Ave Maria

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Abb. 62: Paul Höcker (1854-1910), Rom. Ave Maria, um 1898. Öl auf Leinwand, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek München.

Es gibt aber eine weitere Theorie zum Aussehen des „aufsehenerregenden Bildes“ im Schaufenster von M. Blüthenzweig, die nicht unerwähnt bleiben darf. Dirk Heißerer ist in seinem Buch Die wiedergefundene Pracht, Göttingen 2009 zunächst zu Recht davon ausgegangen, Wolfgang Frühwald und Peter-Klaus Schuster folgend, dass es sich bei dem Madonnenbild von Thomas Mann um einem „aus mehreren Vorbildern kombinierten Kunstwerk“ handelt. Er verweist zunächst, ohne richtig zu überzeugen, auf ein wahrlich moralisch unbedenkliches Gemälde Madonna mit Kind von Franz von Lenbach, 1865, nach einem Original des spanischen Malers Murillo, das in der Schack-Galerie in München hängt [51] und behauptet, ohne auf die „Madonna Litta“ aufmerksam zu machen, dass „gerade keine konkrete, dafür aber, durch die offene Brust („entblößt und schön“), eine [nur] mögliche Madonna lactans als Bildmotiv für die Novelle nachweisbar ist“ [52]. Während Peter-Klaus Schuster das Bild im Schaufenster irrtümlich als „fiktives Skandalgemälde“ genannt hat, bringt Heißerer dagegen eine interessante Theorie ins Spiel: Es muss sich bei dem Bild im Schaufenster um das Bild von Paul Höcker (1854-1910) in Rom, Professor an der Münchener Akademie, das vom 1. Juni bis Ende Oktober bei der Internationalen Kunst-Ausstellung „Secession“ im Kunstausstellungs-Gebäude am Königsplatz gezeigt wurde [53]. Das Bild war ein großformatiges Ölgemalde betitelt Ave Maria und maß genau 219 x 236 cm (Abb. 62).

Der Skandal war da, als schon ein Jahr vor der Ausstellung erkannt wurde, dass Höcker „einen Münchener Strichjunge“ als Modell für seine sitzende Madonna verwendet hatte. Schon im November 1898 hatte Höcker seinen Rücktritt als Akademieprofessor erklärt: Er lebte fortan auf Capri zusammen mit einem homosexuellen Dichter, dessen Liebhaber er mehrfach malte [54]. Als starken Hinweis auf die geglückte Identifizierung des Werks als die Ave Maria von Höcker, führt Heißerer zu Recht Thomas Manns viermalige Erwähnung der Nase von Hieronymus und „seines Vorbildes“ Savonarola als „groß und gehöckert“ an und vermutet dahinter ein Leitmotiv, das auch den Namen des Malers der skandalösen Madonna verbirgt [55]. Im Prinzip kann diese Vermutung stimmen, denn ein solches modernes deutsches, Skandal beladenes Bild kann durchaus Grund für das Entsetzen des deutschen Jünglings über das Bild im Schaufenster in der Doppelgestalt Hieronymus/Savonarola gewesen sein: Es ist der andere Teil der Doppelgestalt, Savonarola, der sich über das für ihn zeitgenössisches Bild der Florentinischen Renaissance aufregt. Das Bild im Schaufenster kann jedoch auch nicht zum Teil von Höcker sein. Obwohl Thomas Mann die Fenster von M. Blüthenzweig als „breit“ beschreibt, waren und sind sie schmal und hoch. Eine adäquat gerahmte Reproduktion des Bildes mit den übergroßen Maßen von Ave Maria hätte auch in reduzierter Form nie in einem derartigen Schaufenster gepasst. Es kommt noch die Thematik des Bildes dazu: Der Verbindung zwischen Mutter und Kind, das sich von der Mutter wegdreht, fehlt jede Erotik, von „entblößt und schön“ ist schon gar nichts zu sehen und die Gruppe sieht wie der Inbegriff von bürgerlichem, brav zugeknöpftem Glück im Heim und Garten aus. Höckers auf der Oberfläche ganz unverfängliches Bild hätte nie von der friedlichen Darstellung her Aufsehen erregen können. Überhaupt ist das Zentralmotiv des Bildes, die Madonna und Kind, viel zu klein im Verhältnis zu den anderen Figuren und der Landschaft und zu weit vom Vordergrund entfernt, als dass ihm eine besondere oder skandalöse Bedeutung als Hauptmotiv zuzumessen wäre.

Savonarolas körperliche Reaktion auf das Bild spricht auch kaum für eine Gegenüberstellung mit einer harmlosen, beruhigenden Idylle, die das Bild von Höcker darstellt. Im Gegenteil: „Seine Brauen … hatten sich gesenkt und verfinstert, seine Wangen, von der schwarzen Kapuze halb bedeckt, schienen tiefer ausgehöhlt, als vordem, und seine dicken Lippen waren ganz bleich“. Höckers Ave Maria ist kein Bild, vor dem Savonarola „wohl eine Viertelstunde verblieben“ wäre, denn an dem unbedenklichen Bild des Mutter- und Kindesglückes ist objektiv nichts im Sinne von Savonarolas Entsetzen zu beanstanden. Auch Hieronymus hätte an der unbedenklichen Darstellung von Höcker nichts auszusetzen gehabt.

 

[51] Dirk Heißerer. Die wiedergefundene Pracht, 2. Aufl., Göttingen 2010, S. 126 ff. Das Originalbild von Murillo befindet sich in den Gallerie Nazionali d’Arte antica-Galleria Corsini in Rom.

[52] Ebda., S. 130.

[53] Offizieller Katalog, IV. Auflage, September 1899, S. 18, Nr. 92, mit Abbildung im Bilderanhang; Peter-Klaus Schuster. „München leuchtete“. Die Erneuerung christlicher Kunst in München um 1900., in: „München leuchtete“ – Karl Caspar und die Erneuerung christlicher Kunst um 1900, Hrsg. Peter-Klaus Schuster., Prestel, München 1984, S. 32.

[54] Heißerer, op. zit., S. 130-34.

Verfasst von: Graham Dry