Die Kunst ist in der Herrschaft

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Abb. 51: Hans Krumpper (um 1570-1634), München. Die Patrona Bavariae auf der Westfassade der Residenz, München; Entwurf 1615, Ausführung in Bronze 1616, durch Bartel Wenglein, München, gegossen. Foto Erzbistum München und Freising.

Im zehnten und letzten Absatz des ersten Teils der Novelle fasst Thomas Mann seine Eindrücke über München zusammen und kommt zu einer überaus positiven und ironiefreien Schlussfolgerung hinsichtlich ihrer Kunst: „Die Kunst blüht, die Kunst ist in der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Scepter über die Stadt hin und lächelt. Eine allseitige respektvolle Anteilnahme an ihrem Gedeihen, eine allseitige, fleißige und hingebungsvolle Übung und Propaganda in ihrem Dienste, ein treuherziger Kultus der Linie, des Schmuckes, der Form, der Sinne, der Schönheit obwaltet … München leuchtete.“ München wird hier als „Kunststadt“ regelrecht und ohne jede Ironie oder satirischen Beigeschmack angehimmelt. „Die Kunst blüht“ ist möglicherweise ein Hinweis auf den Namen des Geschäftsinhabers „Blüthenzweig“ sowie auch auf die Personifikation „die Kunst“, die „ihr rosenumwundenes Scepter“ – auch ein „Blüthenzweig“ – über die Stadt streckt. Blüthenzweigs Geschäft befindet sich nämlich schräg gegenüber der Residenz, auf deren Fassade sich die Bronzefigur einer Madonna mit Kind und Szepter, die „Patrona Bavariae“ befindet, die 1616 nach einem aus dem Jahr 1615 stammenden Entwurf von Hans Krumpper (um 1570-1634) ausgeführt und aufgestellt war (Abb. 51). Und die Madonna lächelt – Thomas Mann muss sich auch an die Gruppe Madonna und Kind (1887) von Tito Sarrocchi (1824-1900) erinnert haben, die sich im Giebel über der Haupttür des Florentiner Doms befindet. Auch sie – eine Darstellung der Patronin des Doms, Santa Maria del Fiore – streckt ihr Blumenzepter lächelnd über die Piazza del Duomo hin (Abb. 52).

Abb. 52

Thomas Mann beendet den ersten Teil mit einem Text, der überhaupt keinen anderen Schluss zulässt, als dass München keinesfalls eine Stadt sei, wie oft behauptet wurde, in der der Niedergang der Kunst stattfinden würde. Im Gegenteil: Der Satz „Die Kunst ist in der Herrschaft“ deutet noch einmal auf die führende Rolle des Hauses Wittelsbach in den künstlerischen und kunstpolitischen Belangen der Stadt hin. Die Auslage von M. Blüthenzweig alleine genügt, um Münchens Angebot an Kunst als eine nachvollziehbare geschäftsmäßige Mischung aus Reproduktionen und Originalwerken der modernen Kunst und des modernsten Kunstgewerbes aus dem In- und Ausland, auch mit prachtvoll illustrierten Büchern der neuesten Gestaltung zu zeigen. Dazu kommt Manns Bewunderung für den „Kultus der Linie, des Schmuckes, der Form, der Sinne, der Schönheit“ mit der er sich zu einer Wertschätzung des Jugendstils bekennt, für den – besonders im Werk von Henry van de Velde – der „Kultus der Linie, Stil und Form“ bestimmend waren. Es war gleichzeitig eine modische Erscheinung und auch eine Bedürfnis der Zeit, dass drei Ausstellungen in München von 1899 bis 1901 stattfanden, die Abgüsse und grafische Reproduktionen nach den Werken von italienischen und anderen Malern und Bildhauern, sowie Originalwerken dieser Renaissance-Künstler veranstaltet wurden, doch es handelt sich dabei nicht um die wichtigsten Münchener Ausstellungen dieser Jahre: Weiterhin fanden 1899 bis 1901 die Jahres-Ausstellungen, sowie die Große Internationale Ausstellung, auch die Secessions-Ausstellungen mit zahlreichen Werken moderner Künstler statt. Thomas Mann reagiert auf diese kuriose Zusammenballung der drei retrospektiven und themenverwandten Ausstellungen mit Humor und keineswegs mit Kritik. Sie waren für den Autor eine glückliche Koinzidenz und kamen ihm unverhofft als weitere Belege für die Parallelität von Florenz als Renaissance-Stadt und von München als dankbarem Bewunderer jener großen Kunstepoche entgegen. Anders ist der Satz „Und der Besitzer der kleinsten und billigsten Läden spricht von Donatello und Mino da Fiesole, als habe er das Vervielfältigungsrecht von ihnen persönlich empfangen“ nicht zu verstehen – die Ladeninhaber hatten drei Jahre gehabt, sich am Ausstellungswesen in München zu gewöhnen und daraus zu lernen und profitieren. Für die Ausstattung der Wohnungen der in der großen Mehrzahl konservativen und geschichtsbewussten Besitzer waren retrospektive Kunstgegenstände, auch in Form von vergleichsweise preisgünstigen Reproduktionen, gesucht. Der humorvolle Satz über Donatello und Mino da Fiesole kann keinesfalls als Kritik von Thomas Mann an die angeblich rückständigen Verhältnisse im Münchener Kunsthandel oder in der Münchener Kunst überhaupt verstanden werden [27]. Als angeblicher, oft zitierter Beleg für den Niedergang von München als „Kunststadt“ taugt Gladius Dei nicht im Geringsten. Als Präambel zum zweiten Teil der Novelle fasst der Autor am Ende alle Vorzüge von München im positivsten Sinne zusammen – eine Stadt unter dem Schutz der Madonna leuchtend, eine Stadt, die der Schönheit und der Erschaffung von Schönheit ergeben ist, eine Stadt der Liebe und des Respekts für die Liebe, eine Stadt, mit der auffallende und weniger auffallende Vergleiche mit Florenz, der Renaissance-Stadt schlechthin zu machen sind, eine Stadt, deren schönste Frauen es mit der „edlen Pikanterie der Büsten der florentinischen Quattrocento-Frauen“ aufnehmen können. Was für ein Kompliment! Die Einstellung des Autors gerät keineswegs zum Nachteil Münchens, sie hebt dagegen Münchens Stärken hervor. München leuchtet ja, mehrfach. Parallele zu Florenz werden angedeutet, die anschließend noch deutlicher zu erkennen sein werden.

 

[27] Z.B. Wolfgang Frühwald: „Der christliche Jüngling im Kunstladen“. Milieu- und Stilparodie in Thomas Manns Erzählung Gladius Dei; in: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag. Hg. von Günter Schnitzler in Verbindung mit Gerhard Neumann und Jürgen Schröder, München 1980. S. 324-342: „Schon bei der Evokation der Atmosphäre der mediceischen Florenz im München der Jahrhundertwende läßt der Erzähler keinen Zweifel an seiner Einschätzung der Zeit und des Ortes als eine vollendete Kopie des Originals: „Reproduktionen“, nicht Originale „von Meisterwerken aus allen Galerien der Erde“ sind zu erkennen …“; Thomas Raff, in: „ Er hatte Begabung nach verschiedenen Seiten hin“. Paul Cassirers Münchner Jahre (1893-1897), In: Rahel E. Feilchenfeldt und Thomas Raff (Hg.): „Ein Fest der Künste!“ Paul Cassirer. Der Kunsthändler als Verleger. München, C. H. Beck 2006, S. 43-57: „„In der Kunsthandlung J. Littauer ... gab es nur Graphik, Photographien und ähnliches“. www.thomasraff.muenchen.de/cassirer.pdf; Dirk Heißerer, in „Die wiedergefundene Pracht“, 2. Aufl., Göttingen 2010, S. 129, erkannte zu Unrecht die „satirische Tendenz der Novelle, „München mit seinen Reproduktionen, Abbildungen und Abgüssen als Kunststadt aus zweiter Hand vorzuführen“; Elisabeth Galvan. Zeitgeist im Renaissance-Gewand – Ein Blick hinter die Münchener Kulissen von Thomas Manns „Fiorenza“, in: Thomas Mann in München V, Vorträge 2007-2009, Hg. Dirk Heißerer, Verlag Anja Urbanek, München 2010, S. 27: „Wie sehr hier das München der Jahrhundertwende als Spiegelung bzw. kopierende Nachahmung und Abbild des Renaissance-Florenz aufgefasst und dargestellt wird ...“

[28] Vgl. Italienischer Spaziergang durch München, https://stadtgeschichte-muenchen.de/literatur/inhaltsverzeichnis.php?id=984

Verfasst von: Graham Dry