Eine Milliarde Gedanken

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Der Zauberer Prospero in einer illustrierten Shakespeare-Ausgabe um 1860.

Mitte 1850 lernen Melville und Nathaniel Hawthorne, der bis heute berühmte Autor des Scharlachroten Buchstaben, sich in den Berkshires kennen und entbrennen in heftiger Freundschaft, manche denken: auch Liebe. Melville schreibt Moby-Dick und arbeitet auf seiner neu erstandenen Farm in Massachusetts. Im November 1851, kurz nach der Veröffentlichung von Moby-Dick, schreibt er an Hawthorne: „I can't stop yet. If the world was entirely made up of Magians, I'll tell you what I should do. I should have a paper-mill established at one end of the house, and so have an endless riband of foolscap rolling in upon my desk; and upon that endless riband I should write a thousand – a million – billion thoughts, all under the form of a letter to you. The divine magnet is in you, and my magnet responds. Which is the biggest? A foolish question – they are One.“

Kurz zusammengefasst: Melville wünscht sich (für den Fall, dass die Welt komplett aus Magiern bestünde) ein endloses Papierband, das über seinen Schreibtisch liefe, damit er die tausend Millionen Gedanken in seinem Kopf darauf schreiben und als Brief an Hawthorne senden könnte. Er fühlt sich von dem anderen magnetisch angezogen und möchte seinerseits den Freund magnetisch anziehen.

Foolscap war ein britisches Standardformat für Papier, der Name rührt vom Wasserzeichen, einer Narrenkappe. Der Begriff wurde zum Synonym für ein Blatt Schreibpapier verbreitert. Magians sind Magier. Es könnten auch zoroastrische Priester (Magi) gemeint sein, die mit Zauberei nicht viel zu tun haben. Shakespeare verwendet Magian für Prospero. Und Melville bezieht sich häufig auf Shakespeare. (Im Deutschen übrigens rührt das Wort Magus an Vermögen, Macht, Maschine.)

Magus und Magnet, Melville scheint beides zu sein. Er schreibt geradezu manisch – seine Bücher sind zwischen 400 und 900 Seiten dick. Er verfasst sie meistens innerhalb weniger Monate. Das sind die Publikationsdaten:

Februar und April 1846: Typee (Band 1 & 2) – März 1847: Omoo – März und April 1849: Mardi – August 1848: Redburn – März 1850: White-Jacket – Oktober 1851: Moby-Dick – August 1852: Pierre – [Juni 1853: The Isle of the Cross, unveröffentlicht und nicht nachzuweisen] – April 1855: Israel Potter – April 1857: The Confidence-Man. Das sind neun (oder sogar zehn) Romane in elf Jahren. Dazwischen schrieb Melville Erzählungen, zum Teil im Band The Piazza Tales (1856) gesammelt, und Essays. In den letzten Lebensjahren folgte Billy Budd; die Erzählung wurde 1924 postum veröffentlicht.

Nach 1857 wandte er sich der Lyrik zu. 1860 bot er eine Sammlung von Gedichten an, die niemand publizieren wollte. Sie gelten als verloren. Wenn man einer Andeutung Melvilles in einem Brief Glauben schenkt, hat er das Papier, auf das sie geschrieben waren, an einen Kistenmacher verkauft, zu 10 Cent das Pfund. 1866 erschienen die Battle-Pieces, Gedichte über den Amerikanischen Bürgerkrieg. 1876 erschien Clarel, ein Epos von mehr als 18.000 Versen. 1888 die Gedichtsammlung John Marr, 1891 Timoleon. Dann war Schluss.

Verfasst von: Thomas Lang

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Ein zoroastrischer Magier, 6.-4. Jhdt. v. Chr., aus dem Oxus-Schatz.