Hofkarosse und Haarbandeaux
Im vierten Absatz der Novelle kehren wir mit Manns gewissenhafter Stadtführung wieder nach Norden in Richtung Schwabing, nicht ohne gleichzeitig einen Seitenblick auf Richard Riemerschmids „Schauspielhaus“, einen Theaterneubau in der Maximilianstraße, 1901 eröffnet, zu werfen, auch das Schwert-Motiv des Titels der Novelle wird anhand eines Verweises auf Richard Wagners Ring des Nibelungen aufgenommen: „Junge Leute, die das Nothung-Motiv pfeifen und abends die Hintergründe des modernen Schauspielhauses füllen (Abb. 13), wandern, literarische Zeitschriften in den Seitentaschen ihrer Jackets, in der Universität und der Staatsbibliothek aus und ein“ (Abb. 14).
Abb. 14 u. 16
Abb. 17 u. 18
Gemeint bei den Zeitschriften sind auf jeden Fall die Jugend und Simplicissmus, vielleicht auch Die Insel und Avalun, alle in München herausgegeben. Es geht jetzt weiter stadtauswärts: „Vor der Akademie der bildenden Künste, die ihre weißen Arme zwischen der Türkenstraße und dem Siegesthor ausbreitet [Abb. 16, 17 u. 18], hält eine Hofkarosse. Und auf der Höhe der Rampe stehen, sitzen und lagern in farbigen Gruppen die Modelle, pittoreske Greise, Kinder und Frauen in der Tracht der Albaner Berge“ (Abb. 19).
Abb. 19 u. 21
Abb. 20
Die „Hofkarosse“ ist keine zufällige Zutat in dieser tour d‘horizon in München, die den Leser auf den eigentlichen Inhalt der Novelle vorbereitet: Sie verweist vielmehr zunächst auf die Person des sehr beliebten Prinzregenten Luitpold von Bayern (1821-1912) (Abb. 20), der u.a. für seine Begeisterung für Kunst und Architektur und seine spontanen Besuche in den Ateliers von bekannten und unbekannten Künstlern hoch geschätzt war: Er war Gründer der Prinzregent-Luitpold-Stiftung zur Förderung der Kunst, des Kunstgewerbes und des Handwerks in München im Jahre 1891; als Schirmherr des Bayerischen Kunstgewerbevereins übte er einen immensen und wohltuenden Einfluss auf die Wertschätzung der Künste und des Kulturlebens in München, auch durch regelmäßige Käufe, aus. Der Prinzregent hatte zudem eine persönliche Verbindung zu Florenz: Am 15. April 1844 heiratete er im Dom zu Florenz die Erzherzogin Auguste Ferdinande von Österreich-Toskana, die Tochter des Großherzogs der Toskana. Die „Hofkarosse“ vor der Akademie fungiert für den Autor auf zwei Ebenen. Sie bezieht sich nicht nur auf den Münchener Kunstmäzen Luitpold, sondern dank der Erwähnung der Modelle auf der Rampe „in der Tracht der Albaner Berge“ zieht der Autor einen Bogen zu Florenz, etwa zum Kunstmäzen Lorenzo de‘ Medici, genannt ‚Il Magnifico‘ (1449-1492), der durch seine Förderung der Künste Florenz zur bedeutendsten Stadt der Renaissance gemacht hatte (Abb. 21). Das Haus Wittelsbach verschmilzt anhand der Hofkarosse mit dem Hause Medici, steht mit ihnen auf gleicher kultureller und kunstpolitischer Höhe, der Prinzregent wird hier zu „Luitpold dem Prächtigen“: Die Modelle in der Tracht der Albaner Berge gehören ohne Zweifel optisch als Staffage für italienische Landschaften eher zu der Accademia in Florenz: Eine Durchsicht aller Kataloge der Internationalen Kunstausstellungen und Sezessions-Ausstellungen in München der 1890er-Jahre hat zumindest ergeben, dass kein einziges der gezeigten Bilder Figuren in der Tracht der Albaner Berge zum Inhalt hatte.
„Junge Künstler“, wohl an der Akademie eingeschrieben und als Inbegriff des lockeren Schwabinger Lebens gedacht, tauchen im fünften Absatz der Novelle auf und „sehen den kleinen Mädchen nach, diesem hübschen, untersetzten Typus mit den brünetten Haarbandeaux, den etwas zu großen Füßen und den unbedenklichen Sitten …“. Diese Beschreibung der katholischen Münchener Mädchen wird in den folgenden Seiten mehrfach wie ein Leitmotiv von Mann wiederholt, möglicherweise als distanzierter Zugereister und evangelisches Lübecker Kind, um nachhaltig auf die Unterschiede zu den oft blonden, langbeinigen norddeutschen oder englischen Mädchen zu verweisen. Es kann auch sein, dass die Beschreibung gleichzeitig auf Florentiner Mädchen passen soll. Aber siehe da, es gab tatsächlich eine Münchener Ansichtskarte, etwa aus dem Jahre 1902, die eben ein solch gesittetes und fröhliches Münchener Mädchen mit Haarbandeaux zeigt, das als Zeichen ihrer unbedenklichen Sitten als Werbefigur für München tatsächlich ein Gebetbuch in der Hand trägt! (Abb. 22)
Abb. 22
Anschließend gibt Mann bei seinem Gang durch München einen komprimierten Bericht über die moderne Architektur der Stadt, die erkennbar unter dem Einfluss des Jugendstils steht. Es ist möglich, dass er dabei den Bau und vor allem die Fassade des „Hof-Atelier Elvira“, Von-der-Tann-Str. 15 an der Ludwigstraße gelegen, im Sinne hatte [6]: „Manchmal tritt ein Kunstbau aus der Reihe der bürgerlichen [Häuser] hervor, das Werk eines phantastischen jungen Architekten, breit und flachbogig, mit bizarrer Ornamentik, voll Witz und Stil“. „Breit und flachbogig“ war das kleine Hof-Atelier nicht, „Witz und Stil“ hatte es aber schon, aber wenn er tatsächlich den Bau von August Endell mit seiner notorischen Fassade im Sinne hatte (1897-98), lenkt der Autor durch seine irreführende Beschreibung wieder einmal von dem Objekt ab, indem er gleichzeitig darauf hinweist. Die Stadtführung soll doch keine präzise Dokumentation sein, die Technik des gleichzeitigen Hinweisens und Ablenkens muss bewahrt werden. Die vom Autor aufgelisteten Motive der neuzeitlichen Jugendstilarchitektur lassen ebenfalls auf keine bestimmten Bauten schließen, es reicht Thomas Mann zu zeigen, dass München eine ganz modern denkende Stadt ist, die die neuesten Entwicklungen in der Baukunst aufgreift: „Und plötzlich irgendwo die Thür an einer allzu langweiligen Fassade von einer kecken Improvisation umrahmt, von fließenden Linien und sonnigen Farben, Bacchanten, Nixen, rosigen Nacktheiten …“. Die Fassade eines Mietshauses, Ainmillerstr. 22 in Schwabing, 1899 von Ernst Haiger und dem Amerikaner Henry Helbig entworfen, mag stellvertretend für die Auswahl aus dem farbintensiven Motivschatz sein, der dem Jugendstil zur Verfügung stand und den Thomas Mann offensichtlich gern als Beweis für die Modernität Münchens goutierte.
[6] Die beiden Springbrunnen vor der Universität, München. Entwurf Friedrich von Gärtner, 1840-1844. Ansichtskarte, Farbdruck, Poststempel [18]99, Kunstanstalt O. Missler Berlin S, Karten-Nr. 699.
Weitere Kapitel:
Im vierten Absatz der Novelle kehren wir mit Manns gewissenhafter Stadtführung wieder nach Norden in Richtung Schwabing, nicht ohne gleichzeitig einen Seitenblick auf Richard Riemerschmids „Schauspielhaus“, einen Theaterneubau in der Maximilianstraße, 1901 eröffnet, zu werfen, auch das Schwert-Motiv des Titels der Novelle wird anhand eines Verweises auf Richard Wagners Ring des Nibelungen aufgenommen: „Junge Leute, die das Nothung-Motiv pfeifen und abends die Hintergründe des modernen Schauspielhauses füllen (Abb. 13), wandern, literarische Zeitschriften in den Seitentaschen ihrer Jackets, in der Universität und der Staatsbibliothek aus und ein“ (Abb. 14).
Abb. 14 u. 16
Abb. 17 u. 18
Gemeint bei den Zeitschriften sind auf jeden Fall die Jugend und Simplicissmus, vielleicht auch Die Insel und Avalun, alle in München herausgegeben. Es geht jetzt weiter stadtauswärts: „Vor der Akademie der bildenden Künste, die ihre weißen Arme zwischen der Türkenstraße und dem Siegesthor ausbreitet [Abb. 16, 17 u. 18], hält eine Hofkarosse. Und auf der Höhe der Rampe stehen, sitzen und lagern in farbigen Gruppen die Modelle, pittoreske Greise, Kinder und Frauen in der Tracht der Albaner Berge“ (Abb. 19).
Abb. 19 u. 21
Abb. 20
Die „Hofkarosse“ ist keine zufällige Zutat in dieser tour d‘horizon in München, die den Leser auf den eigentlichen Inhalt der Novelle vorbereitet: Sie verweist vielmehr zunächst auf die Person des sehr beliebten Prinzregenten Luitpold von Bayern (1821-1912) (Abb. 20), der u.a. für seine Begeisterung für Kunst und Architektur und seine spontanen Besuche in den Ateliers von bekannten und unbekannten Künstlern hoch geschätzt war: Er war Gründer der Prinzregent-Luitpold-Stiftung zur Förderung der Kunst, des Kunstgewerbes und des Handwerks in München im Jahre 1891; als Schirmherr des Bayerischen Kunstgewerbevereins übte er einen immensen und wohltuenden Einfluss auf die Wertschätzung der Künste und des Kulturlebens in München, auch durch regelmäßige Käufe, aus. Der Prinzregent hatte zudem eine persönliche Verbindung zu Florenz: Am 15. April 1844 heiratete er im Dom zu Florenz die Erzherzogin Auguste Ferdinande von Österreich-Toskana, die Tochter des Großherzogs der Toskana. Die „Hofkarosse“ vor der Akademie fungiert für den Autor auf zwei Ebenen. Sie bezieht sich nicht nur auf den Münchener Kunstmäzen Luitpold, sondern dank der Erwähnung der Modelle auf der Rampe „in der Tracht der Albaner Berge“ zieht der Autor einen Bogen zu Florenz, etwa zum Kunstmäzen Lorenzo de‘ Medici, genannt ‚Il Magnifico‘ (1449-1492), der durch seine Förderung der Künste Florenz zur bedeutendsten Stadt der Renaissance gemacht hatte (Abb. 21). Das Haus Wittelsbach verschmilzt anhand der Hofkarosse mit dem Hause Medici, steht mit ihnen auf gleicher kultureller und kunstpolitischer Höhe, der Prinzregent wird hier zu „Luitpold dem Prächtigen“: Die Modelle in der Tracht der Albaner Berge gehören ohne Zweifel optisch als Staffage für italienische Landschaften eher zu der Accademia in Florenz: Eine Durchsicht aller Kataloge der Internationalen Kunstausstellungen und Sezessions-Ausstellungen in München der 1890er-Jahre hat zumindest ergeben, dass kein einziges der gezeigten Bilder Figuren in der Tracht der Albaner Berge zum Inhalt hatte.
„Junge Künstler“, wohl an der Akademie eingeschrieben und als Inbegriff des lockeren Schwabinger Lebens gedacht, tauchen im fünften Absatz der Novelle auf und „sehen den kleinen Mädchen nach, diesem hübschen, untersetzten Typus mit den brünetten Haarbandeaux, den etwas zu großen Füßen und den unbedenklichen Sitten …“. Diese Beschreibung der katholischen Münchener Mädchen wird in den folgenden Seiten mehrfach wie ein Leitmotiv von Mann wiederholt, möglicherweise als distanzierter Zugereister und evangelisches Lübecker Kind, um nachhaltig auf die Unterschiede zu den oft blonden, langbeinigen norddeutschen oder englischen Mädchen zu verweisen. Es kann auch sein, dass die Beschreibung gleichzeitig auf Florentiner Mädchen passen soll. Aber siehe da, es gab tatsächlich eine Münchener Ansichtskarte, etwa aus dem Jahre 1902, die eben ein solch gesittetes und fröhliches Münchener Mädchen mit Haarbandeaux zeigt, das als Zeichen ihrer unbedenklichen Sitten als Werbefigur für München tatsächlich ein Gebetbuch in der Hand trägt! (Abb. 22)
Abb. 22
Anschließend gibt Mann bei seinem Gang durch München einen komprimierten Bericht über die moderne Architektur der Stadt, die erkennbar unter dem Einfluss des Jugendstils steht. Es ist möglich, dass er dabei den Bau und vor allem die Fassade des „Hof-Atelier Elvira“, Von-der-Tann-Str. 15 an der Ludwigstraße gelegen, im Sinne hatte [6]: „Manchmal tritt ein Kunstbau aus der Reihe der bürgerlichen [Häuser] hervor, das Werk eines phantastischen jungen Architekten, breit und flachbogig, mit bizarrer Ornamentik, voll Witz und Stil“. „Breit und flachbogig“ war das kleine Hof-Atelier nicht, „Witz und Stil“ hatte es aber schon, aber wenn er tatsächlich den Bau von August Endell mit seiner notorischen Fassade im Sinne hatte (1897-98), lenkt der Autor durch seine irreführende Beschreibung wieder einmal von dem Objekt ab, indem er gleichzeitig darauf hinweist. Die Stadtführung soll doch keine präzise Dokumentation sein, die Technik des gleichzeitigen Hinweisens und Ablenkens muss bewahrt werden. Die vom Autor aufgelisteten Motive der neuzeitlichen Jugendstilarchitektur lassen ebenfalls auf keine bestimmten Bauten schließen, es reicht Thomas Mann zu zeigen, dass München eine ganz modern denkende Stadt ist, die die neuesten Entwicklungen in der Baukunst aufgreift: „Und plötzlich irgendwo die Thür an einer allzu langweiligen Fassade von einer kecken Improvisation umrahmt, von fließenden Linien und sonnigen Farben, Bacchanten, Nixen, rosigen Nacktheiten …“. Die Fassade eines Mietshauses, Ainmillerstr. 22 in Schwabing, 1899 von Ernst Haiger und dem Amerikaner Henry Helbig entworfen, mag stellvertretend für die Auswahl aus dem farbintensiven Motivschatz sein, der dem Jugendstil zur Verfügung stand und den Thomas Mann offensichtlich gern als Beweis für die Modernität Münchens goutierte.
[6] Die beiden Springbrunnen vor der Universität, München. Entwurf Friedrich von Gärtner, 1840-1844. Ansichtskarte, Farbdruck, Poststempel [18]99, Kunstanstalt O. Missler Berlin S, Karten-Nr. 699.








