Magasin Anglais

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Abb. 72: Johann Vierthaler (1869-1957), München. ‚Rosel‘, Bronzefigur, H. mit Bronzesockel 22,8 cm, Gesamthöhe 35,5 cm, auf dem Bronzesockel sign. ‚J. Vierthaler‘, geritzt. Privatbesitz H. S., München.

Im Laden von M. Blüthenzweig sind mehrere Leute nach dem Eintritt von Hieronymus anwesend: „Ein Herr im gelben Anzug und mit schwarzem Ziegenbart … betrachtete eine Mappe mit französischen Zeichnungen“, die im Kunst-Salon von Littauer ganz bestimmt von Siegfried Bing in Paris stammen würden. Eine vornehme alte Dame prüfte „moderne Kunststickereien, große Fabelblumen in blassen Tönen, die auf langen steifen Stielen senkrecht nebeneinander standen“. Entweder lenkt hier der Autor die Aufmerksamkeit von den gar nicht „steifen“ noch „senkrecht“ stehenden, sondern gespannten, bewegungsbereiten Stickereien von Hermann Obrist ab, die Littauer vom 12. bis zum 15. März 1896 gezeigt hatte, oder es handelt sich um Exponate aus der Ausstellung „Norwegische Webereien“, die Littauer im März 1897 veranstaltet hatte. In beiden Fällen kommen aber die angegebenen Motive nicht vor, zumal Thomas Mann bekannt gewesen sein muss, dass gerade bei Obrist die Kunst der gespannten, gebogenen Linie im Vordergrund stand, wie etwa beim heute weltbekannten Wandbehang „Alpenveilchen“, dem sogenannten „Peitschenhieb“, um 1895 in der Kaulbachstraße in München entstanden [59]. „Auf einem zweiten Tische saß“, um mit Hieronymus fortzufahren, „die Reisemütze auf dem Kopfe und die Holzpfeife im Munde, nachläßig ein Engländer. Durabel gekleidet, glatt rasiert, kalt und unbestimmten Alters, wählte er unter Bronzen, die Herr Blüthenzweig ihm persönlich herzutrug“. Es wäre schön und passend, wenn dieser Engländer auf Reisen, „durabel“ in Schutz gegen alle Eventualitäten des kontinentalen Wetters gekleidet, die der gewagte Ausflug ins Fremde mit sich bringen könnten, in Verbindung zum „Magasin Anglais“ von Thierry & Breul bringen könnte, der unter der Adresse Odeonsplatz 1 das Eckgeschäft Odeonsplatz/Briennerstraße bildete. Oder hatte sich der Engländer erst in diesem Geschäft eingekleidet? Wohl nicht, denn „Le Magasin Anglais“ verkaufte keine Herrenkleidung, sondern nur „Galanteriewaren“, d.h. im heutigen Sprachgebrauch „moderne Accessoires“, darunter Hüftflaschen, Parfumflakons, Puderdosen, Schreibwaren, auch Münchener Andenken, etwa in Form von Bierkrügen mit Münchner Kindl-Motiven dekoriert usw. Dennoch ist vielleicht ein scherzhafter Wink in Richtung des Eckgeschäftes gemeint: Eine Ansichtskarte aus jener Zeit zeigt das Geschäft mit der auffälligen Markise auf der rechten Seite, über der der Schriftzug auch ohne Lupe zu lesen ist „MAGASIN ANGLAIS“: Auf der Ludwigstraße flanieren Spaziergänger in der elegantesten Sonntagstracht, Kutschen warten seitlich des Hofgartentors auf Kundschaft, es handelt sich ja um eine sehr vornehme Gegend Münchens.

Der Engländer im Geschäft von M. Blüthenzweig interessiert sich bei den Bronzen, vielleicht nicht in der ganz angenehmsten und passendsten Weise, die möglicherweise den Pädophilen andeuten will, für die „ziere Gestalt eines nackten kleinen Mädchens, welche unreif, und zart gegliedert, ihre Händchen in koketter Keuschheit auf der Brust kreuzte“: Er hielt sie „am Kopf erfaßt und musterte sie eingehend, indem er sie langsam um sich selbst drehte“. Diese Bronzefigur ist tatsächlich dank Manns exzellenter Beschreibung zu identifizieren: Es handelt sich um „Rosel“, im Alter von 9 Jahren vom Münchener Bildhauer Johann Vierthaler (1869-1957) im Jahre 1900 modelliert (Abb. 72). Warum Thomas Mann gerade diese Statuette als Beispiel neuester und begehrenswerter Münchener Bronzekunst ausgewählt hat, zumal es sich um das allererste vervielfältigte Werk eines in München noch gänzlich unbekannten Bildhauers handelt, lässt sich noch nicht ermitteln. Rosa war die Tochter der Schwester von Vierthaler, Anna: Im Jahre 1915 sollte sie die zweite Ehefrau des viel älteren Simplicissisimus-Zeichners Eduard Thöny (1866-1950) werden, mit dem sie drei Kinder haben sollte [60]. Um den Engländer kümmert sich der beflissene Geschäftsinhaber, als wäre ihm der Geschmack seines Kunden gut bekannt: „Münchener Kunst, Sir … Höchst anziehend und verlockend“: „Manchmal näherte er sich dabei dem Käufer in gebückter Haltung“ – und dann folgt einer der großartigsten und humorvollsten Halbsätze der gesamten deutschen Literatur –, „als beröche er ihn.“

Nachdem die vornehme Dame ihre Wahl getroffen hatte und auch ein „neuer Herr“ eine „Fayencebüste Pieros, Sohn des prächtigen Medici“ gekauft hat [61] – vermutlich keine „Fayencebüste“, sondern ein kalt bemalter Gipsabguss des Kopfs des sitzenden Lorenzo di Piero de Medici von Michelangelo aus den Grabkapellen der Medici an der Kirche San Lorenzo in Florenz – verabschiedet sich der Engländer, „der sich das kleine Mädchen zu eigen gemacht“ hatte. Nun wendet sich der Kunsthändler Hieronymus zu. Hieronymus wird sofort zum Mönch Savonarola: Er „hielt seinen Mantel von innen mit beiden Händen zusammen ... trennte langsam seine dicken Lippen und sagte: „Ich komme zu Ihnen wegen des Bildes in jenem Fenster dort, der großen Photographie, der Madonna“. Er bittet Blüthenzweig und auch einen Angestellten, einen jungen Menschen „mit dem Aspekt der Schlechtbezahltheit und Pflanzenkost, das Madonnenbild unverzüglich aus dem Fenster zu entfernen, und zwar für immer ... Es ist die heilige Mutter Gottes“. Die Bildbeschreibung springt zur Sünde von Stück: „Sie wissen sehr wohl, daß es das Laster ist, das ein Mensch dort gemalt hat ...“, und Mann bringt dann die beiden Bilder wieder zusammen mit dem Aufruf „die entblößte Wollust“ – die Brust beim Renaissance-Bild war „entblößt und schön“, das Bild von Stuck zeigte laut einem der Jünglinge vor dem Schaufenster „ein Weib zum Rasendwerden“. Auf Die Sünde von Stuck passt wiederum die nächste Beschreibung: „Dieses Gebilde ist aus Sinneslust entstanden und wird in Sinneslust genossen“.

 

[59] Ausstellungskatalog „Hermann Obrist – Skulptur – Raum – Abstraktion um 1900“, Hg. Eva Afuhs u. Andreas Strobl, Museum Bellerive, Ein Haus des Museums für Gestaltung Zürich, Staatliche Graphische Sammlung München, 2009, S. 51, Abb. 2.

[60] Rosa, geb. Vierthaler, wurde am 23.02.1891 in Fürstenfeldbruck geboren und starb am 6.10.1972 in München. Weil das uneheliche Kind nicht in München geboren werden sollte, wurde Anna nach Fürstenfeldbruck zur Großmutter Vierthaler, geb. Liebhard verlegt. Der Vater von Rosa war ein Münchener Braumeister und Gastronom, der das Wirtshaus „Zum grünem Baum“ in Neuhausen besaß. Er heiratete Rosa nach dem Tod der Eltern Vierthaler. Die Information zur Familie Vierthaler verdanke ich Dr. Dagmar von Kessel, Enkelin von Rosa, selbst Besitzerin eines Exemplars von „Rosel“, das immer in Familienbesitz war. Zum Leben und Werk von Johann Viertthaler, s. Beate Dry-von Zezschwitz. Johann Vierthaler (1869-1857) – Kleinplastiken aus dem Nachlass des Künstlers, Ketterer Kunst Verlag, München 1997: Im Anhang listet das „Werkverzeichnis der Bronzestatuetten und anderer Arbeiten in Gips und Metall“ die Bronzestatuette „Nacktes Mädchen“ als WVZ 2, o. S., auf. Ein Exemplar des Modells wurde zum ersten Mal 1900 bei der Großen Berliner Kunstausstellung als „Nacktes Mädchen“ unter der Nr. 1733 gezeigt. Eine gewisse Ähnlichkeit von Vierthalers Statuette mit Clara Rilke-Westhoffs (1878-1954) impressionistischer Bronzestatuette „Stehendes Mädchen“, 1900, darf nicht übersehen werden: Abb. in Ausstellungs-Katalog „Die Malweiber von Paris – Deutsche Künstlerinnen im Aufbruch“, Edwin Scharff-Museum, Neu-Ulm 2015-6.

[61] Piero di Lorenzo de Medici (1472-1503) der älteste Sohn Lorenzos des Prächtigen regierte Florenz als dessen Nachfolger von 1492 bis 1494.

Verfasst von: Graham Dry