Das Bild im Schaufenster
Zurück zur Novelle: Im Schaufenster von M. Blüthenzweig hängt nun „das aufsehenerregende Bild“, um das es in den nachfolgenden Seiten gehen wird. Es handelt sich zunächst um eine „große, rötlich-braune Photographie, mit äußerstem Geschmack in Altgold gerahmt, auf einer Staffelei in mitten des Fensterraumes“. Es handelt sich also um die Reproduktion eines Bildes, die in kompletter, gerahmter Form im Ausschnitt des hohen und schmalen – bei Thomas Mann irreführenderweise „breiten“ – Schaufensters passt. Die angegebene Farbe „rötlich-braun“ soll vermutlich an die Reproduktionen von Adolphe Braun & Cie. erinnern, aber sepiafarbene Fotografien nach Werken der Alten Meister wurden auch von Franz Hanfstaengl angefertigt [46] – Hauptsache, der Leser wird im Unklaren gelassen. Das Bild wird so beschrieben: „Es war eine Madonna, eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit“. Die Wortwahl deutet auf das Werk eines modernen Malers, aber nein, Thomas Mann bleibt vage und schwenkt zunächst auf ein Bild um, das augenscheinlich zum Teil aus der italienischen Renaissance stammt: „Die Gestalt der heiligen Gebärerin war von berückender Weiblichkeit, [eine Brust] entblößt und schön“. Die Beschreibung „von berückender Weiblichkeit“ kann sich kaum auf eine „heilige Gebärerin“ beziehen, die von der Wortwahl her nur das Werk eines Alten Meisters sein kann, sondern auf ein modernes Bild: Die nachfolgende Beschreibung „entblößt und schön“ bezieht sich ganz gewiss auf die Madonna, die ihr Kleid zur Seite geschoben und dadurch ihre schöne Brust „entblößt“ hat, um sie ihrem Kinde anzubieten. Und dann geht es zurück im Text zu dem modernen Bild: „Ihre großen, schwülen Augen waren dunkel umrändert, und ihre delikat und seltsam lächelnden Lippen standen halb geöffnet“. Es lässt sich aus diesen Worten klar erkennen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein einziges Werk, sondern um zwei ganz verschiedene handelt, auch zeitlich weit auseinanderliegend.
„Die heilige Gebärerin“ kann nur eine Madonna der Renaissance darstellen: entblößt und schön kann sie schon sein, aber umso weniger passen ihre „großen, schwülen Augen“, die „dunkel umrändert“ waren, noch „ihre halb geöffneten, delikat und seltsam lächelnden Lippen“ zu einer Darstellung einer Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert. Hier wird eine „heilige Gebärerin“ und gleichzeitig ihr Gegenpol, eine übergelagerte Frauengestalt von krankhafter Erscheinung beschrieben, deren Moral durch ihre körperliche Erscheinung in Zweifel gezogen wird. Es liegt also ein modernes Bild über dem Renaissance-Bild, die Bilder verschmelzen und werden als Einzelbilder, als Doppelgestalt, nicht auseinanderzuhalten sein. Diese schon erwähnte Doppelschichtigkeit der Objekte sowie der Hauptfigur Hieronymus/Savonarola entspricht also dem zweischichtigen Aussehen des Bildes, das gewiss für Savonarola, aber vielleicht auch, wie wir sehen werden, für den deutschen Jüngling Hieronymus von Bedeutung sein wird: Beide Teile der Doppelgestalt können abweichende Bilder erkennen. Die folgenden Zeilen heben den Renaissance-Charakter des Bildes hervor, der Herkunft Savonarolas entsprechend, und dadurch kommt die Identifizierung des Bildes ein Stück näher: „Ihre schmalen, ein wenig nervös und krampfhaft gruppierten Finger umfaßten die Hüfte des Kindes, eines nackten Knaben von distinguierter und fast primitiver Schlankheit, der mit ihrer Brust spielte und dabei seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer gerichtet hielt“. Es gibt nun nur ein einziges Bild in der gesamten Malerei der italienischen Frührenaissance, das dieser Beschreibung entspricht und das den Beschauer zum wissenden Komplizen machen könnte, nämlich La Madonna Litta, eine Madonna lactans, um 1490-1495 zur gleichen Zeit von Savonarolas Wirken in Florenz gemalt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Bild noch dem Florentinischen Maler Leonardo da Vinci (1452-1519) zugeschrieben. Es befand sich seit 1865 als Erwerbung aus der Sammlung des Conte Litta in Mailand in der Ermitage in Sankt Petersburg: Dort wird die traditionelle Zuschreibung an Leonardo aufrechterhalten, westliche Kunsthistoriker neigen jedoch zu einer Zuschreibung an Leonardos aus Mailand stammenden Schüler Giovanni Antonio Boltraffio (1467-1516).
Franz Hanfstaengl hat La Madonna Litta in Kabinett- und Folio-Format als Kohle- oder Silberphotographie oder in Folio-Format als Pigmentdruck à 1 Mk. angeboten: Auch Adolphe Braun hatte das Bild als Reproduktion in Kohledruck, Imperial, Bildgröße 32 x 42‘ in den Verlags-Katalogen von 1896 und 1913 im Angebot [47]. Thomas Mann kann ein Exemplar des Blattes bei Littauer gesehen haben, oder ihm war eine Abbildung des Werks in Adolf Rosenbergs im Jahre 1898 erschienenen Biografie Leonardo da Vinci bekannt, in dem die „Madonna von der Familie Litta“ interessanterweise nach einer Originalphotographie von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E. und Paris abgebildet ist [48]: Zu Hanfstaengls „Galerie-Publikationen“ gehörte auch das um 1900 erschienene Prachtwerk in Folio-Format Die Kaiserliche Gemälde-Galerie in der Ermitage zu St. Petersburg, in dem die „Madonna Litta“ auch zu finden ist. Auffallend an der Beschreibung des Bildes ist wieder einmal den Zaubertrick des Autors, den Leser erstmal auf das richtige Bild hinzuweisen, um gleichzeitig, nach einem Komma, seine Spuren zu verwischen, den Leser mit Falschinformation als Ablenkungsmanöver zu versorgen, denn die Finger der Madonna sind keineswegs „nervös und krampfhaft“ um die Hüfte des Kindes gruppiert, noch ist das Kind „von distinguierter und primitiver Schlankheit“, sondern ein gut genährter Sprössling (Abb. 60) im Stil des Kindes auf seinem um 1475 entstandenes Bild „Madonna mit der Nelke“, das seit 1889 in der Alten Pinakothek in München ausgestellt war. Und wenn man einen weiteren Beleg für die Identifizierung eines Teils des Madonnenbildes im Schaufenster als die „Madonna Litta“ anführen möchte, so kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass der Name „Litta“ die ersten fünf Buchstaben des Geschäftsinhabers „Littauer“ sind. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Koinzidenz der Aufmerksamkeit des Autors entgangen ist. Florentiner Kunst und Münchener Kunsthandel haben den Weg wieder einmal zueinander gefunden.
[46] Verlags-Katalog, op. zit., S. VI, „Reproduktions-Verfahren“, Kohledrucke: „Die Technik der Kohlephotographie gestattet es auch, die Kopien je nach Stimmung des Originalgemäldes in verschiedenen Färbungen (Sepia, Rötel, Blau, Grün, Schwarz usw.) auszuführen., wodurch die Drucke einen besonderen Reiz gewinnen und auch in dieser Hinsicht die Silberphotographie übertreffen“. Im Internet-Kunsthandel im September 2024 befand sich eine gerahmte, rötlich-braune, fast orange-braune Reproduktion von Hanfstaengl nach einem Madonnenbild von Perugino.
[47] Franz Hanfstaengl, Verlags-Katalog, op. zit., Verlags-Nr. 170, S. 138, unter dem Namen „Lionardo“; Catalogue général de Reproductions inaltérables au charbon d’après les chefs-d’oeuvre de la Peinture dans les Musées d’Europe .... Maison Ad. Braun & Cie., Braun, Clément & Cie., Paris, Dornach, New York 1896, S. 72, No. 60.013A, La Madone Litta, Saint Petersbourg, Fr. 15.-; Verlags-Katalog Ad. Braun & Cie., Nachf., Dornach i/E, I. Teil, Alte Meister, S. 141, Leonardo da Vinci, La Madonna Litta, Petersburg, Ermitage, 60013 A, M. 12.- Kein Exemplar der beiden Blätter war nachweisbar.
[48] Adolf Rosenberg. Leonardo da Vinci. Verlag Velhagen & Klasing, Bielefeld & Leipzig 1898, S. 106f., S. 107, Abb. 104.
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Zurück zur Novelle: Im Schaufenster von M. Blüthenzweig hängt nun „das aufsehenerregende Bild“, um das es in den nachfolgenden Seiten gehen wird. Es handelt sich zunächst um eine „große, rötlich-braune Photographie, mit äußerstem Geschmack in Altgold gerahmt, auf einer Staffelei in mitten des Fensterraumes“. Es handelt sich also um die Reproduktion eines Bildes, die in kompletter, gerahmter Form im Ausschnitt des hohen und schmalen – bei Thomas Mann irreführenderweise „breiten“ – Schaufensters passt. Die angegebene Farbe „rötlich-braun“ soll vermutlich an die Reproduktionen von Adolphe Braun & Cie. erinnern, aber sepiafarbene Fotografien nach Werken der Alten Meister wurden auch von Franz Hanfstaengl angefertigt [46] – Hauptsache, der Leser wird im Unklaren gelassen. Das Bild wird so beschrieben: „Es war eine Madonna, eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit“. Die Wortwahl deutet auf das Werk eines modernen Malers, aber nein, Thomas Mann bleibt vage und schwenkt zunächst auf ein Bild um, das augenscheinlich zum Teil aus der italienischen Renaissance stammt: „Die Gestalt der heiligen Gebärerin war von berückender Weiblichkeit, [eine Brust] entblößt und schön“. Die Beschreibung „von berückender Weiblichkeit“ kann sich kaum auf eine „heilige Gebärerin“ beziehen, die von der Wortwahl her nur das Werk eines Alten Meisters sein kann, sondern auf ein modernes Bild: Die nachfolgende Beschreibung „entblößt und schön“ bezieht sich ganz gewiss auf die Madonna, die ihr Kleid zur Seite geschoben und dadurch ihre schöne Brust „entblößt“ hat, um sie ihrem Kinde anzubieten. Und dann geht es zurück im Text zu dem modernen Bild: „Ihre großen, schwülen Augen waren dunkel umrändert, und ihre delikat und seltsam lächelnden Lippen standen halb geöffnet“. Es lässt sich aus diesen Worten klar erkennen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein einziges Werk, sondern um zwei ganz verschiedene handelt, auch zeitlich weit auseinanderliegend.
„Die heilige Gebärerin“ kann nur eine Madonna der Renaissance darstellen: entblößt und schön kann sie schon sein, aber umso weniger passen ihre „großen, schwülen Augen“, die „dunkel umrändert“ waren, noch „ihre halb geöffneten, delikat und seltsam lächelnden Lippen“ zu einer Darstellung einer Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert. Hier wird eine „heilige Gebärerin“ und gleichzeitig ihr Gegenpol, eine übergelagerte Frauengestalt von krankhafter Erscheinung beschrieben, deren Moral durch ihre körperliche Erscheinung in Zweifel gezogen wird. Es liegt also ein modernes Bild über dem Renaissance-Bild, die Bilder verschmelzen und werden als Einzelbilder, als Doppelgestalt, nicht auseinanderzuhalten sein. Diese schon erwähnte Doppelschichtigkeit der Objekte sowie der Hauptfigur Hieronymus/Savonarola entspricht also dem zweischichtigen Aussehen des Bildes, das gewiss für Savonarola, aber vielleicht auch, wie wir sehen werden, für den deutschen Jüngling Hieronymus von Bedeutung sein wird: Beide Teile der Doppelgestalt können abweichende Bilder erkennen. Die folgenden Zeilen heben den Renaissance-Charakter des Bildes hervor, der Herkunft Savonarolas entsprechend, und dadurch kommt die Identifizierung des Bildes ein Stück näher: „Ihre schmalen, ein wenig nervös und krampfhaft gruppierten Finger umfaßten die Hüfte des Kindes, eines nackten Knaben von distinguierter und fast primitiver Schlankheit, der mit ihrer Brust spielte und dabei seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer gerichtet hielt“. Es gibt nun nur ein einziges Bild in der gesamten Malerei der italienischen Frührenaissance, das dieser Beschreibung entspricht und das den Beschauer zum wissenden Komplizen machen könnte, nämlich La Madonna Litta, eine Madonna lactans, um 1490-1495 zur gleichen Zeit von Savonarolas Wirken in Florenz gemalt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Bild noch dem Florentinischen Maler Leonardo da Vinci (1452-1519) zugeschrieben. Es befand sich seit 1865 als Erwerbung aus der Sammlung des Conte Litta in Mailand in der Ermitage in Sankt Petersburg: Dort wird die traditionelle Zuschreibung an Leonardo aufrechterhalten, westliche Kunsthistoriker neigen jedoch zu einer Zuschreibung an Leonardos aus Mailand stammenden Schüler Giovanni Antonio Boltraffio (1467-1516).
Franz Hanfstaengl hat La Madonna Litta in Kabinett- und Folio-Format als Kohle- oder Silberphotographie oder in Folio-Format als Pigmentdruck à 1 Mk. angeboten: Auch Adolphe Braun hatte das Bild als Reproduktion in Kohledruck, Imperial, Bildgröße 32 x 42‘ in den Verlags-Katalogen von 1896 und 1913 im Angebot [47]. Thomas Mann kann ein Exemplar des Blattes bei Littauer gesehen haben, oder ihm war eine Abbildung des Werks in Adolf Rosenbergs im Jahre 1898 erschienenen Biografie Leonardo da Vinci bekannt, in dem die „Madonna von der Familie Litta“ interessanterweise nach einer Originalphotographie von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E. und Paris abgebildet ist [48]: Zu Hanfstaengls „Galerie-Publikationen“ gehörte auch das um 1900 erschienene Prachtwerk in Folio-Format Die Kaiserliche Gemälde-Galerie in der Ermitage zu St. Petersburg, in dem die „Madonna Litta“ auch zu finden ist. Auffallend an der Beschreibung des Bildes ist wieder einmal den Zaubertrick des Autors, den Leser erstmal auf das richtige Bild hinzuweisen, um gleichzeitig, nach einem Komma, seine Spuren zu verwischen, den Leser mit Falschinformation als Ablenkungsmanöver zu versorgen, denn die Finger der Madonna sind keineswegs „nervös und krampfhaft“ um die Hüfte des Kindes gruppiert, noch ist das Kind „von distinguierter und primitiver Schlankheit“, sondern ein gut genährter Sprössling (Abb. 60) im Stil des Kindes auf seinem um 1475 entstandenes Bild „Madonna mit der Nelke“, das seit 1889 in der Alten Pinakothek in München ausgestellt war. Und wenn man einen weiteren Beleg für die Identifizierung eines Teils des Madonnenbildes im Schaufenster als die „Madonna Litta“ anführen möchte, so kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass der Name „Litta“ die ersten fünf Buchstaben des Geschäftsinhabers „Littauer“ sind. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Koinzidenz der Aufmerksamkeit des Autors entgangen ist. Florentiner Kunst und Münchener Kunsthandel haben den Weg wieder einmal zueinander gefunden.
[46] Verlags-Katalog, op. zit., S. VI, „Reproduktions-Verfahren“, Kohledrucke: „Die Technik der Kohlephotographie gestattet es auch, die Kopien je nach Stimmung des Originalgemäldes in verschiedenen Färbungen (Sepia, Rötel, Blau, Grün, Schwarz usw.) auszuführen., wodurch die Drucke einen besonderen Reiz gewinnen und auch in dieser Hinsicht die Silberphotographie übertreffen“. Im Internet-Kunsthandel im September 2024 befand sich eine gerahmte, rötlich-braune, fast orange-braune Reproduktion von Hanfstaengl nach einem Madonnenbild von Perugino.
[47] Franz Hanfstaengl, Verlags-Katalog, op. zit., Verlags-Nr. 170, S. 138, unter dem Namen „Lionardo“; Catalogue général de Reproductions inaltérables au charbon d’après les chefs-d’oeuvre de la Peinture dans les Musées d’Europe .... Maison Ad. Braun & Cie., Braun, Clément & Cie., Paris, Dornach, New York 1896, S. 72, No. 60.013A, La Madone Litta, Saint Petersbourg, Fr. 15.-; Verlags-Katalog Ad. Braun & Cie., Nachf., Dornach i/E, I. Teil, Alte Meister, S. 141, Leonardo da Vinci, La Madonna Litta, Petersburg, Ermitage, 60013 A, M. 12.- Kein Exemplar der beiden Blätter war nachweisbar.
[48] Adolf Rosenberg. Leonardo da Vinci. Verlag Velhagen & Klasing, Bielefeld & Leipzig 1898, S. 106f., S. 107, Abb. 104.
