Sarah Ines – Macht über mich selbst haben

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Foto: Heinz Speckmeyer

Autorin, Beatpoetin, Performancekünstlerin: Geboren in Düsseldorf, sozialisiert in Hamburg, lebt in München, assoziiert, poetisiert, performt privat, politisch, präsent über Emotionen, Geschlechter und Moralitäten gestern, heute, morgen. Aktuell arbeitet sie an den Poetryperformanceprojekten „Brain Poetry“, „deamons │ dämonen“ und „crosswalks“.

Was ist Anarchismus für dich?

Eine anarchistische und kooperative Gesellschaft wäre eine, in der Menschen, die Verantwortung für sich selbst und ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten und Neigungen, und entsprechend ihren Kapazitäten für andere, übernehmen, so dass eine konstruktive Gesellschaftstruktur ohne destruktive Machtspiele und Hierarchien und Unterdrückung entstehen kann.

Würdest du dich als Anarchistin bezeichnen?

Ja, durchaus. Mir war es immer wichtiger, Macht über mich selbst zu haben, als mittels Macht über andere an diese gebunden zu sein. Was schon eine lebenslange Aufgabe ist, zu lernen, dies konstruktiv, mit sich und anderen zu leben, egal ob im persönlichen oder künstlerischen oder gesellschaftlichen Kontext. Da ja kapitalistische und patriarchale Prägungen, und wohl auch die Natur des Menschen, dem oft genug entgegenstehen.

Wann ist dir um ersten Mal bewusst geworden, dass du eine Anarchistin bist?

Hmmm! Vor allem Macht über mich selbst haben, wollte ich, seit ich denken kann. In mir gab es schon immer einen Ort, über den andere keine Macht hatten. Auch in Zeiten, als ich noch stark von destruktiven Prägungen familiärer und gesellschaftlicher Art beeinflusst war. Und auch wenn ich erst jetzt langsam zu verstehen beginne, welche konstruktive Kraft dieser innere Ort freisetzen kann. Konkret im Sinne der Selbstbezeichnung ist mir der eigene Anarchismus erst wirklich in den letzten Jahren bewusst geworden, insbesondere auch in Gesprächen mit anarchisch denkenden Freund*innen. Inzwischen versuche ich in jedem Dialog, ob mit mir selbst oder mit anderen, mit innerer Unabhängigkeit zu agieren, und im Künstlerischen hoffentlich in die Richtung zu inspirieren. Immer öfter gelingt es auch. Ein langer Weg, da wir von so vielen destruktiven Einflüssen im Innen und Außen umgeben sind. In aktuellen epidemischen Zeiten einmal mehr.

Haben andere – historische – Anarchistinnen für dich eine wichtige Rolle gespielt? Und wen würdest du heute als Anarchist/in bezeichnen?

Zugegebenermaßen habe ich die anarchistische Geschichte und Theorie nicht strukturiert erforscht. Da gibt es für mich noch einiges zu lesen und lernen. Ich bin jedoch aufgewachsen mit einer anarchisch denkenden Mutter, der Schriftstellerin Karin Struck, die das zwar als Mensch im Privaten nicht konstruktiv leben konnte, die in ihrem Schreiben und gesellschaftlichen Engagement jedoch sehr frei war und sich immer wieder zwischen alle Stühle gesetzt hat. Ansonsten haben mich immer mal wieder Autor*innen inspiriert, anarchisch weiterzudenken, zum Beispiel Bertolt Brecht, Albert Camus, Noam Chomsky, Hermann Hesse, Astrid Lindgren, Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow, Lou Andreas-Salomé und Oscar Wilde.

Im Heute haben mich Dialoge inspiriert, zum Beispiel mit Robert Hofmann, der über zwanzig Jahre das ehemalige i-camp/Neues Theater München geleitet hat. Als inspirierend empfinde ich auch die Anarchafeministin Antje Schrupp. Auch Musiker*innen haben mich anarchisch inspiriert, zum Beispiel von den Riot-Grrrl-Bands Bikini Kill oder Bratmobile oder Parole Trixi. Oder anarchisch denkende Autorinnen und Dichterinnen wie Ruth Klüger, Swantje Lichtenstein, Dacia Maraini, Frederike Mayröcker, Marlene Streeruwitz und Anne Waldman. Aus München Protagonist*innen wie der Autor, Künstler, Regisseur und Science Fiction-Forscher Holger Dreissig mit seinen „Verwaltungs-Performances oder die Dichterin, Performancekünstlerin und Verlegerin Lisa Jeschke. Um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch du auf deine Weise, liebe Gunna.

Anarchismus und Bayern – wie passt das für Dich zusammen?

Bayern und München haben ja mit der Räterepublik und bekannten Anarchisten wie Gustav Landauer und Erich Mühsam – auch Franziska zu Reventlow würde ich dazu zählen – eine frühe anarchistische Tradition und sonnen sich mit der viel beschworenen Liberalitas Bavariae des Freistaates gerne mal darin. Ansonsten gehen von Bayern momentan wohl eher nicht die großen anarchistischen Ideen aus, aber einzelne Protagonist*innen der linken Szene und der freien subkulturellen Kultur und Kunst bleiben am Ball. Und ich versuche es beatpoetisch auch auf meine Weise. Selbst in diesen epidemischen Zeiten. Wer weiß, was passiert.

real radikal viral

summer in the city
mondays and fridays
for future

alarmismus von apologeten?
hybris heidnischer wutbürger?
platz für privates heldentum?
gestern gockelei beim cocktail?
name dropping mit fingerfood?
heute viral virile mechanismen?
populistische verbalakrobatismen?
grundrechte sind gerade eine ware
wo ist krieg und krass kohlendioxid?
protest als kommunikatives element?
endlich mal haltung zeigen?

make it simple for dummys
german angst vor blitzen und stürmen?
where the gras is hot
and buzzwords
are pretty

klimawandel
industriekiller
subsistenzwirtschaft
globaldoktrin nachhaltigkeit
interessiert niemand mehr
in kleinen zuhausekästchen
hübsch freundlich und adrett
oder heliozentrisch hässlich
dampf ablassen

in demokratien
gibt es keine hungersnöte
nur güterungerechtigkeit
als ob die mal pausiert
fortschritt für alle
propaganda der tat
freie radikale

helikopter oder drohne
funkferngesteuertes auto
leben im allgemeinen bild
berührung ist lächerlich
daheim schlagen die funken
herzrhythmusstörungen
humaner beziehungen
patriarchal befeuert
rädchen in fabriken
small talk on earth
alles ziemlich fad

roh romantik
demontiert die
natürliche ordnung
der emotionen
hui pfui
spießerei

[...]

 

Zu lesen und zu hören ist der vollständige Text unter https://www.sarah-ines.de/interview-anarchie

Verfasst von: Gunna Wendt (Interview)

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Foto: Gunna Wendt