Ein Weib zum Rasendwerden!
Ausschlaggebend für die Identifizierung der „heiligen Gebärerin“ als die „Madonna Litta“ ist Manns akkurate Beschreibung des Kontaktes zwischen Kind und Mutter – „entblößt und schön“ – wobei das Kind mit der Brust seiner Mutter spielt und dabei „seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer gerichtet hielt“. Das Kind „spielt“ angeblich mit der Brust seiner Mutter, es fasst sie nicht bloß an, dem angeblich wissend zur Seite schauenden Kind wird eine bewusst sexuelle Absicht unterstellt. Es wird ein zutiefst erotisches Moment, vom Kind ausgehend, zwischen Kind und Mutter angedeutet und festgehalten, der „kluge“ Seitenblick des Kindes auf den Beschauer macht ihn unfreiwillig zum Mitwisser und potenziellen Mitgenießer, auch zum unfreiwilligen Komplizen bei der falschen Interpretation des Motivs. Zwei andere Jünglinge betrachten ebenfalls das Bild im Schaufenster mit hörbarem Vergnügen: „Der Kleine hat es gut, hol mich der Teufel“, sagte der eine. „Und augenscheinlich hat er die Absicht, einen neidisch zu machen“, versetzte der andere … „Ein bedenkliches Weib!“ Bei diesem Aufruf gibt es einen Übergang vom Renaissance-Bild zum Bild eines modernen Künstlers: Es geht ja um „eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit“.
Der erste Satz bezieht sich noch auf das Madonnenbild, die Reaktion darauf „Ein bedenkliches Weib!“ nicht mehr. Im folgenden Gespräch zwischen den beiden Jünglingen geht es nicht mehr um die „heilige Gebärerin“, sondern um „Ein Weib zum Rasendwerden!“, eine Beschreibung, die nun gar nicht auf eine altmeisterliche Madonna mit Kind passt. „Modell gestanden hat die kleine Putzmacherin des Künstlers – es ist beinahe Porträt, nur stark ins Gebiet der Korruption hinaufstilisiert“. Wir kommen sehr bald der Identität des zweiten Bildes im Doppelbild entgegen: „Die Pinakothek hat es angekauft“; „Die Behandlung des Fleisches – [= das moderne Bild] – und der Linienfluß des Gewandes – [= das Bild der Madonna] – ist wirklich eminent“; „Der Künstler ist „ein unglaublich begabter Kerl – Er wird Karriere machen ... Er war schon zweimal beim Prinzregenten zur Tafel“. Spätestens an dieser Stelle wird es ganz klar, dass der Maler des zweiten von den beiden ineinander verschmolzenen, alten und neuen Bildern niemand anders als Franz Stuck sein kann und dass zweite Bild nichts anderes als sein schon damals berühmtes Bild Die Sünde von 1893 ist, das tatsächlich gleich von einem Mäzen aus der Großindustriellen-Familie Haniel gekauft und der Neuen Pinakothek geschenkt wurde (Abb. 61). Die Reproduktion im Schaufenster ist allerdings vermutlich eine Fotogravure von Franz Hanfstaengl nach einer früheren Version des Gemäldes, die sogenannte „Hanfstaengl-Sünde“ aus dem Zeitraum 1891/2: Stuck hat die Reproduktionsrechte an dieser ersten Version des Bildes am 24. Oktober 1893 an den Kunstverlag Franz Hanfstaengl verkauft, die hier abgebildete Reproduktion mit der Signatur „Franz von Stuck“ muss wegen der Verwendung des Adelstitels ab dem Jahre 1906 erst aus diesem oder einem späteren Jahr entstanden sein: Das Blatt wurde vermutlich zum ersten Mal 1894 von Hanfstaengl herausgegeben [49].
Die Dargestellte hat tatsächlich „große, schwüle Augen“, die „dunkel umrändert“ sind und das Ganze ist ganz augenscheinlich „stark ins Gebiet des Korrupten hinaufstilisiert“. Mann lässt die Pythonschlange, die vermutlich ein Symbol der „Mors syphilitica“ ist, aus der Beschreibung des Bildes Die Sünde heraus, um nicht zu offensichtlich auf einen Teil der Identität des Doppelbildes hinzuweisen und auch damit die weibliche Figur als bedrohlicher erotischer Akt ohne ablenkende Beigabe ihre erschütternde Wirkung entfalten kann. Leonardo als Vertreter von Florenz und Stuck als Vertreter von München sind im Doppelbild auf der Staffelei im Fenster vereinigt, ganz im Sinne des Autors, der nichts anderes will, als diese offensichtliche Einheit, zumindest diese Überlagerung von Altem Meister und erfolgreichem modernem Künstler, auch bei der Doppelgestalt Hieronymus/Savonarola und auch bei der an Florenz erinnernden Topografie von München zu entsprechen. Es kann sich natürlich nicht bei dem Bild im Schaufenster nur um die Fotografie eines Originalwerks handeln, das die „Alte“ Pinakothek angekauft hat, denn der Maler ist laut einem der beiden Jünglinge quicklebendig und offensichtlich am Anfang seiner vielversprechenden Karriere: Der Autor lässt den Standort des Originalbildes dennoch offen, indem er lediglich von der „Pinakothek“ als Käufer schreibt, aber diesmal lässt sich seine Finte leicht durchschauen, die Ablenkung misslingt, ein guter Versuch war es trotzdem. Hinsichtlich der Verbindung zwischen Franz Hanfstaengl und Franz stuck muss unbedingt hinzufügt werden, dass der Verleger im Jahre 1898 die Mappe Franz Stuck – 30 Photogravuren nach seinen hervorragenden Werken auf echt holländischem Handpapier herausgebracht hat: Thomas Mann selbst war häufiger Gast nach 1900 in der Villa Hanfstaengl in der Liebigstraße in München [50].
[49] Die Maße der „Hanfstaengl-Sünde“ sind unbekannt, ebenso ihr heutiger Standort. Es ist die einzige Version mit doppelt gewundener Schlange auf dem Unterleib der nackten Frau; in späteren Jahren erwarb Hanfstaengl die Rechte an drei weiteren Versionen der „Sünde“: s. Albert Ritthaler. Franz von Stuck und seine Sünden, Vortrag anlässlich der Ausstellung „Künstlerfürsten: Liebermann, Lenbach, Stuck“, Stiftung Brandenburger Tor, am 8. Juni 2009 im Max Liebermann Haus, Berlin, o. S.;
https://www.yumpu.com/de/document/view/7319304/franz-von-stuck-und-seine-sunden-bei-galerie-ritthaler/26. Prinzregent Luitpold verlieh Stuck am 9. Dezember 1905 das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone: Damit verbunden war die Erhebung in den persönlichen Adelsstand und nach der Eintragung in die Adelsmatrikel am 2. Januar 1906 dürfte er sich „Ritter von Stuck“ nennen.
[50] Zu Franz Hanfstaengl, s.: Heinz Gebhardt. Franz Hanfstaengl – Von der Lithographie zur Photographie, Verlag C. H. Beck, München 1984, S. 234; Heinrich Heß. Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotographische Kunstreproduktion. Das Kunstwerk als Abbild. Akademischer Verlag, München 1999, S. 245.
Weitere Kapitel:
Ausschlaggebend für die Identifizierung der „heiligen Gebärerin“ als die „Madonna Litta“ ist Manns akkurate Beschreibung des Kontaktes zwischen Kind und Mutter – „entblößt und schön“ – wobei das Kind mit der Brust seiner Mutter spielt und dabei „seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer gerichtet hielt“. Das Kind „spielt“ angeblich mit der Brust seiner Mutter, es fasst sie nicht bloß an, dem angeblich wissend zur Seite schauenden Kind wird eine bewusst sexuelle Absicht unterstellt. Es wird ein zutiefst erotisches Moment, vom Kind ausgehend, zwischen Kind und Mutter angedeutet und festgehalten, der „kluge“ Seitenblick des Kindes auf den Beschauer macht ihn unfreiwillig zum Mitwisser und potenziellen Mitgenießer, auch zum unfreiwilligen Komplizen bei der falschen Interpretation des Motivs. Zwei andere Jünglinge betrachten ebenfalls das Bild im Schaufenster mit hörbarem Vergnügen: „Der Kleine hat es gut, hol mich der Teufel“, sagte der eine. „Und augenscheinlich hat er die Absicht, einen neidisch zu machen“, versetzte der andere … „Ein bedenkliches Weib!“ Bei diesem Aufruf gibt es einen Übergang vom Renaissance-Bild zum Bild eines modernen Künstlers: Es geht ja um „eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit“.
Der erste Satz bezieht sich noch auf das Madonnenbild, die Reaktion darauf „Ein bedenkliches Weib!“ nicht mehr. Im folgenden Gespräch zwischen den beiden Jünglingen geht es nicht mehr um die „heilige Gebärerin“, sondern um „Ein Weib zum Rasendwerden!“, eine Beschreibung, die nun gar nicht auf eine altmeisterliche Madonna mit Kind passt. „Modell gestanden hat die kleine Putzmacherin des Künstlers – es ist beinahe Porträt, nur stark ins Gebiet der Korruption hinaufstilisiert“. Wir kommen sehr bald der Identität des zweiten Bildes im Doppelbild entgegen: „Die Pinakothek hat es angekauft“; „Die Behandlung des Fleisches – [= das moderne Bild] – und der Linienfluß des Gewandes – [= das Bild der Madonna] – ist wirklich eminent“; „Der Künstler ist „ein unglaublich begabter Kerl – Er wird Karriere machen ... Er war schon zweimal beim Prinzregenten zur Tafel“. Spätestens an dieser Stelle wird es ganz klar, dass der Maler des zweiten von den beiden ineinander verschmolzenen, alten und neuen Bildern niemand anders als Franz Stuck sein kann und dass zweite Bild nichts anderes als sein schon damals berühmtes Bild Die Sünde von 1893 ist, das tatsächlich gleich von einem Mäzen aus der Großindustriellen-Familie Haniel gekauft und der Neuen Pinakothek geschenkt wurde (Abb. 61). Die Reproduktion im Schaufenster ist allerdings vermutlich eine Fotogravure von Franz Hanfstaengl nach einer früheren Version des Gemäldes, die sogenannte „Hanfstaengl-Sünde“ aus dem Zeitraum 1891/2: Stuck hat die Reproduktionsrechte an dieser ersten Version des Bildes am 24. Oktober 1893 an den Kunstverlag Franz Hanfstaengl verkauft, die hier abgebildete Reproduktion mit der Signatur „Franz von Stuck“ muss wegen der Verwendung des Adelstitels ab dem Jahre 1906 erst aus diesem oder einem späteren Jahr entstanden sein: Das Blatt wurde vermutlich zum ersten Mal 1894 von Hanfstaengl herausgegeben [49].
Die Dargestellte hat tatsächlich „große, schwüle Augen“, die „dunkel umrändert“ sind und das Ganze ist ganz augenscheinlich „stark ins Gebiet des Korrupten hinaufstilisiert“. Mann lässt die Pythonschlange, die vermutlich ein Symbol der „Mors syphilitica“ ist, aus der Beschreibung des Bildes Die Sünde heraus, um nicht zu offensichtlich auf einen Teil der Identität des Doppelbildes hinzuweisen und auch damit die weibliche Figur als bedrohlicher erotischer Akt ohne ablenkende Beigabe ihre erschütternde Wirkung entfalten kann. Leonardo als Vertreter von Florenz und Stuck als Vertreter von München sind im Doppelbild auf der Staffelei im Fenster vereinigt, ganz im Sinne des Autors, der nichts anderes will, als diese offensichtliche Einheit, zumindest diese Überlagerung von Altem Meister und erfolgreichem modernem Künstler, auch bei der Doppelgestalt Hieronymus/Savonarola und auch bei der an Florenz erinnernden Topografie von München zu entsprechen. Es kann sich natürlich nicht bei dem Bild im Schaufenster nur um die Fotografie eines Originalwerks handeln, das die „Alte“ Pinakothek angekauft hat, denn der Maler ist laut einem der beiden Jünglinge quicklebendig und offensichtlich am Anfang seiner vielversprechenden Karriere: Der Autor lässt den Standort des Originalbildes dennoch offen, indem er lediglich von der „Pinakothek“ als Käufer schreibt, aber diesmal lässt sich seine Finte leicht durchschauen, die Ablenkung misslingt, ein guter Versuch war es trotzdem. Hinsichtlich der Verbindung zwischen Franz Hanfstaengl und Franz stuck muss unbedingt hinzufügt werden, dass der Verleger im Jahre 1898 die Mappe Franz Stuck – 30 Photogravuren nach seinen hervorragenden Werken auf echt holländischem Handpapier herausgebracht hat: Thomas Mann selbst war häufiger Gast nach 1900 in der Villa Hanfstaengl in der Liebigstraße in München [50].
[49] Die Maße der „Hanfstaengl-Sünde“ sind unbekannt, ebenso ihr heutiger Standort. Es ist die einzige Version mit doppelt gewundener Schlange auf dem Unterleib der nackten Frau; in späteren Jahren erwarb Hanfstaengl die Rechte an drei weiteren Versionen der „Sünde“: s. Albert Ritthaler. Franz von Stuck und seine Sünden, Vortrag anlässlich der Ausstellung „Künstlerfürsten: Liebermann, Lenbach, Stuck“, Stiftung Brandenburger Tor, am 8. Juni 2009 im Max Liebermann Haus, Berlin, o. S.;
https://www.yumpu.com/de/document/view/7319304/franz-von-stuck-und-seine-sunden-bei-galerie-ritthaler/26. Prinzregent Luitpold verlieh Stuck am 9. Dezember 1905 das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone: Damit verbunden war die Erhebung in den persönlichen Adelsstand und nach der Eintragung in die Adelsmatrikel am 2. Januar 1906 dürfte er sich „Ritter von Stuck“ nennen.
[50] Zu Franz Hanfstaengl, s.: Heinz Gebhardt. Franz Hanfstaengl – Von der Lithographie zur Photographie, Verlag C. H. Beck, München 1984, S. 234; Heinrich Heß. Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotographische Kunstreproduktion. Das Kunstwerk als Abbild. Akademischer Verlag, München 1999, S. 245.
