Rezension der Novelle „Lorna“ von Paul Maar
Paul Maars Novelle Lorna beginnt als amüsante Coming-of-Age-Geschichte, entwickelt sich zur bittersüßen Amour fou und endet als tragisches Liebes- und Lebensdrama. Sein scheinbar flapsiger, in Wahrheit jedoch kunstvoll lakonischer Stil sorgt für Humor und frappierende Wiedererkennungsmomente – für alle, die die Siebziger erlebt haben oder sich erinnern, wie sie sich einst ihre Zukunft ausmalten und feststellen müssen, was daraus geworden ist.
*
Bereits auf der ersten Seite steigt die Leselust mit jedem Satz: eine humorvolle Zeitreise in die Bundesrepublik der siebziger Jahre – ohne Internet, ohne Smartphones, ohne soziale Medien. Globalisierung, Datenkraken und Klimakatastrophen existierten nur in den düsteren Visionen vereinzelter Science-Fiction-Autoren. War das Leben damals besser? Waren die Menschen glücklicher?
Der jugendliche Ich-Erzähler Markus erinnert sich an seine Heimatstadt – und an eine Mitschülerin, in die alle Jungen verliebt sind: Lorna. Nicht nur bildhübsch, sondern auch eine begnadete Fußballerin. In Liebesdingen ist sie ebenso unkonventionell: Aus der Schar ihrer Verehrer wählt sie ausgerechnet einen Jungen mit Kinderlähmung, der hinkt. Nach dessen Unfalltod wendet sie sich – für Markus völlig überraschend – ihm zu.
Die erste große Liebe
Markus kann sein Glück kaum fassen. Zwischen den beiden stimmt vieles: Beide wuchsen etwa bei alleinerziehenden Müttern auf. Markus’ Vater hat die Familie für eine Geliebte verlassen, Lornas Vater – ein britischer Besatzungssoldat – ist nach Irland zurückgekehrt und hat dort eine neue Familie gegründet. Beide junge Menschen jobben im Tennisheim; bald verreisen sie gemeinsam, schmieden Zukunftspläne: Psychologie für sie, Kunsthochschule für ihn. Als in Lornas WG ein Zimmer frei wird, zieht Markus ein. Die Mitbewohnerin Katharina ist weniger begeistert – vor allem wegen der Geräuschkulisse aus dem Liebesnest.
Doch unter die pointiert gezeichneten Figuren und lebendigen Alltagsszenen mischt sich allmählich ein diffuses Unbehagen, wie eine dunkle Vorahnung. Immer deutlicher wird: Lorna hat nicht nur einen rebellischen Geist – sie ist psychisch krank, vermutlich bipolar. Betrunken verursacht sie einen Unfall, begeht Fahrerflucht, legt Feuer vor dem Zimmer ihrer Mitbewohnerin. Schließlich folgt die Einweisung in die Psychiatrie.
Drehtürpsychiatrie
Dort erhält sie statt einer echten Therapie nur Medikamente zur Ruhigstellung. Kein Wunder, dass sie bald ausreißt. Wahnvorstellungen, Kleptomanie und Pyromanie sind nur einige der Symptome, die immer wiederkehren. Für Markus besonders schmerzhaft: In ihren manischen Phasen sind ihre Gefühle für ihn und all ihre gemeinsamen Pläne wie ausgelöscht. Stattdessen schleppt sie wahllos Männer mit nach Hause – nun leidet nicht nur Katharina unter den nächtlichen Geräuschen. Markus steht ihr dennoch bei, so gut er kann – vergeblich.
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass die Geschichte eine tragisch-ironische Wendung nimmt – und in einer Katastrophe endet. Welche genau, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Nach dem letzten Satz bleibt das Gefühl, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.
Erzählen ohne Zeigefinger
Was diese nur 110 Seiten starke, aber umso kraftvollere Novelle besonders macht: Sie kommt ohne Schuldzuweisungen, ohne Ursachenforschung, ohne moralischen Zeigefinger aus. Gefühlskalte Väter, überforderte Mütter, Untreue, Eifersucht, Vertrauensbrüche, die berüchtigte Medikamenten- und Drehtürpsychiatrie – all das wird nicht erklärt, sondern erzählt, als wären es Naturphänomene: vorbeiziehende Wolken, unerwartete Gewitter, blinkende Sterne.
Warum also eine Novelle lesen, die bestürzt und traurig macht? Weil sie ein ehrliches Zeugnis ist. Laut Paul Maar basiert Lornas Geschichte auf dem Schicksal seiner Schwester Barbara – der die Novelle gewidmet ist. Die Wahrheit darf immer erzählt werden – auch wenn sie schmerzt. Lorna ist dabei weit mehr als ein realistisches Zeitdokument: Sie ist große Literatur. Selten wird auf so wenigen Seiten so poetisch verdichtet, wie das Leben und die Träume zweier junger Menschen scheitern.
Poesie dient keinem Zweck – sie existiert für sich selbst, durch ihre Schönheit und Kunstfertigkeit. Auch wenn es eine traurige Schönheit ist, die diese Novelle ausstrahlt. Lorna erinnert uns daran, dass unser Leben weit weniger von uns selbst bestimmt wird, als uns Ratgeber, Coaches und Social Media weismachen wollen.
Vielleicht ist Lorna ein Appell, sich einer fast vergessenen Haltung zu erinnern – und sie wieder zu pflegen: der Demut. Sie bedeutet, das Glück nicht in der Zukunft zu suchen oder von äußeren Umständen abhängig zu machen. Sondern den Moment wertzuschätzen.
Paul Maar: Lorna. Verlag S. Fischer 2025, 112 S.
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Paul Maars Novelle Lorna beginnt als amüsante Coming-of-Age-Geschichte, entwickelt sich zur bittersüßen Amour fou und endet als tragisches Liebes- und Lebensdrama. Sein scheinbar flapsiger, in Wahrheit jedoch kunstvoll lakonischer Stil sorgt für Humor und frappierende Wiedererkennungsmomente – für alle, die die Siebziger erlebt haben oder sich erinnern, wie sie sich einst ihre Zukunft ausmalten und feststellen müssen, was daraus geworden ist.
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Bereits auf der ersten Seite steigt die Leselust mit jedem Satz: eine humorvolle Zeitreise in die Bundesrepublik der siebziger Jahre – ohne Internet, ohne Smartphones, ohne soziale Medien. Globalisierung, Datenkraken und Klimakatastrophen existierten nur in den düsteren Visionen vereinzelter Science-Fiction-Autoren. War das Leben damals besser? Waren die Menschen glücklicher?
Der jugendliche Ich-Erzähler Markus erinnert sich an seine Heimatstadt – und an eine Mitschülerin, in die alle Jungen verliebt sind: Lorna. Nicht nur bildhübsch, sondern auch eine begnadete Fußballerin. In Liebesdingen ist sie ebenso unkonventionell: Aus der Schar ihrer Verehrer wählt sie ausgerechnet einen Jungen mit Kinderlähmung, der hinkt. Nach dessen Unfalltod wendet sie sich – für Markus völlig überraschend – ihm zu.
Die erste große Liebe
Markus kann sein Glück kaum fassen. Zwischen den beiden stimmt vieles: Beide wuchsen etwa bei alleinerziehenden Müttern auf. Markus’ Vater hat die Familie für eine Geliebte verlassen, Lornas Vater – ein britischer Besatzungssoldat – ist nach Irland zurückgekehrt und hat dort eine neue Familie gegründet. Beide junge Menschen jobben im Tennisheim; bald verreisen sie gemeinsam, schmieden Zukunftspläne: Psychologie für sie, Kunsthochschule für ihn. Als in Lornas WG ein Zimmer frei wird, zieht Markus ein. Die Mitbewohnerin Katharina ist weniger begeistert – vor allem wegen der Geräuschkulisse aus dem Liebesnest.
Doch unter die pointiert gezeichneten Figuren und lebendigen Alltagsszenen mischt sich allmählich ein diffuses Unbehagen, wie eine dunkle Vorahnung. Immer deutlicher wird: Lorna hat nicht nur einen rebellischen Geist – sie ist psychisch krank, vermutlich bipolar. Betrunken verursacht sie einen Unfall, begeht Fahrerflucht, legt Feuer vor dem Zimmer ihrer Mitbewohnerin. Schließlich folgt die Einweisung in die Psychiatrie.
Drehtürpsychiatrie
Dort erhält sie statt einer echten Therapie nur Medikamente zur Ruhigstellung. Kein Wunder, dass sie bald ausreißt. Wahnvorstellungen, Kleptomanie und Pyromanie sind nur einige der Symptome, die immer wiederkehren. Für Markus besonders schmerzhaft: In ihren manischen Phasen sind ihre Gefühle für ihn und all ihre gemeinsamen Pläne wie ausgelöscht. Stattdessen schleppt sie wahllos Männer mit nach Hause – nun leidet nicht nur Katharina unter den nächtlichen Geräuschen. Markus steht ihr dennoch bei, so gut er kann – vergeblich.
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass die Geschichte eine tragisch-ironische Wendung nimmt – und in einer Katastrophe endet. Welche genau, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Nach dem letzten Satz bleibt das Gefühl, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.
Erzählen ohne Zeigefinger
Was diese nur 110 Seiten starke, aber umso kraftvollere Novelle besonders macht: Sie kommt ohne Schuldzuweisungen, ohne Ursachenforschung, ohne moralischen Zeigefinger aus. Gefühlskalte Väter, überforderte Mütter, Untreue, Eifersucht, Vertrauensbrüche, die berüchtigte Medikamenten- und Drehtürpsychiatrie – all das wird nicht erklärt, sondern erzählt, als wären es Naturphänomene: vorbeiziehende Wolken, unerwartete Gewitter, blinkende Sterne.
Warum also eine Novelle lesen, die bestürzt und traurig macht? Weil sie ein ehrliches Zeugnis ist. Laut Paul Maar basiert Lornas Geschichte auf dem Schicksal seiner Schwester Barbara – der die Novelle gewidmet ist. Die Wahrheit darf immer erzählt werden – auch wenn sie schmerzt. Lorna ist dabei weit mehr als ein realistisches Zeitdokument: Sie ist große Literatur. Selten wird auf so wenigen Seiten so poetisch verdichtet, wie das Leben und die Träume zweier junger Menschen scheitern.
Poesie dient keinem Zweck – sie existiert für sich selbst, durch ihre Schönheit und Kunstfertigkeit. Auch wenn es eine traurige Schönheit ist, die diese Novelle ausstrahlt. Lorna erinnert uns daran, dass unser Leben weit weniger von uns selbst bestimmt wird, als uns Ratgeber, Coaches und Social Media weismachen wollen.
Vielleicht ist Lorna ein Appell, sich einer fast vergessenen Haltung zu erinnern – und sie wieder zu pflegen: der Demut. Sie bedeutet, das Glück nicht in der Zukunft zu suchen oder von äußeren Umständen abhängig zu machen. Sondern den Moment wertzuschätzen.
Paul Maar: Lorna. Verlag S. Fischer 2025, 112 S.