Rezension zum Debütroman „Sauhund“ (2023) von Lion Christ
Flori träumt vom prallen Leben, vom Rampenlicht und von einem Mann fürs Leben an seiner Seite. Stattdessen gibt es in seinem Heimatdorf nichts als einen einsamen Getränkemarkt und Menschen, die so ganz anders ticken als der sympathische Protagonist in dem Debütroman des in Bad Tölz geborenen Autors Lion Christ. Sauhund (2023) folgt dem Protagonisten bei seiner Flucht vom Land mitten hinein in die blühende Schwulen-Szene Münchens der 1980er Jahre – zugleich die Zeit von AIDS und Razzien. Eine Dramatisierung des Romans läuft in der Spielzeit 2025/26 erneut bei den Münchner Kammerspielen.
*
Schlaghosen zusammenlegen im Wolfratshauser Loisach-Kaufhaus, Weinfeste im Nachbarort mit unerwartet hoher Getränkerechnung oder das Sonntagsessen zuhause mit der „Mam“ und dem „Bap“. Der 21-jährige Flori träumt von so viel mehr, als ihm das Oberland und sein Heimatort, das fiktive Sonnenkirchen im sehr realen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, bieten kann. Flori sehnt sich nach Abschluss seines Wehrersatzdienstes in einem Wolfratshauser Seniorenheim nach dem „echten Leben“, das ihm von den amerikanischen Serien auf der heimischen Mattscheibe und von den lebensbejahenden Songs von Gitte Haenning versprochen wurde: „Ich will nicht viel, ich will mehr, jetzt bin ich frei und will alles!“
Auch die (zunächst eher holprige) Annäherung mit dem Schreinergesellen Gregor und die zweisamen Stunden auf dem Rücksitz von dessen blauem Opel Kadett kann die Weltlust, die Flori zu zerreißen droht, nur kurz im Zaum halten. Die junge Liebe beflügelt Flori für eine kurze Zeit, doch der nicht geoutete Gregor fürchtet sich vor den sozialen Repressalien, die das Anderssein auf dem bayerischen Land in den 1980er-Jahren mit sich bringt. „Also bist na mein Freund jetzt?“, fragt ihn Flori nach einer gemeinsamen Nacht in einem Waldstück unweit ihres Heimatortes. „Oh mei. Na schön von mir aus“, antwortet ihm Gregor in herzerwärmender Grantler-Romantik, „aber sagen derfsts natürlich keinem.“
Flori wird seine idyllische Welt zu klein. Ohne seine Zeit mit Worten des Abschieds zu verschwenden, ergreift er die Flucht in die nahe gelegene Großstadt. In München angelangt, kommt er zunächst in der Wohnung seiner alten Berufsschulfreundin Theresa unter. Arbeitssuche oder ähnliche Belanglosigkeiten stehen aber nicht auf Floris Agenda.
Kopfüber wirft er sich stattdessen ins Nachtleben in den Clubs und Kneipen der florierenden Schwulenszene rund um den Münchner Gärtnerplatz – hauptfinanziert durch Theresas Einkommen selbstverständlich. Flori saugt die Fülle an Eindrücken, die ihm sein neues Leben präsentiert, auf wie ein Schwamm. Schillernde Diskotheken-Lichter, Travestiekünstler, die den Raum erfüllen wie ein Kronleuchter aus Samtstoff und geballtem Charisma, und durchgetanzte Nächte mit feschen Burschen in üppiger Brustbehaarung.
Die neue Krankheit AIDS
Doch zwischen all dem Glitzer und dem Rausch an neuen Erfahrungen hängen wie ein Damoklesschwert vier Buchstaben über Flori und jeder Interaktion mit dem männlichen Geschlecht: AIDS. Ein Wort, das auf den 364 Seiten des Romans kein einziges Mal explizit geschrieben, aber dennoch wie der Elefant im Raum steht. Die Angst vor der neuen Krankheit, die sich in den Vereinigten Staaten rasch ausbreitet, schwingt bei jeder von Floris meist flüchtigen Liebschaften immer im Hinterkopf mit.
„Die paar Fälle hier in München, das ist ja nicht mal der Rede wert“, versucht sich Flori die Gefahr kleinzureden. „Wir sind ja nicht bei den wahnsinnigen Amis drüben, sondern da wo der Himmel für alle Zeit friedlich blau weiß strahlen wird. Das hat sich der Franz Josef doch sogar vertraglich absichern lassen, oder?“
Doch in Wahrheit breitet sich die vom HI-Virus ausgelöste Immunerkrankung nach den ersten öffentlich bekannten Fällen im Jahr 1982 auch in der Bundesrepublik rapide aus und erreicht bis 1986 ihren Höhepunkt mit 6.000 jährlichen Neuinfektionen deutschlandweit. Eine besonders in Bayern sehr repressive Krankheitspolitik, und die inflammatorische Rhetorik von Mitgliedern der Staatsregierung heizt die Stimmung gegen Homosexuelle zunehmend auf. Statt Gesundheitsaufklärung zu leisten, wird ein Klima der Angst und der Ausgrenzung geschaffen. Razzien gegen Clubs und Bars der Münchner Schwulenszene gehören zur Tagesordnung. In sogenannten „rosa Listen“ werden neben polizeibekannten Drogensüchtigen vor allem homosexuelle Männer als „Ausscheidungsverdächtige“ in einem Register der Landespolizei vermerkt.
Doch inmitten der wachsenden Stigmatisierung organisieren sich auch die ersten Hilfestellen für Betroffene. 1984 wird in München die erste AIDS-Hilfe Deutschlands gegründet als Anlaufstelle für Erkrankte oder deren Angehörige. Daneben gibt es mit Institutionen wie dem „Rosa Telefon“ ehrenamtlich organisierte Hilfs- und Seelsorge-Angebote für Schwule in allen Lebenslagen.
Schonungslos authentisch
Lion Christ wirft mit Sauhund ein Licht auf die dunklen Seiten wie auf die Hoffnungsmomente im ersten AIDS-Jahrzehnt in der Landeshauptstadt. Und mittendrin steht ein junger Mann mit großen Träumen und einem oftmals noch größeren Talent, sich selbst im Weg zu stehen. Liebenswürdig und doch bei Zeiten maximal selbstsüchtig, tiefsinnig und dennoch oft hoffnungslos naiv. Aber vor allem immer eins – schonungslos authentisch.
Flori ist ein Protagonist, an dem man als Leser auch gerne mal verzweifelt, und ihm doch am Ende nichts sehnlicher wünscht als all das Glück der Welt zu finden, nach dem er so unnachgiebig strebt. Mitreißend ist vor allem die Sprache in Christs Debüt, mit einem Ich-Erzähler, der viel Witz und einen unverwechselbaren bayerischen Charme auf den Berg- und Talfahrten seines Lebenswegs entfaltet.
Sauhund ist ein Roman übers Verlorensein, über die Suche nach all den richtigen und all den falschen Orten zugleich und über einen unverbesserlichen Sauhund, der zuerst alle Umwege gehen muss, um schließlich zu sich selbst zu finden. Eine wunderbare Hommage an eine turbulente Zeit, in der Schmerz und Gloria so dicht beieinanderliegen und eine berührende Geschichte über die Emanzipation eines jungen Mannes, der sich weigert, daran zu zerbrechen. Denn wie der Titelheld letztendlich selbst erkennt: „Es steckt vielleicht ja doch so viel Neues und Liebes und Wildfremdes und irgendwie sogar Schönes in jedem einzelnen von uns kleinen Idioten.“
Lion Christ: Sauhund. Roman, Hanser Verlag 2023, 368 S., ISBN 978-3-446-27747-2
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Flori träumt vom prallen Leben, vom Rampenlicht und von einem Mann fürs Leben an seiner Seite. Stattdessen gibt es in seinem Heimatdorf nichts als einen einsamen Getränkemarkt und Menschen, die so ganz anders ticken als der sympathische Protagonist in dem Debütroman des in Bad Tölz geborenen Autors Lion Christ. Sauhund (2023) folgt dem Protagonisten bei seiner Flucht vom Land mitten hinein in die blühende Schwulen-Szene Münchens der 1980er Jahre – zugleich die Zeit von AIDS und Razzien. Eine Dramatisierung des Romans läuft in der Spielzeit 2025/26 erneut bei den Münchner Kammerspielen.
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Schlaghosen zusammenlegen im Wolfratshauser Loisach-Kaufhaus, Weinfeste im Nachbarort mit unerwartet hoher Getränkerechnung oder das Sonntagsessen zuhause mit der „Mam“ und dem „Bap“. Der 21-jährige Flori träumt von so viel mehr, als ihm das Oberland und sein Heimatort, das fiktive Sonnenkirchen im sehr realen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, bieten kann. Flori sehnt sich nach Abschluss seines Wehrersatzdienstes in einem Wolfratshauser Seniorenheim nach dem „echten Leben“, das ihm von den amerikanischen Serien auf der heimischen Mattscheibe und von den lebensbejahenden Songs von Gitte Haenning versprochen wurde: „Ich will nicht viel, ich will mehr, jetzt bin ich frei und will alles!“
Auch die (zunächst eher holprige) Annäherung mit dem Schreinergesellen Gregor und die zweisamen Stunden auf dem Rücksitz von dessen blauem Opel Kadett kann die Weltlust, die Flori zu zerreißen droht, nur kurz im Zaum halten. Die junge Liebe beflügelt Flori für eine kurze Zeit, doch der nicht geoutete Gregor fürchtet sich vor den sozialen Repressalien, die das Anderssein auf dem bayerischen Land in den 1980er-Jahren mit sich bringt. „Also bist na mein Freund jetzt?“, fragt ihn Flori nach einer gemeinsamen Nacht in einem Waldstück unweit ihres Heimatortes. „Oh mei. Na schön von mir aus“, antwortet ihm Gregor in herzerwärmender Grantler-Romantik, „aber sagen derfsts natürlich keinem.“
Flori wird seine idyllische Welt zu klein. Ohne seine Zeit mit Worten des Abschieds zu verschwenden, ergreift er die Flucht in die nahe gelegene Großstadt. In München angelangt, kommt er zunächst in der Wohnung seiner alten Berufsschulfreundin Theresa unter. Arbeitssuche oder ähnliche Belanglosigkeiten stehen aber nicht auf Floris Agenda.
Kopfüber wirft er sich stattdessen ins Nachtleben in den Clubs und Kneipen der florierenden Schwulenszene rund um den Münchner Gärtnerplatz – hauptfinanziert durch Theresas Einkommen selbstverständlich. Flori saugt die Fülle an Eindrücken, die ihm sein neues Leben präsentiert, auf wie ein Schwamm. Schillernde Diskotheken-Lichter, Travestiekünstler, die den Raum erfüllen wie ein Kronleuchter aus Samtstoff und geballtem Charisma, und durchgetanzte Nächte mit feschen Burschen in üppiger Brustbehaarung.
Die neue Krankheit AIDS
Doch zwischen all dem Glitzer und dem Rausch an neuen Erfahrungen hängen wie ein Damoklesschwert vier Buchstaben über Flori und jeder Interaktion mit dem männlichen Geschlecht: AIDS. Ein Wort, das auf den 364 Seiten des Romans kein einziges Mal explizit geschrieben, aber dennoch wie der Elefant im Raum steht. Die Angst vor der neuen Krankheit, die sich in den Vereinigten Staaten rasch ausbreitet, schwingt bei jeder von Floris meist flüchtigen Liebschaften immer im Hinterkopf mit.
„Die paar Fälle hier in München, das ist ja nicht mal der Rede wert“, versucht sich Flori die Gefahr kleinzureden. „Wir sind ja nicht bei den wahnsinnigen Amis drüben, sondern da wo der Himmel für alle Zeit friedlich blau weiß strahlen wird. Das hat sich der Franz Josef doch sogar vertraglich absichern lassen, oder?“
Doch in Wahrheit breitet sich die vom HI-Virus ausgelöste Immunerkrankung nach den ersten öffentlich bekannten Fällen im Jahr 1982 auch in der Bundesrepublik rapide aus und erreicht bis 1986 ihren Höhepunkt mit 6.000 jährlichen Neuinfektionen deutschlandweit. Eine besonders in Bayern sehr repressive Krankheitspolitik, und die inflammatorische Rhetorik von Mitgliedern der Staatsregierung heizt die Stimmung gegen Homosexuelle zunehmend auf. Statt Gesundheitsaufklärung zu leisten, wird ein Klima der Angst und der Ausgrenzung geschaffen. Razzien gegen Clubs und Bars der Münchner Schwulenszene gehören zur Tagesordnung. In sogenannten „rosa Listen“ werden neben polizeibekannten Drogensüchtigen vor allem homosexuelle Männer als „Ausscheidungsverdächtige“ in einem Register der Landespolizei vermerkt.
Doch inmitten der wachsenden Stigmatisierung organisieren sich auch die ersten Hilfestellen für Betroffene. 1984 wird in München die erste AIDS-Hilfe Deutschlands gegründet als Anlaufstelle für Erkrankte oder deren Angehörige. Daneben gibt es mit Institutionen wie dem „Rosa Telefon“ ehrenamtlich organisierte Hilfs- und Seelsorge-Angebote für Schwule in allen Lebenslagen.
Schonungslos authentisch
Lion Christ wirft mit Sauhund ein Licht auf die dunklen Seiten wie auf die Hoffnungsmomente im ersten AIDS-Jahrzehnt in der Landeshauptstadt. Und mittendrin steht ein junger Mann mit großen Träumen und einem oftmals noch größeren Talent, sich selbst im Weg zu stehen. Liebenswürdig und doch bei Zeiten maximal selbstsüchtig, tiefsinnig und dennoch oft hoffnungslos naiv. Aber vor allem immer eins – schonungslos authentisch.
Flori ist ein Protagonist, an dem man als Leser auch gerne mal verzweifelt, und ihm doch am Ende nichts sehnlicher wünscht als all das Glück der Welt zu finden, nach dem er so unnachgiebig strebt. Mitreißend ist vor allem die Sprache in Christs Debüt, mit einem Ich-Erzähler, der viel Witz und einen unverwechselbaren bayerischen Charme auf den Berg- und Talfahrten seines Lebenswegs entfaltet.
Sauhund ist ein Roman übers Verlorensein, über die Suche nach all den richtigen und all den falschen Orten zugleich und über einen unverbesserlichen Sauhund, der zuerst alle Umwege gehen muss, um schließlich zu sich selbst zu finden. Eine wunderbare Hommage an eine turbulente Zeit, in der Schmerz und Gloria so dicht beieinanderliegen und eine berührende Geschichte über die Emanzipation eines jungen Mannes, der sich weigert, daran zu zerbrechen. Denn wie der Titelheld letztendlich selbst erkennt: „Es steckt vielleicht ja doch so viel Neues und Liebes und Wildfremdes und irgendwie sogar Schönes in jedem einzelnen von uns kleinen Idioten.“
Lion Christ: Sauhund. Roman, Hanser Verlag 2023, 368 S., ISBN 978-3-446-27747-2