Bazargebäude

Der Autor war überhaupt von den Formen und Farben des neuen Stils, für den erstmal im Jahre 1899 der Begriff „Jugendstil“ erfunden wurde, offensichtlich sehr angetan, zumindest konnte er sie nicht übersehen. Wir sind im sechsten Absatz der Novelle noch in Schwabing, aber dann plötzlich unweit des entfernten Odeonsplatzes: „Wie viel phantasievoller Komfort, wie viel linearer Humor in der Gestalt der Dinge!“ beobachtet der Autor, die sich biegende und drehende, nie ruhende Formen des Jugendstils erkennend, vor den Auslagen der Kunstschreinereien und der „Bazare“ für moderne Luxusartikel stehend – Mann wählt das Wort „Bazare“ als versteckten Hinweis auf das 1824 bis 1826 von Leo von Klenze erbaute „Bazargebäude“, mit Geschäften und Café ausgestattet, das sich als erster Bau auf der Ostseite der Ludwigsstraße zwischen dem Hofgartentor der Residenz und der Galeriestraße, dem Odeonsplatz gegenüber, erstreckt [7].

Nicht nur als attraktive Jugendstil-Stadt gibt sich München. Wieder erscheint das Motiv von Florenz: „Überall sind die kleinen Skulpturen-, Rahmen- und Antiquitätenhandlungen verstreut, aus deren Schaufenstern dir die Büsten der florentinischen Quattrocento-Frauen voll einer edlen Pikanterie entgegenschauen. Und der Besitzer des kleinsten und billigsten dieser Läden spricht dir von Donatello und Mino da Fiesole, als habe er das Vervielfältigungsrecht von ihnen persönlich empfangen …“. Diese letzten beiden Sätze sind traditionell als Thomas Manns Kritik an München als Stadt interpretiert worden, in der die moderne Kunst überhaupt keinen Platz hat, sondern die nur bloß handwerkliche Kunst der Reproduktion schätzt, hier in Form von figürlichen Skulpturen oder Reliefs des florentinischen 15. Jahrhunderts. München sei wegen ihres ausschließlichen Hangs zur Reproduktion und Kopie eine Kunststadt im unumkehrbaren Niedergang [8]. Diese Interpretation ist ganz und gar unsinnig und man fragt sich bei Manns ganz offensichtlichem Enthusiasmus für München, den der Autor bis zu diesen Sätzen an den Tag gelegt hat, warum er plötzlich überhaupt zu einer solchen herabsetzenden, unlogischen Kritik an die Kunststadt ansetzen würde. Das tut er keinesfalls: Es handelt sich ganz offensichtlich um humorvolle, nicht ironische oder satirische Sätze von Mann – und Humor muss man doch dem Autor gelegentlich zubilligen und überhaupt natürlich erst erkennen können. Es muss nicht bei Mann immer automatisch Ironie oder Satire sein. Thomas Mann gibt hier tatsächlich einen Witz über die jährlich aufeinanderfolgenden, themenverwandten Ausstellungen zur Kunst der italienischen Renaissance und der Reaktion des Münchener Kunsthandels dazu zum Besten, vielleicht in etwas langatmiger Ausführung, denn der Autor ist ja kein professioneller Witzbold. Wichtig ist an dieser Stelle vielmehr die lobende Beschreibung der florentinischen Renaissance-Büsten als „voll einer edlen Pikanterie“, denn ein paar Absätze weiter wird das Lob auf die noblen Münchenerinnen als „Königinnen der Künstlerfeste im Karneval … voll einer edlen Pikanterie“ übertragen und stellt sie dadurch auf einer ästhetischen Ebene mit dem Besten, was die Kunst der Frührenaissance in Florenz hervorgebracht hat.

 

[7] Oswald Hederer. Die Ludwigstraße, München, F. Eher Nachf., München 1942, S. 93 u. ausklappbarer Straßenplan.

[8] Zur bedeutenden Kontroverse dieser Zeit s.: Eduard Engels. Münchens Niedergang als Kunststadt. Eine Rundfrage von Eduard Engels. Beantwortet von: H. Bahr, B. Becker, H. E. v. Berlepsch, M. G. Conrad, C. Gurlitt, G. Hirth u.a., Verlagsanstalt F. Bruckmann A. G., München 1902.

Verfasst von: Graham Dry