Ukrainische Gegenwartsliteratur

Ja, Zeitenwende hieß es, und jüngst geht gar die Rede um vom Epochenbruch im Zusammenhang mit dem Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine. Damit geht die gleichzeitige Zerstörung des europäischen Koordinatensystems aus transatlantischer Sicherheit, europäischer Tradition und Selbstverständnis sowie liebgewonnen politischen Stereotypen über Osteuropa einher. Während die plakativen Begriffe Zeitenwende und Epochenbruch eher metaphorischen Charakter haben und so vieldeutig auslegbar sind, dass am Ende von ihrer ursprünglichen Motivation, dem russischen Krieg und seine Folgen zu fassen, nur etwas „Unfassbares“ bleibt, ist „Krieg“ für viele ukrainische Autorinnen und Autoren keine Metapher mehr. Vielmehr bezeichnet es den Einbruch des Realen in die symbolische Ordnung, das Koordinatensystem, das wir uns als Europäer – einschließlich der Ukrainer – seit den 1990er Jahren zurechtgelegt haben, eine symbolische Ordnung und ein Koordinatensystem, auf dem wir unsere Orientierung und Sicherheit in der Welt gründeten. Das brutale und unmenschlich Reale des russischen Kriegs entzieht sich unsern gewohnten Denkmustern, deshalb auch der Versuch, es mit Begriffen wie Zeitenwende zu fassen. Doch solche Begriffe blieben metaphernhaft, da unrealisiert.
Im Hinblick auf die Ukraine und die ukrainische Literatur gab es schon einmal eine solche Zeitenwende resp. einen Epochenbruch: Mitte der 1980er Jahre, als die Sowjetunion mit der Explosion des AKW Tschernobyl implodierte. Das Atomkraftwerk Tschernobyl als Metapher für die Modernität und wissenschaftlich-technische Reife der Sowjetunion zerfiel mit dem radioaktiven Fallout in Europa. Und der Super-GAU von Tschernobyl war das Reale, das in die Sowjetwirklichkeit einbrach und in wenigen Jahren die Sowjetunion zum totalen Einsturz brachte – die reale Sowjetunion und nicht jene, die der Führer im Kreml in seinen delirierenden Geschichtsbildern fantasiert.
Die Post-Tschernobyl-Literatur
Für die ukrainische Gesellschaft, Kultur und Literatur bedeutet das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 tatsächlich einen realen Epochenbruch. Um bei der Literatur zu bleiben: Er markiert das Ende der sowjetukrainischen Literatur und den Beginn der Gegenwartsliteratur. Diese wird treffend auch als Post-Tschernobyl-Literatur oder „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ (Tamara Hundorova, Oksana Sabuschko) bezeichnet. Die Vertreter dieser Literatur schreiben zwar kaum über die Reaktorkatastrophe selbst, verabschieden aber in ihren Texten den als geistiges Tschernobyl wahrgenommenen allgegenwärtigen sozialen und kulturellen Niedergang sowie die Entmenschlichung der sowjetischen Lebensverhältnisse. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um eine posttotalitäre und postkoloniale Literatur, die das totalitäre und koloniale Erbe Russlands und der Sowjetzeit reflektiert. Die Literatur der „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ erstreckt sich mit zwei Generationen von Autorinnen und Autoren bis in Jahr 2014. Ihre Merkmale sind die Dekonstruktion des sozialistischen Realismus als verpflichtendes Regelwerk für Form und Inhalt der Literatur und als Stabilisator des sozialistisch-sowjetischen Kanons.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Ein weiteres Merkmal dieser Literatur ist seit den ausgehenden 1980er Jahren eine Situation der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“: Das heißt, ehemals offizielle Literatur, die inoffizielle Samwydav- und Untergrundliteratur, die Exilliteratur, bisher nicht publizierte Texte von Autoren und Autorinnen früherer Generationen sowie neu entstandene Texte beanspruchen Aufmerksamkeit und ermöglichen einen ästhetischen und weltanschaulichen Pluralismus. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht auch eine Wiederentdeckung verschiedener Kulturtopografien wie Galizien, Charkiw oder der Krim und knüpft an die traditionell polyzentrische regionale Struktur der Ukraine an mit Poltawa, Charkiw, Kijiw, Lwiw, Czernowitz als Kulturzentren. Die heutigen ukrainischen Regionen waren in ihrer historischen Entwicklung unterschiedlichen politischen Formationen und imperialen Strukturen zugeordnet. Im Zug der Nationalbewegungen im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts waren Sprache und Literatur für die ukrainischen Autoren und Intellektuellen ein Mittel, um die Idee einer gemeinsamen Identität über einzelne Regionalidentitäten hinaus zu erzeugen. So beschwor der Romantiker und ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko eine ukrainische Gemeinschaft aus „Lebenden, Toten und Ungeborenen” in seinem gleichnamigen Poem. Und sicher nicht zufällig erzählt das Initialwerk der neueren ukrainischen Literatur, Iwan Kotljarewskyjs Äneis-Travestie von der Suche der ukrainische Kosaken nach einer neuen Heimat. Die Ukraine existierte nicht physisch als Staat auf der Landkarte, sondern vor allem als vorgestellte Gemeinschaft, als eine Erzählung in Wissenschaften und Literatur. Im Übrigen etwas, was für die meisten slawischsprachigen Kulturen und ebenso für die „deutsche Kultur“ des 19. Jahrhunderts gilt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion boten Dezentralisierung und Regionalisierung zudem bisher unterdrückten oder marginalisierten regional-nationalen Geschichten Raum für Artikulationsmöglichkeiten und bezogen rückblickend auch die jüdische, deutsche resp. österreichische oder polnische Bevölkerung mit ein, sehr anschaulich in Lwiw, Drohobytsch oder Czernowitz (z. B. Bruno Schulz, Leopold Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos oder Paul Celan).
Wesentliche Vertreter der „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ waren Oskana Sabuschko (1960) und Juri Andruchowytsch (1960). Beide – so unterschiedlich sie in ihrer Ästhetik und mit ihren literarischen Mitteln auch sein mögen – thematisieren in ihren Prosawerken Fragen nationaler, gesellschaftlicher und individueller Identitäten, der Zugehörigkeit zu Europa und reaktivieren dabei das kulturelle Gedächtnis. Ein weiterer Autor, der nicht nur durch sein anspruchsvolles Werk, sondern mit seinem „magischen Literaturportal“ (Irena Karpa), der Zeitschrift Chetver (Donnerstag) die „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ prägte, ist Jurij Isdryk. Bei einem weiteren wichtigen Autor dieser Bibliothek, Serhij Zhadan (1972), wird ein regionaler und thematischer Perspektivwechsel deutlich. Mit seinem Schaffen ist er ein Übergangsphänomen zur jüngsten Schriftstellergeneration. Sein Werk ist in Inhalt und Form eine Alternative zu allem, was bis in die 1990er Jahre traditionell als ukrainisch galt. Dazu trägt wesentlich die Topografie von Zhadans Dichtung bei. Sie ist von einer Landschaft inspiriert, in der verrottende Industrieanlagen und Trabantenstädte wie Mahnmale und letzte Zeugen des Sowjetexperiments aufragen.
Eine der frischesten europäischen Gegenwartsliteraturen
In den 2000er Jahren meldet sich dann eine neue Generation von Autorinnen und Autoren zu Wort, die die Probleme des kulturellen Gedächtnisses und postkoloniale Identitäten der Ukraine neu definieren. Sie sind Teil einer zunehmend erstarkenden Zivilgesellschaft, wie sie sich in der Orangen Revolution und dann vor allem auf dem Maidan manifestiert. In literarischer Hinsicht verorten sie sich in der einer progressiven zeitgenössischen europäischen Kultur. Neben Serhij Zhadan sind wichtige Vertreter Irena Karpa, Oleksandr Myched, Andrij Ljubka, Ljuba Jakymtschuk, Viktoria Amelina sowie Bohdan Kolomijtschuk.
Nach dem Maidan, resp. der „Revolution der Würde“ (tatsächlich ging es u. a. um die Würde der ukrainischen Zivilgesellschaft gegenüber einer von Russland korrumpierten, mafiösen Staatsführung), begann der russische Krieg gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim und der verdeckten russischen Invasion in die Gebiete Donezk und Luhansk. Die Literatur reflektiert seitdem zunehmend die Folgen des Maidan und die Auswirkungen des Kriegs im Osten der Ukraine. Freilich sind oft der Maidan oder der Krieg nicht vordergründig das Thema, sondern mit ihnen verknüpfte Phänomene wie die Frage nach Alltag und Identitäten in der Ukraine vor 2014, nach individuellem und kollektivem Engagement und Verantwortung im Krieg und des Einsatzes als Soldat, dem Schicksal der Binnenflüchtlinge einschließlich der Krimtataren, dem Leben in den „grauen Zonen“, also den Grenzgebieten zwischen den Territorien, die die ukrainische Armee kontrolliert und jenen, die Russland mit so genannten Separatisten okkupiert hat. Herausragende Werke dieser Literatur stammen von Autorinnen und Autoren, die unmittelbar mit dem Krieg konfrontiert sind als Bewohner der Frontstadt Charkiw, als Flüchtlinge und Vertriebene aus den von Russland besetzten Gebieten der Ostukraine, als Soldaten im Kampfeinsatz, als ziviligesellschaftliche Aktivistinnen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren und anderes mehr. Zu diesen Autorinnen und Autoren gehören Ljuba Jakymtschuk mit ihrem Langgedicht „Aprikosen des Donbas“, Andrij Ljubkas „Karbid“, Oleksandr Mycheds „Dein Blut wird Kohle tränken“ und Sofia Andruchowytschs Amadoka-Trilogie, ebenso wie Viktoria Amelinas „Ein Haus für Dom“ oder Bohdan Kolomijtschuks, Ostap Slyvynskyjs sowie Irena Karpas und Jurij Isdryks Texte.
Der Februar 2022 ließ mit dem Versuch der Okkupation der gesamten Ukraine durch Russland die ukrainische Literatur verstummen. doch nur für einen Moment.
Schreiben gegen die Sprachlosigkeit
Der ukrainische Kulturminister rief zu Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine auf, dass die Ukrainer nun Gedichte schreiben sollten, um die Ereignisse für kommende Generationen zu dokumentieren und durch die Literatur in der Erinnerung zu bewahren – Gedichte als Mnemotechnik, um Ereignisse zu memorieren, ähnlich wie in der Antike und im Mittelalter. Und tatsächlich entstand eine Vielzahl lyrischer Texte von Amateuren wie Profiautoren. Seit dem totalen Krieg Russlands gegen die Ukraine diskutieren namhafte Schriftsteller, dass Krieg keine Metapher sei (Halyna Kruk), dass es Wörter des Kriegs gebe (Ostap Slyvynskyj), dass ein Geschoss die Sprache getroffen und zersplittert habe (Viktoria Amelina), dass das Schreiben therapeutische Zwecke erfülle (Bohdan Kolomijtschuk), dass das Schreiben unmoralisch sei (Andrij Ljubka).
Die genannten Autorinnen und Autoren treten mit unserer Auswahl der ukrainischen Gegenwartsliteratur in einen gedachten Dialog mit dem deutschen Lesepublikum, an dem drei deutsche namhafte Gegenwartsautorinnen beteiligt sind: Tanja Dückers, Kerstin Preiwuß und Ulrike Almut Sandig. Diese drei Autorinnen, Dichterinnen, Essayistinnen pflegen vielfältige Verbindungen zur ukrainischen Literatur, sie arbeiten in literarischen und multimedialen Projekten mit ukrainischen Autorinnen und Autoren sowie Musikern zusammen, treten mit ihnen gemeinsam bei Lesungen und auf Kulturfestivals auf, übersetzen ihre Werke, kennen die Ukraine aus erster Hand mit eigener Erfahrung.
Die drei deutschen Autorinnen präsentieren je einen Autor oder eine Autorin als wesentliche literarische Stimme der gegenwärtigen Ukraine, ebenso wie von ukrainischer Seite Irena Karpa, Bohdan Kolomijtschuk und Oleksandr Myched beteiligt sind und ebenfalls je eine, aus ihrer Sicht markante literarische Stimme vorstellen.
Offensichtlich ergibt sich hier eine gewisse thematische Übereinstimmung der ukrainisch-deutschen Sicht auf die Gegenwartsliteratur. Alle Texte sind – sehr unterschiedlich in Art und Gewichtung – mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine befasst. Dabei wird ein breites Spektrum der Reflexion der Kriegssituation durch Autorinnen und Autoren deutlich, die zugleich eine Selbstreflexion der Literatur darstellt. Und diese zusammengespannten deutschen und ukrainischen Darstellungen vermittelt eine besondere, erhellende Perspektive auf eine Literatur, die Unglaubliches zu erzählen hat.
Der Text wurde gegenüber der ersten Fassung, die als Einzelbeitrag im Literaturportal Bayern erschien, vom Autor leicht überarbeitet.
Weitere Kapitel:

Ja, Zeitenwende hieß es, und jüngst geht gar die Rede um vom Epochenbruch im Zusammenhang mit dem Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine. Damit geht die gleichzeitige Zerstörung des europäischen Koordinatensystems aus transatlantischer Sicherheit, europäischer Tradition und Selbstverständnis sowie liebgewonnen politischen Stereotypen über Osteuropa einher. Während die plakativen Begriffe Zeitenwende und Epochenbruch eher metaphorischen Charakter haben und so vieldeutig auslegbar sind, dass am Ende von ihrer ursprünglichen Motivation, dem russischen Krieg und seine Folgen zu fassen, nur etwas „Unfassbares“ bleibt, ist „Krieg“ für viele ukrainische Autorinnen und Autoren keine Metapher mehr. Vielmehr bezeichnet es den Einbruch des Realen in die symbolische Ordnung, das Koordinatensystem, das wir uns als Europäer – einschließlich der Ukrainer – seit den 1990er Jahren zurechtgelegt haben, eine symbolische Ordnung und ein Koordinatensystem, auf dem wir unsere Orientierung und Sicherheit in der Welt gründeten. Das brutale und unmenschlich Reale des russischen Kriegs entzieht sich unsern gewohnten Denkmustern, deshalb auch der Versuch, es mit Begriffen wie Zeitenwende zu fassen. Doch solche Begriffe blieben metaphernhaft, da unrealisiert.
Im Hinblick auf die Ukraine und die ukrainische Literatur gab es schon einmal eine solche Zeitenwende resp. einen Epochenbruch: Mitte der 1980er Jahre, als die Sowjetunion mit der Explosion des AKW Tschernobyl implodierte. Das Atomkraftwerk Tschernobyl als Metapher für die Modernität und wissenschaftlich-technische Reife der Sowjetunion zerfiel mit dem radioaktiven Fallout in Europa. Und der Super-GAU von Tschernobyl war das Reale, das in die Sowjetwirklichkeit einbrach und in wenigen Jahren die Sowjetunion zum totalen Einsturz brachte – die reale Sowjetunion und nicht jene, die der Führer im Kreml in seinen delirierenden Geschichtsbildern fantasiert.
Die Post-Tschernobyl-Literatur
Für die ukrainische Gesellschaft, Kultur und Literatur bedeutet das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 tatsächlich einen realen Epochenbruch. Um bei der Literatur zu bleiben: Er markiert das Ende der sowjetukrainischen Literatur und den Beginn der Gegenwartsliteratur. Diese wird treffend auch als Post-Tschernobyl-Literatur oder „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ (Tamara Hundorova, Oksana Sabuschko) bezeichnet. Die Vertreter dieser Literatur schreiben zwar kaum über die Reaktorkatastrophe selbst, verabschieden aber in ihren Texten den als geistiges Tschernobyl wahrgenommenen allgegenwärtigen sozialen und kulturellen Niedergang sowie die Entmenschlichung der sowjetischen Lebensverhältnisse. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um eine posttotalitäre und postkoloniale Literatur, die das totalitäre und koloniale Erbe Russlands und der Sowjetzeit reflektiert. Die Literatur der „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ erstreckt sich mit zwei Generationen von Autorinnen und Autoren bis in Jahr 2014. Ihre Merkmale sind die Dekonstruktion des sozialistischen Realismus als verpflichtendes Regelwerk für Form und Inhalt der Literatur und als Stabilisator des sozialistisch-sowjetischen Kanons.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Ein weiteres Merkmal dieser Literatur ist seit den ausgehenden 1980er Jahren eine Situation der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“: Das heißt, ehemals offizielle Literatur, die inoffizielle Samwydav- und Untergrundliteratur, die Exilliteratur, bisher nicht publizierte Texte von Autoren und Autorinnen früherer Generationen sowie neu entstandene Texte beanspruchen Aufmerksamkeit und ermöglichen einen ästhetischen und weltanschaulichen Pluralismus. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht auch eine Wiederentdeckung verschiedener Kulturtopografien wie Galizien, Charkiw oder der Krim und knüpft an die traditionell polyzentrische regionale Struktur der Ukraine an mit Poltawa, Charkiw, Kijiw, Lwiw, Czernowitz als Kulturzentren. Die heutigen ukrainischen Regionen waren in ihrer historischen Entwicklung unterschiedlichen politischen Formationen und imperialen Strukturen zugeordnet. Im Zug der Nationalbewegungen im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts waren Sprache und Literatur für die ukrainischen Autoren und Intellektuellen ein Mittel, um die Idee einer gemeinsamen Identität über einzelne Regionalidentitäten hinaus zu erzeugen. So beschwor der Romantiker und ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko eine ukrainische Gemeinschaft aus „Lebenden, Toten und Ungeborenen” in seinem gleichnamigen Poem. Und sicher nicht zufällig erzählt das Initialwerk der neueren ukrainischen Literatur, Iwan Kotljarewskyjs Äneis-Travestie von der Suche der ukrainische Kosaken nach einer neuen Heimat. Die Ukraine existierte nicht physisch als Staat auf der Landkarte, sondern vor allem als vorgestellte Gemeinschaft, als eine Erzählung in Wissenschaften und Literatur. Im Übrigen etwas, was für die meisten slawischsprachigen Kulturen und ebenso für die „deutsche Kultur“ des 19. Jahrhunderts gilt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion boten Dezentralisierung und Regionalisierung zudem bisher unterdrückten oder marginalisierten regional-nationalen Geschichten Raum für Artikulationsmöglichkeiten und bezogen rückblickend auch die jüdische, deutsche resp. österreichische oder polnische Bevölkerung mit ein, sehr anschaulich in Lwiw, Drohobytsch oder Czernowitz (z. B. Bruno Schulz, Leopold Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos oder Paul Celan).
Wesentliche Vertreter der „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ waren Oskana Sabuschko (1960) und Juri Andruchowytsch (1960). Beide – so unterschiedlich sie in ihrer Ästhetik und mit ihren literarischen Mitteln auch sein mögen – thematisieren in ihren Prosawerken Fragen nationaler, gesellschaftlicher und individueller Identitäten, der Zugehörigkeit zu Europa und reaktivieren dabei das kulturelle Gedächtnis. Ein weiterer Autor, der nicht nur durch sein anspruchsvolles Werk, sondern mit seinem „magischen Literaturportal“ (Irena Karpa), der Zeitschrift Chetver (Donnerstag) die „Post-Tschornobyl-Bibliothek“ prägte, ist Jurij Isdryk. Bei einem weiteren wichtigen Autor dieser Bibliothek, Serhij Zhadan (1972), wird ein regionaler und thematischer Perspektivwechsel deutlich. Mit seinem Schaffen ist er ein Übergangsphänomen zur jüngsten Schriftstellergeneration. Sein Werk ist in Inhalt und Form eine Alternative zu allem, was bis in die 1990er Jahre traditionell als ukrainisch galt. Dazu trägt wesentlich die Topografie von Zhadans Dichtung bei. Sie ist von einer Landschaft inspiriert, in der verrottende Industrieanlagen und Trabantenstädte wie Mahnmale und letzte Zeugen des Sowjetexperiments aufragen.
Eine der frischesten europäischen Gegenwartsliteraturen
In den 2000er Jahren meldet sich dann eine neue Generation von Autorinnen und Autoren zu Wort, die die Probleme des kulturellen Gedächtnisses und postkoloniale Identitäten der Ukraine neu definieren. Sie sind Teil einer zunehmend erstarkenden Zivilgesellschaft, wie sie sich in der Orangen Revolution und dann vor allem auf dem Maidan manifestiert. In literarischer Hinsicht verorten sie sich in der einer progressiven zeitgenössischen europäischen Kultur. Neben Serhij Zhadan sind wichtige Vertreter Irena Karpa, Oleksandr Myched, Andrij Ljubka, Ljuba Jakymtschuk, Viktoria Amelina sowie Bohdan Kolomijtschuk.
Nach dem Maidan, resp. der „Revolution der Würde“ (tatsächlich ging es u. a. um die Würde der ukrainischen Zivilgesellschaft gegenüber einer von Russland korrumpierten, mafiösen Staatsführung), begann der russische Krieg gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim und der verdeckten russischen Invasion in die Gebiete Donezk und Luhansk. Die Literatur reflektiert seitdem zunehmend die Folgen des Maidan und die Auswirkungen des Kriegs im Osten der Ukraine. Freilich sind oft der Maidan oder der Krieg nicht vordergründig das Thema, sondern mit ihnen verknüpfte Phänomene wie die Frage nach Alltag und Identitäten in der Ukraine vor 2014, nach individuellem und kollektivem Engagement und Verantwortung im Krieg und des Einsatzes als Soldat, dem Schicksal der Binnenflüchtlinge einschließlich der Krimtataren, dem Leben in den „grauen Zonen“, also den Grenzgebieten zwischen den Territorien, die die ukrainische Armee kontrolliert und jenen, die Russland mit so genannten Separatisten okkupiert hat. Herausragende Werke dieser Literatur stammen von Autorinnen und Autoren, die unmittelbar mit dem Krieg konfrontiert sind als Bewohner der Frontstadt Charkiw, als Flüchtlinge und Vertriebene aus den von Russland besetzten Gebieten der Ostukraine, als Soldaten im Kampfeinsatz, als ziviligesellschaftliche Aktivistinnen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren und anderes mehr. Zu diesen Autorinnen und Autoren gehören Ljuba Jakymtschuk mit ihrem Langgedicht „Aprikosen des Donbas“, Andrij Ljubkas „Karbid“, Oleksandr Mycheds „Dein Blut wird Kohle tränken“ und Sofia Andruchowytschs Amadoka-Trilogie, ebenso wie Viktoria Amelinas „Ein Haus für Dom“ oder Bohdan Kolomijtschuks, Ostap Slyvynskyjs sowie Irena Karpas und Jurij Isdryks Texte.
Der Februar 2022 ließ mit dem Versuch der Okkupation der gesamten Ukraine durch Russland die ukrainische Literatur verstummen. doch nur für einen Moment.
Schreiben gegen die Sprachlosigkeit
Der ukrainische Kulturminister rief zu Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine auf, dass die Ukrainer nun Gedichte schreiben sollten, um die Ereignisse für kommende Generationen zu dokumentieren und durch die Literatur in der Erinnerung zu bewahren – Gedichte als Mnemotechnik, um Ereignisse zu memorieren, ähnlich wie in der Antike und im Mittelalter. Und tatsächlich entstand eine Vielzahl lyrischer Texte von Amateuren wie Profiautoren. Seit dem totalen Krieg Russlands gegen die Ukraine diskutieren namhafte Schriftsteller, dass Krieg keine Metapher sei (Halyna Kruk), dass es Wörter des Kriegs gebe (Ostap Slyvynskyj), dass ein Geschoss die Sprache getroffen und zersplittert habe (Viktoria Amelina), dass das Schreiben therapeutische Zwecke erfülle (Bohdan Kolomijtschuk), dass das Schreiben unmoralisch sei (Andrij Ljubka).
Die genannten Autorinnen und Autoren treten mit unserer Auswahl der ukrainischen Gegenwartsliteratur in einen gedachten Dialog mit dem deutschen Lesepublikum, an dem drei deutsche namhafte Gegenwartsautorinnen beteiligt sind: Tanja Dückers, Kerstin Preiwuß und Ulrike Almut Sandig. Diese drei Autorinnen, Dichterinnen, Essayistinnen pflegen vielfältige Verbindungen zur ukrainischen Literatur, sie arbeiten in literarischen und multimedialen Projekten mit ukrainischen Autorinnen und Autoren sowie Musikern zusammen, treten mit ihnen gemeinsam bei Lesungen und auf Kulturfestivals auf, übersetzen ihre Werke, kennen die Ukraine aus erster Hand mit eigener Erfahrung.
Die drei deutschen Autorinnen präsentieren je einen Autor oder eine Autorin als wesentliche literarische Stimme der gegenwärtigen Ukraine, ebenso wie von ukrainischer Seite Irena Karpa, Bohdan Kolomijtschuk und Oleksandr Myched beteiligt sind und ebenfalls je eine, aus ihrer Sicht markante literarische Stimme vorstellen.
Offensichtlich ergibt sich hier eine gewisse thematische Übereinstimmung der ukrainisch-deutschen Sicht auf die Gegenwartsliteratur. Alle Texte sind – sehr unterschiedlich in Art und Gewichtung – mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine befasst. Dabei wird ein breites Spektrum der Reflexion der Kriegssituation durch Autorinnen und Autoren deutlich, die zugleich eine Selbstreflexion der Literatur darstellt. Und diese zusammengespannten deutschen und ukrainischen Darstellungen vermittelt eine besondere, erhellende Perspektive auf eine Literatur, die Unglaubliches zu erzählen hat.
Der Text wurde gegenüber der ersten Fassung, die als Einzelbeitrag im Literaturportal Bayern erschien, vom Autor leicht überarbeitet.