-Bild der heiligen Gebärerin, „entblößt und schön“, noch mit der herausfordernden Sexualität – „ein Weib zum Rasendwerden“ –, die von der Reproduktion des Gemäldes Die Sünde von Franz Stuck ausgeht – zu recht – und wie einer der beiden Jünglinge vor dem Schaufenster berichtet: „Sie wirkt in der Farbe weit aphrodisischer“. Gut also, dass der eifernde Savonarola nicht vor dem Originalbild in der Neuen Pinakothek stand. Bei seinem zweiten Besuch am Odeonsplatz verhält sich Savonarola vor dem Bild wie versteinert: „Langsam neigte sein Kopf sich tiefer und tiefer, so daß er schließlich seine Augen ganz von unten herauf statt auf das Kunstwerk gerichtet hielt. Die Flügel seiner großen Nase bebten. In dieser Haltung verblieb er wohl eine Viertelstunde“. Es ist gleich faszinierte Anziehung und ablehnende Abscheu und auf jeden Fall die Reaktion eines unglücklichen Sonderlings und hässlichen Außenseiters, mit dessen dennoch heldenhaftem Wesen Thomas Mann sich einverstanden erklären kann.
Für Mary Smith, der die Novelle gewidmet ist, die Thomas Mann an eine „Blondine von Botticelli“ erinnerte [67] und über die so gut wie nichts bekannt ist, diente diese Darstellung von München und vom schwierigen Wesen des Autors selbst nicht als sehr ermutigende Basis für eine Zukunft zu Zweit. Es ist natürlich davon auszugehen, dass sie ein Exemplar des bei S. Fischer, Berlin im Jahre 1902 erschienenen Werks erhalten hat. In der Pensione Fondini in Flörenz wird es 1901 zu einem zärtlichen Austausch mit Mann gekommen sein, inklusive seines Geschenkes von Süßigkeiten an Mary anlässlich ihres Geburtstages, da von beiden die Rede von einer Eheschließung gewesen ist [68]. Manns Unterbrechung an der Arbeit für das Bühnenstück Fiorenza, um sich Gladius Dei mit ihrem bitteren Ende zu schreiben, lässt den Schluss zu, dass die Novelle tatsächlich eine Verabschiedung darstellt. Thomas Mann war noch jung, hatte kaum Einkünfte, hätte sich und Mary niemals in München ernähren können und, was besonders deutlich aus der Novelle hervorgeht, kaum den eventuellen Erwartungen im Bereich des erotischen Miteinanders entsprechen können.
Am 7. Mai 1901 schrieb er über Mary Smith an seinen Bruder Heinrich, sich dabei merkwürdig und unnötig unterschätzend und auf ähnliche vergangene Liebesenttäuschungen hinweisend: „Miß Molly, deren Geburtstag vorgestern war und der ich ein Körbchen Zuckerfrüchte geschenkt habe, hat mir viel Freude gemacht. Aber nun werde ich ihr, glaube ich, zu melancholisch. She is so very clever, und ich bin so dumm, immer die zu lieben, die clever sind, obgleich ich doch auf die Dauer nicht mitkann.“ [69] Thomas Manns Bericht an Paul Ehrenberg vom 26. Mai 1901 ist das Schreiben eines relativ dankbaren Unbeteiligten:
In einer Florentiner Pension hatte näheren Umgang mit zwei Tischgenossinnen, Schwestern aus England, sich ergeben, von denen ich die Ältere, Dunkle sympathisch, die Jüngere, Blonde reizend fand. Mary, oder Molly, erwiderte meine Zuneigung, und ein zärtliches Verhältnis entwickelte sich, von dessen ehelicher Befestigung zwischen uns die Rede war. Was mich schließlich zurückhielt, war das Gefühl, es möchte zu früh sein, es waren auch Bedenken, die die fremde Nationalität des Mädchens betrafen. Ich glaube, die kleine Britin empfand ähnlich, und jedenfalls löste die Beziehung sich in nichts auf [70].
Man hätte gern Mary Smith dazu gefragt, ob alles tatsächlich so reibungslos abgelaufen ist. Vielleicht war es ein schlechtes Gewissen, das den hanseatischen Gentleman Thomas Mann dazu bewegte, einen Abschied in Form einer Novelle zu schreiben, die ihn als Homosexueller aus der emotionalen Bredouille half. In dieser Novelle wurde der einst geliebten Florenzbesucherin ein Bild von München und dem mit Savonarola sympathisierenden Autor präsentiert, das am Ende alles andere als vorteilhaft für den Autor erscheinen musste. Nach Manns vermutlichen Überlegungen konnte Mary Smith eigentlich dafür dankbar sein, dass es nicht mal zu einer Verlobung gekommen ist. Sie ist nach Manns vermutlicher Überzeugung einem drohenden Niedergang entkommen, wie er auch. Zumindest konnte Mann etwas Bleibendes in Form der Novelle als Entschuldigung und Erklärung anbieten, die das Gemeinsame an München und Florenz aufzeigten: Die Überfülle an Bildern von Bauwerken, Kunstwerken usw., die die Novelle bietet, wirken zusammen wie ein Ansichtskarten- oder Fotoalbum von München, ergänzt durch gemeinsam genossene Ansichten von Florenz, angefertigt für jemanden, der in Florenz viel von München als Parallelstadt gehört hat, aber nie besuchen wird, noch besuchen soll, bloß nicht. Thomas Mann zieht sich mit literarischer Würde aus der potenziell peinlichen Sache zurück. Mary Smith bleibt in England und wird Bäuerin, auf einigermaßen elegante Art [71]. Sie zu identifizieren, bleibt eine reizende Aufgabe der Forschung.
[65] Thomas Mann und die bildende Kunst, op. zit., S. 136-39.
[66] Savonarola. Predigten und Schriften. Ausgewählt, biographisch geordnet und erläutert von Mario Ferrara, Otto Müller Verlag, Salzburg 1957, S. 109-10.
[67] Ronald Hayman. Thomas Mann – A Biography, Bloomsbury Publishing, London 1995, S. 162.
[68] Nigel Hamilton. Brothers Mann. The Lives of Heinrich and Thomas Mann, 1871-1950, 1875-1955, Yale University Press 1979, S. 74.
[69] Thomas Mann, Heinrich Mann – Briefwechsel 1900-1949, Hg. Hans Wysling. Fischer Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., Dezember 2005, Frankfurt a. M., S. 78.
[70] Whitehead, op. zit., Anm. 2, S. 126f.
71. Ebda., S. 144: Brief von Mary Smiths Schwester Edith an Heinrich Mann v. 21. Dezember 1902: „Molly [d.h. „Mary“] is still at her farm but is going to London for the holidays“.
Weitere Kapitel:
Als virtueller Sieger, auch wenn nur in Form von einer ihn rechtfertigenden Vision und einer Stimme von oben geht Savonarola aus dem Geschehen hervor, und Thomas Manns Sympathie für diesen hässlichen Menschen und fanatischen Eiferer gegen das Leben und seinen Triumph ist nicht zu übersehen. Mann hatte bekanntlich zeit seines Lebens eine gerahmte Reproduktion von Fra Bartolommeos Bild des Bußpredigers auf seinem Schreibtisch [65]. Mann scheint in ihm selbst, den Florentiner Eiferer, den hässlichen Außenseiter, denjenigen zu erkennen, der nur vor dem Fenster steht und nicht an die dahinter liegende Schönheit oder auch die Wollust herankommen kann, dem das Erotische fremd und verwehrt zu bleiben scheint, und hat für ihn Verständnis: So schreibt Savonarola in einer seiner Predigten: „Denn der Eifer ist nichts anderes als eine starke Liebe, die im Herzen des Gerechten lebt; die ihn nicht ruhen läßt, sondern immer sucht all das wegzuräumen, was, wie er sieht, der Ehre Gottes – den er stürmisch liebt – entgegen ist“.
In derselben Predigt ist sehr viel von „Sünden“ die Rede und auch davon, dass die genusssüchtigen Damen sich wie Huren benehmen: „Sieh z.B. wie heute die Damen die Kennzeichen und den Schmuck der Dirnen tragen, und all die Moden, mit denen sich die Dirnen schön machen, wollen sie nachahmen ... Sag mir, wenn du eine Dame mit tief ausgeschnittener Brust und mit überflüssigem Schmuck behangen siehst, sagst du nicht: „Was bedeutet das? Das sind nicht die Zeichen einer ehrbaren Frau“ [66]. Thomas Mann erkennt wohl in sich selbst auch dieselbe Ablehnung der Erotik, die sein Held vor dem Bild im Schaufenster von M. Blüthenzweig zeigt. Er kommt weder mit der angeblichen Erotik vom Renaissance-Bild der heiligen Gebärerin, „entblößt und schön“, noch mit der herausfordernden Sexualität – „ein Weib zum Rasendwerden“ –, die von der Reproduktion des Gemäldes Die Sünde von Franz Stuck ausgeht – zu recht – und wie einer der beiden Jünglinge vor dem Schaufenster berichtet: „Sie wirkt in der Farbe weit aphrodisischer“. Gut also, dass der eifernde Savonarola nicht vor dem Originalbild in der Neuen Pinakothek stand. Bei seinem zweiten Besuch am Odeonsplatz verhält sich Savonarola vor dem Bild wie versteinert: „Langsam neigte sein Kopf sich tiefer und tiefer, so daß er schließlich seine Augen ganz von unten herauf statt auf das Kunstwerk gerichtet hielt. Die Flügel seiner großen Nase bebten. In dieser Haltung verblieb er wohl eine Viertelstunde“. Es ist gleich faszinierte Anziehung und ablehnende Abscheu und auf jeden Fall die Reaktion eines unglücklichen Sonderlings und hässlichen Außenseiters, mit dessen dennoch heldenhaftem Wesen Thomas Mann sich einverstanden erklären kann.
Für Mary Smith, der die Novelle gewidmet ist, die Thomas Mann an eine „Blondine von Botticelli“ erinnerte [67] und über die so gut wie nichts bekannt ist, diente diese Darstellung von München und vom schwierigen Wesen des Autors selbst nicht als sehr ermutigende Basis für eine Zukunft zu Zweit. Es ist natürlich davon auszugehen, dass sie ein Exemplar des bei S. Fischer, Berlin im Jahre 1902 erschienenen Werks erhalten hat. In der Pensione Fondini in Flörenz wird es 1901 zu einem zärtlichen Austausch mit Mann gekommen sein, inklusive seines Geschenkes von Süßigkeiten an Mary anlässlich ihres Geburtstages, da von beiden die Rede von einer Eheschließung gewesen ist [68]. Manns Unterbrechung an der Arbeit für das Bühnenstück Fiorenza, um sich Gladius Dei mit ihrem bitteren Ende zu schreiben, lässt den Schluss zu, dass die Novelle tatsächlich eine Verabschiedung darstellt. Thomas Mann war noch jung, hatte kaum Einkünfte, hätte sich und Mary niemals in München ernähren können und, was besonders deutlich aus der Novelle hervorgeht, kaum den eventuellen Erwartungen im Bereich des erotischen Miteinanders entsprechen können.
Am 7. Mai 1901 schrieb er über Mary Smith an seinen Bruder Heinrich, sich dabei merkwürdig und unnötig unterschätzend und auf ähnliche vergangene Liebesenttäuschungen hinweisend: „Miß Molly, deren Geburtstag vorgestern war und der ich ein Körbchen Zuckerfrüchte geschenkt habe, hat mir viel Freude gemacht. Aber nun werde ich ihr, glaube ich, zu melancholisch. She is so very clever, und ich bin so dumm, immer die zu lieben, die clever sind, obgleich ich doch auf die Dauer nicht mitkann.“ [69] Thomas Manns Bericht an Paul Ehrenberg vom 26. Mai 1901 ist das Schreiben eines relativ dankbaren Unbeteiligten:
In einer Florentiner Pension hatte näheren Umgang mit zwei Tischgenossinnen, Schwestern aus England, sich ergeben, von denen ich die Ältere, Dunkle sympathisch, die Jüngere, Blonde reizend fand. Mary, oder Molly, erwiderte meine Zuneigung, und ein zärtliches Verhältnis entwickelte sich, von dessen ehelicher Befestigung zwischen uns die Rede war. Was mich schließlich zurückhielt, war das Gefühl, es möchte zu früh sein, es waren auch Bedenken, die die fremde Nationalität des Mädchens betrafen. Ich glaube, die kleine Britin empfand ähnlich, und jedenfalls löste die Beziehung sich in nichts auf [70].
Man hätte gern Mary Smith dazu gefragt, ob alles tatsächlich so reibungslos abgelaufen ist. Vielleicht war es ein schlechtes Gewissen, das den hanseatischen Gentleman Thomas Mann dazu bewegte, einen Abschied in Form einer Novelle zu schreiben, die ihn als Homosexueller aus der emotionalen Bredouille half. In dieser Novelle wurde der einst geliebten Florenzbesucherin ein Bild von München und dem mit Savonarola sympathisierenden Autor präsentiert, das am Ende alles andere als vorteilhaft für den Autor erscheinen musste. Nach Manns vermutlichen Überlegungen konnte Mary Smith eigentlich dafür dankbar sein, dass es nicht mal zu einer Verlobung gekommen ist. Sie ist nach Manns vermutlicher Überzeugung einem drohenden Niedergang entkommen, wie er auch. Zumindest konnte Mann etwas Bleibendes in Form der Novelle als Entschuldigung und Erklärung anbieten, die das Gemeinsame an München und Florenz aufzeigten: Die Überfülle an Bildern von Bauwerken, Kunstwerken usw., die die Novelle bietet, wirken zusammen wie ein Ansichtskarten- oder Fotoalbum von München, ergänzt durch gemeinsam genossene Ansichten von Florenz, angefertigt für jemanden, der in Florenz viel von München als Parallelstadt gehört hat, aber nie besuchen wird, noch besuchen soll, bloß nicht. Thomas Mann zieht sich mit literarischer Würde aus der potenziell peinlichen Sache zurück. Mary Smith bleibt in England und wird Bäuerin, auf einigermaßen elegante Art [71]. Sie zu identifizieren, bleibt eine reizende Aufgabe der Forschung.
[65] Thomas Mann und die bildende Kunst, op. zit., S. 136-39.
[66] Savonarola. Predigten und Schriften. Ausgewählt, biographisch geordnet und erläutert von Mario Ferrara, Otto Müller Verlag, Salzburg 1957, S. 109-10.
[67] Ronald Hayman. Thomas Mann – A Biography, Bloomsbury Publishing, London 1995, S. 162.
[68] Nigel Hamilton. Brothers Mann. The Lives of Heinrich and Thomas Mann, 1871-1950, 1875-1955, Yale University Press 1979, S. 74.
[69] Thomas Mann, Heinrich Mann – Briefwechsel 1900-1949, Hg. Hans Wysling. Fischer Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., Dezember 2005, Frankfurt a. M., S. 78.
[70] Whitehead, op. zit., Anm. 2, S. 126f.
71. Ebda., S. 144: Brief von Mary Smiths Schwester Edith an Heinrich Mann v. 21. Dezember 1902: „Molly [d.h. „Mary“] is still at her farm but is going to London for the holidays“.
