Weckschriften
Florenz gerät für eine Weile in den Hintergrund, München ist wieder dran. Der Autor nimmt sich nun die Buchläden der Gegend vor. Es gab nur zwei: Die Wissenschaftliche Buchhandlung und Antiquariat A. Buchholz an der Ludwigstr. 7 war einer davon, aber relevant kann nur die Auslage der M. Rieger’schen Universitäts-Buchhandlung G. Himmer, Inh. Luise Himmer, Kgl. bayer. Hoflieferant gemeint sein, die auch unter der Adresse Odeonsplatz 2 am Kunst-Salon von J. Littauer links angrenzte. Die Bücher, die dort in der Auslage zu sehen sind, befassen sich mit Kunstgewerbe und Kunstphilosophie. Die von Thomas Mann ohne Autorennamen genannten Titel sind „Die Wohnungskunst seit der Renaissance“, „Die Erziehung des Farbensinnes“, „Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe“, „Das Buch als Kunstwerk, „Die dekorative Kunst“ und „Der Hunger nach Kunst“ – also insgesamt „Weckschriften, die tausendfach gekauft und gelesen werden ...“. Hier gerät Thomas Manns scheinbare Genauigkeit der Observation am Odeonsplatz ins Wanken, es sei denn, er spielt wieder mit dem Leser. Es fällt nämlich auf, dass die Bücher, die er auflistet, zum Teil nie erschienen sind. Er hat lediglich diese Titel zum Teil in der Verlagsanzeige „Monographien des Kunstgewerbes“ im Anzeigenanhang am Schluss von Grautoffs Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland, Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig, 1901, gefunden, von dem anzunehmen ist, dass Grautoff seinem Freund Mann ein Exemplar zugeschickt hat. Das erste genannte Buch nämlich wird als Wohnungskunst seit der Renaissance von Dr. Peter Jessen, Direktor der Kunstbibliothek des Kunstgewerbemuseums zu Berlin im Anzeigenanhang bei Grautoff annonciert, ist aber nie erschienen; Alfred Lichtwarks Die Erziehung des Farbensinnes erschien tatsächlich 1901 beim Verlag Bruno und Paul Cassirer, Berlin, entweder mit einem lediglich typografischen Einband, oder unter Verwendung eines unsignierten Einbandes nach Entwurf von Otto Eckmann (1865-1902), der ab 1897 für eine Lichtwark-Reihe vom Verlag Gerhard Kühtmann, Dresden übernommen worden war. Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe ist ein Buch von Henry van de Velde (1863-1957), 1901 bei Bruno und Paul Cassirer in Berlin mit einem Einbandentwurf des Autors erschienen. Der Titel „Das Buch als Kunstwerk“ entlarvt den Autor unfreiwillig, denn er meint es mit uns gut und wohl auch als Werbung für grautoffs Werk, aber er kann das Buch im Schaufenster nicht gesehen haben: Unter diesem Titel wurde es sogar zweimal im Anzeigenanhang von Seemann annonciert, zunächst als Das Buch als Kunstwerk I – Bucheinband in alter und neuer Zeit von Dr. Jean Loubier, Direktorial-Assistent an der Bibliothek des kgl. Kunstgewerbemuseums, Berlin, und dann als Das Buch als Kunstwerk II – Druck und Schmuck von Dr. Friedrich Dornhöffer, Leiter des Kupferstichkabinetts der k. k. Hofbibliothek in Wien. Beide Bücher sind nie erschienen. Loubiers Buch erschein erst 1903, also lange nach dem Erscheinen von Gladius Dei unter dem Titel Der Bucheinband in alter und neuer Zeit bei H. Seemann, Berlin u. Leipzig. Bei dem Titel „Die dekorative Kunst“ sind wir wieder auf festem Boden: Es handelt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit um die Zeitschrift Dekorative Kunst, herausgegeben von H. Bruckmann, München und Julius Meier-Graefe, Paris beim Verlagsanstalt F. Bruckmann A.G., München, 1897 gegründet als Teil einer Neuorientierung der Zeitschrift Kunst für Alle zur besseren Erfassung der alles ändernden Reformbewegung im internationalen und deutschen Kunstgewerbe und mit einem ersten Halbjahreseinband (Oktober 1897 bis März 1898) nach Entwurf von Henry van de Velde [24]. Das letzte genannte Buch kann als Artur Seemanns Der Hunger nach Kunst, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1901 identifiziert werden. „Weckschriften“ sind sie tatsächlich alle, insbesondere die „Dekorative Kunst“, in der der allererste Beitrag im Oktober-Heft von 1897 „Wohin treiben wir?“ von Littauers Geschäftspartner Siegfried Bing war, Gründer des Pariser Geschäftes „L‘Art Nouveau“ in Paris, das am 26. Dezember 1896 eröffnet wurde. Gleichzeitig sind diese Bücher klare Belege, vermutlich unter dem Einfluss von Grautoff, dass Thomas Manns Interesse am modernen Kunstgewerbe selbst geweckt worden ist: Er hatte schon für seine im Februar 1899 bezogene Wohnung in der Feilitzschstraße 5 (heute 32) in Schwabing einen ersten modernen Schreibtisch nach Entwurf von Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), Berlin, in den Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk München erworben. Er hat ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit vorher als Abbildung im März-Heft der Zeitschrift Dekorative Kunst, 1899 gesehen [25].
Beim vorletzten Absatz des ersten Teils der Novelle befinden wir uns noch auf der Ludwigstraße in der Maxvorstadt, denn ein Wagen „fährt ... die Ludwigstraße hinauf“, also stadteinwärts in Richtung Odeonsplatz: Er gehört einem großen Maler, der seine Geliebte dabeihat. Vorher, wenn man Glück hat, „so begegnet dir eine der berühmten Frauen in Person, die man durch das Medium der Kunst zu schauen gewohnt ist, eine jener reichen und schönen Damen künstlich hergestelltem tizianischen Blond und in Brillantenschmuck, deren bethörenden Züge durch die Hand eines genialen Porträtisten die Ewigkeit zuteil geworden ist, und von deren Liebesleben die Stadt spricht“. Gemeint ist möglicherweise ein Bildnis von Lily Merk, Ehefrau des Hofjuweliers Paul Merk – daher der „Brillantenschmuck“ – der sein Geschäft am Odeonsplatz 13 führte. Lily Merk galt als eine der schönsten Frauen Münchens: Bilder, die Franz von Lenbach (1836-1904) von ihr gemalt hat, allesamt ohne Brillantschmuck, werden im Allgemeinen „1902“ oder „um 1902“ datiert, was die naheliegende Theorie zur Identität der Geliebten etwas ins Wanken bringt [26]. Die schönsten Münchener Frauen sind „Königinnen der Künstlerfeste im Karneval“: Wenn das Gefährt vorbeifährt, bleibt man stehen und blickt dem Maler mit seiner Geliebten nach. Viele Leute grüßen. Und es fehlt nicht viel, daß die Schutzleute Front machen“. Die Liebe ist demnach auch in München zu Hause und in allen Schichten geschätzt: Es ist ja die Stadt von König Ludwig I. und seiner „Schönheiten-Galerie“, einem König, der gleichermaßen für die Kunst und die Liebe entflammt war.
[24] Es hat der Vorschlag gegeben, es handele sich bei dem Titel „Die dekorative Kunst“ um Karl Rosners Die dekorative Kunst im neunzehnten Jahrhundert: Ein Stück Kunstgeschichte, Verlag Cronbach, Berlin 1898, aber es handelt sich hierbei um ein kleines unscheinbares Heft, das für die Schaufensterauslage ungeeignet gewesen wäre.
[25] Dekorative Kunst, München, Bd. III, März-Heft 1899, Abb. S. 247, Text S. 240; der heute verschollene Schreibtisch, Ausführung Hermann Scheidemantel in Weimar, wurde schon 1898 bei der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt und bekam später einen Platz im Haus von Thomas Mann, Poschingerstr. 1 in München; als Entwurf von Paul Schultze-Naumburg wurde er im Ausstellungskatalog Thomas Mann und die bildende Kunst, Hg. Alexander Bastek u. Anna Maria Pfäfflin, Museum Behnhaus Drägerhaus und im Buddenbrookhaus Lübeck, 13. September 2014 bis 6. Januar 2015, S. 59, S. 153 mit Abb. 38, noch nicht identifiziert.
[26] Ein Exemplar des Porträts, 1902 datiert, befindet sich im Museum der Stadt Aachen, Suermondt-Museum,
http://www.zeno.org/nid/20004130022
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Florenz gerät für eine Weile in den Hintergrund, München ist wieder dran. Der Autor nimmt sich nun die Buchläden der Gegend vor. Es gab nur zwei: Die Wissenschaftliche Buchhandlung und Antiquariat A. Buchholz an der Ludwigstr. 7 war einer davon, aber relevant kann nur die Auslage der M. Rieger’schen Universitäts-Buchhandlung G. Himmer, Inh. Luise Himmer, Kgl. bayer. Hoflieferant gemeint sein, die auch unter der Adresse Odeonsplatz 2 am Kunst-Salon von J. Littauer links angrenzte. Die Bücher, die dort in der Auslage zu sehen sind, befassen sich mit Kunstgewerbe und Kunstphilosophie. Die von Thomas Mann ohne Autorennamen genannten Titel sind „Die Wohnungskunst seit der Renaissance“, „Die Erziehung des Farbensinnes“, „Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe“, „Das Buch als Kunstwerk, „Die dekorative Kunst“ und „Der Hunger nach Kunst“ – also insgesamt „Weckschriften, die tausendfach gekauft und gelesen werden ...“. Hier gerät Thomas Manns scheinbare Genauigkeit der Observation am Odeonsplatz ins Wanken, es sei denn, er spielt wieder mit dem Leser. Es fällt nämlich auf, dass die Bücher, die er auflistet, zum Teil nie erschienen sind. Er hat lediglich diese Titel zum Teil in der Verlagsanzeige „Monographien des Kunstgewerbes“ im Anzeigenanhang am Schluss von Grautoffs Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland, Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig, 1901, gefunden, von dem anzunehmen ist, dass Grautoff seinem Freund Mann ein Exemplar zugeschickt hat. Das erste genannte Buch nämlich wird als Wohnungskunst seit der Renaissance von Dr. Peter Jessen, Direktor der Kunstbibliothek des Kunstgewerbemuseums zu Berlin im Anzeigenanhang bei Grautoff annonciert, ist aber nie erschienen; Alfred Lichtwarks Die Erziehung des Farbensinnes erschien tatsächlich 1901 beim Verlag Bruno und Paul Cassirer, Berlin, entweder mit einem lediglich typografischen Einband, oder unter Verwendung eines unsignierten Einbandes nach Entwurf von Otto Eckmann (1865-1902), der ab 1897 für eine Lichtwark-Reihe vom Verlag Gerhard Kühtmann, Dresden übernommen worden war. Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe ist ein Buch von Henry van de Velde (1863-1957), 1901 bei Bruno und Paul Cassirer in Berlin mit einem Einbandentwurf des Autors erschienen. Der Titel „Das Buch als Kunstwerk“ entlarvt den Autor unfreiwillig, denn er meint es mit uns gut und wohl auch als Werbung für grautoffs Werk, aber er kann das Buch im Schaufenster nicht gesehen haben: Unter diesem Titel wurde es sogar zweimal im Anzeigenanhang von Seemann annonciert, zunächst als Das Buch als Kunstwerk I – Bucheinband in alter und neuer Zeit von Dr. Jean Loubier, Direktorial-Assistent an der Bibliothek des kgl. Kunstgewerbemuseums, Berlin, und dann als Das Buch als Kunstwerk II – Druck und Schmuck von Dr. Friedrich Dornhöffer, Leiter des Kupferstichkabinetts der k. k. Hofbibliothek in Wien. Beide Bücher sind nie erschienen. Loubiers Buch erschein erst 1903, also lange nach dem Erscheinen von Gladius Dei unter dem Titel Der Bucheinband in alter und neuer Zeit bei H. Seemann, Berlin u. Leipzig. Bei dem Titel „Die dekorative Kunst“ sind wir wieder auf festem Boden: Es handelt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit um die Zeitschrift Dekorative Kunst, herausgegeben von H. Bruckmann, München und Julius Meier-Graefe, Paris beim Verlagsanstalt F. Bruckmann A.G., München, 1897 gegründet als Teil einer Neuorientierung der Zeitschrift Kunst für Alle zur besseren Erfassung der alles ändernden Reformbewegung im internationalen und deutschen Kunstgewerbe und mit einem ersten Halbjahreseinband (Oktober 1897 bis März 1898) nach Entwurf von Henry van de Velde [24]. Das letzte genannte Buch kann als Artur Seemanns Der Hunger nach Kunst, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1901 identifiziert werden. „Weckschriften“ sind sie tatsächlich alle, insbesondere die „Dekorative Kunst“, in der der allererste Beitrag im Oktober-Heft von 1897 „Wohin treiben wir?“ von Littauers Geschäftspartner Siegfried Bing war, Gründer des Pariser Geschäftes „L‘Art Nouveau“ in Paris, das am 26. Dezember 1896 eröffnet wurde. Gleichzeitig sind diese Bücher klare Belege, vermutlich unter dem Einfluss von Grautoff, dass Thomas Manns Interesse am modernen Kunstgewerbe selbst geweckt worden ist: Er hatte schon für seine im Februar 1899 bezogene Wohnung in der Feilitzschstraße 5 (heute 32) in Schwabing einen ersten modernen Schreibtisch nach Entwurf von Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), Berlin, in den Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk München erworben. Er hat ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit vorher als Abbildung im März-Heft der Zeitschrift Dekorative Kunst, 1899 gesehen [25].
Beim vorletzten Absatz des ersten Teils der Novelle befinden wir uns noch auf der Ludwigstraße in der Maxvorstadt, denn ein Wagen „fährt ... die Ludwigstraße hinauf“, also stadteinwärts in Richtung Odeonsplatz: Er gehört einem großen Maler, der seine Geliebte dabeihat. Vorher, wenn man Glück hat, „so begegnet dir eine der berühmten Frauen in Person, die man durch das Medium der Kunst zu schauen gewohnt ist, eine jener reichen und schönen Damen künstlich hergestelltem tizianischen Blond und in Brillantenschmuck, deren bethörenden Züge durch die Hand eines genialen Porträtisten die Ewigkeit zuteil geworden ist, und von deren Liebesleben die Stadt spricht“. Gemeint ist möglicherweise ein Bildnis von Lily Merk, Ehefrau des Hofjuweliers Paul Merk – daher der „Brillantenschmuck“ – der sein Geschäft am Odeonsplatz 13 führte. Lily Merk galt als eine der schönsten Frauen Münchens: Bilder, die Franz von Lenbach (1836-1904) von ihr gemalt hat, allesamt ohne Brillantschmuck, werden im Allgemeinen „1902“ oder „um 1902“ datiert, was die naheliegende Theorie zur Identität der Geliebten etwas ins Wanken bringt [26]. Die schönsten Münchener Frauen sind „Königinnen der Künstlerfeste im Karneval“: Wenn das Gefährt vorbeifährt, bleibt man stehen und blickt dem Maler mit seiner Geliebten nach. Viele Leute grüßen. Und es fehlt nicht viel, daß die Schutzleute Front machen“. Die Liebe ist demnach auch in München zu Hause und in allen Schichten geschätzt: Es ist ja die Stadt von König Ludwig I. und seiner „Schönheiten-Galerie“, einem König, der gleichermaßen für die Kunst und die Liebe entflammt war.
[24] Es hat der Vorschlag gegeben, es handele sich bei dem Titel „Die dekorative Kunst“ um Karl Rosners Die dekorative Kunst im neunzehnten Jahrhundert: Ein Stück Kunstgeschichte, Verlag Cronbach, Berlin 1898, aber es handelt sich hierbei um ein kleines unscheinbares Heft, das für die Schaufensterauslage ungeeignet gewesen wäre.
[25] Dekorative Kunst, München, Bd. III, März-Heft 1899, Abb. S. 247, Text S. 240; der heute verschollene Schreibtisch, Ausführung Hermann Scheidemantel in Weimar, wurde schon 1898 bei der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt und bekam später einen Platz im Haus von Thomas Mann, Poschingerstr. 1 in München; als Entwurf von Paul Schultze-Naumburg wurde er im Ausstellungskatalog Thomas Mann und die bildende Kunst, Hg. Alexander Bastek u. Anna Maria Pfäfflin, Museum Behnhaus Drägerhaus und im Buddenbrookhaus Lübeck, 13. September 2014 bis 6. Januar 2015, S. 59, S. 153 mit Abb. 38, noch nicht identifiziert.
[26] Ein Exemplar des Porträts, 1902 datiert, befindet sich im Museum der Stadt Aachen, Suermondt-Museum,
http://www.zeno.org/nid/20004130022
