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30.05.2025, 10:42 Uhr
Abraham Katz
Rezensionen

Kritische Revision des Romans „Verzauberte Vorbestimmung“ (2025) von Jonas Lüscher

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© Hanser Verlag

Von der industriellen Revolution, dem Ersten Weltkrieg, der Mondlandung, einer Covid-19-Erkrankung, dem Palast eines französischen Postboten bis zur Liebe zwischen einer Comedienne und einer Androidin in der Zukunft. Jonas Lüschers neuer Roman Verzauberte Vorbestimmung ist für viele Rezensenten ein „erzählerischer Triumph“ (FAZ). In seinem Roman konstruiert Lüscher einen ambitionierten Erzählbogen, dessen hermetische Sprache das Lesen für Abraham Katz jedoch zu einem beschwerlichen Parforceritt macht.

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Der Anfang ist vielversprechend. Eine nicht näher bestimmte Erzählerin, Aimé, berichtet einem Unbekannten stockend von einem Soldaten und dem elenden Leben und grausamen Sterben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Ihre Erzählung bricht ähnlich unvermittelt ab, wie sie angefangen hat. Wenn Aimé einen zweiten Soldaten einführt, wirkt es, als beobachte man einen Roman bei seiner Entstehung. Als sei noch offen, wessen Geschichte erzählt werden soll. Oder als sei er eine Assoziationskette oder ein Alptraum, dessen Gestalten gemäß einer bisher rätselhaften Logik kommen und gehen. 

Ein dritter Soldat ist Algerier. Er hat sich beim französischen Militär verpflichtet, ohne zu ahnen, worauf er sich eingelassen hat. Wieder sind die Beschreibungen des Vegetierens und Verreckens in den Schützengräben sehr wirkungsvoll. Der Erzählton erinnert an Soldatenstiefel, die synchron zu Marschmusik stampfen, und Panzer, die alles plattwalzen oder niederschießen, was ihnen vor die Ketten kommt. Nach einem der berüchtigten Giftgasangriffe, dessen überraschte, hilflose Opfer quälend genau beschrieben werden, hat der Algerier genug vom sinnlosen Militärdienst und desertiert.

Ein paar Seiten später ist sowohl der sympathische Deserteur verschwunden als auch die Erzählerin. Auch der Erste Weltkrieg war nur eine Mini-Episode in dem Roman, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Die Schauplätze sind Mitteleuropa, Nordafrika sowie der Mond. Der Stellungskrieg ist passé. – Das Dröhnen, Donnern und Stampfen der Sprache geht unvermindert weiter.

Der Ich-Erzähler und Peter Weiss

Erst einmal geht es weiter in Frankreich auf den Spuren von Peter Weiss. Auf dessen Werk und assoziative Arbeitsweise beruft sich der Ich-Erzähler hartnäckig. Der deutsch-schwedische Schriftsteller und Maler schrieb 1960 den Essay „Der große Traum des Briefträgers Cheval“. Über einen Briefträger, der in Jahrzehnte langer Fleißarbeit zigtausend Steine gesammelt und einen monströs-bizarren Gebäudekomplex gebaut hat, sein „Palais idéal“.

Der Ich-Erzähler besucht das historische Denkmal wie hunderttausende Touristen. Bei seinen Reflexionen bleibt offen, ob es sich bei dem Palastkomplex um ein Kunstwerk handelt oder die Stein gewordene Fantasie eines ehrgeizigen Kleinbürgers, also „Westentaschen Pharaos“. Überzeugt ist der Ich-Erzähler jedoch davon, dass er einen Irrtum in einer Peter-Weiss-Biografie gefunden hat. 

Weitere Assoziationen führen zu den Maschinenstürmern. Einer gewalttätigen Protestbewegung gegen die katastrophalen sozialen Missstände während der industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts. Auf die Dauer sind es nicht nur die überlangen Bandwurmsätze, die das Lesen erschweren. Zu oft betont der Autor, dass er viel recherchiert habe. Doch anstatt die Ergebnisse literarisch zu verarbeiten, stellt er Unmengen von Details wie Trophäen aus als Beweise seines Fleißes. Oder sind die Aufzählungen das Symptom eines zwanghaften Sammelticks? Zum Beispiel beim Überfall einer Gruppe Maschinenstürmer auf die Werkstatt eines Schmieds in England: 

Enoch rang zwar seine schwieligen Hände, aber ließ sich doch von der Schar Entschlossener, deren Entschlossenheit von ihren rußig geschminkten Gesichtern unterstrichen wurde, in seine Werkstatt schubsen, wo man sich seiner Hämmer bemächtigte, und zwar alle, die zu finden waren, der Kreuzschlaghämmer, der Vorschlaghämmer und der Zuschlaghämmer, aber auch der Treib-, Ball-, und Flachhämmer, des Kehlhammers, des Schlichthammers und des Setzhammers, selbst die kleineren Schlitz- und Durchschlaghämmer wurden eingesammelt.

Die Aufzählung der Hammersorten verstärkt den Verdacht, dass einem hier viele Wörter und extra lange Sätze unerbittlich an den Kopf gehämmert werden. Man fühlt sich an einen Vortrag erinnert, bei dem der Referent zeigen will, wie viel Zeit und Mühen ihn das Schreiben gekostet haben. Oder an die Sucht nach Vollständigkeit und Totalität von Juristen- und Beamtenprosa: Auf gar keinen Fall darf es ein winziges Detail oder eine Ausnahme geben, die nicht erwähnt worden ist. Oder einen winzigen Spalt, durch den eine spontane Empfindung sickern könnte, ein Lufthauch oder ein Lichtstrahl. 

Ein weiterer Erzählstrang windet sich ambitioniert zur ersten Mondlandung im Jahr 1969. Der Todesmarsch von Häftlingen des KZ-Außenlagers Schwarzheide im Jahr 1945 wird ebenfalls eindrucksvoll mahnend, als auch umständlich detailversessen nacherzählt. 

Die Urszene des Romans

Erst spät erschließen sich vage Gemeinsamkeiten aller Stränge und Reflexionen. Wenn der Ich-Erzähler die „Urszene“ des Romans preisgibt. Die musste der Autor nicht recherchieren, da er sie selbst erlebt hat: Im Jahr 2020 erkrankte Jonas Lüscher so schwer an Covid-19, dass er in ein künstliches Koma versetzt und wochenlang beatmet werden musste. Sein Überleben verdankt er der modernen, nicht selten geschmähten Apparatemedizin. Alles, was er konkret über diese Erkrankung geschrieben hat, ist gut beobachtet, scharf analysiert, fesselnd und authentisch. Es hätte ein großartiger Essay werden können. 

Doch je weiter der Autor sich von dieser Todeserfahrung und seiner langsamen Genesung entfernt, desto mehr wirkt der Text manieriert und weit hergeholt. Überschattet und erdrückt von den guten Vorsätzen, frei zu assoziieren, zu träumen, zu reflektieren und historische Ereignisse nachzuerzählen. Offensichtlich mit dem Ziel, ein kryptisches, philosophisch-literarisches Kunstwerk zu schreiben. 

Für dieses ambitionierte Vorhaben scheinen Vergangenheit, Gegenwart, Europa und der Mond nicht zu genügen. Bei einer Reise nach Ägypten in eine Planstadt nahe Kairo imaginiert der Ich-Erzähler ein Kennenlernen und eine Liebesbeziehung in der Zukunft. Das Paar besteht aus einer Comedienne und einer geheimnisvollen Zuschauerin. Die Zuschauerin ist eine Androidin, würde jedoch lieber ein Mensch sein. 

Um die Grauen des Ersten Weltkriegs zu beschwören, eignet sich der bombastische, hermetische Sprachstil durchaus. Die überlangen, schwerfälligen Satzkonstruktionen haben eine ähnlich einschüchternde Wirkung wie das Rattern von Maschinengewehren, das Donnern von Feldhaubitzen und das Explodieren von Tellerminen. Bei der Beschreibung seiner Covid-19-Erkrankung überzeugt der Ich-Erzähler – wie gesagt – ebenfalls. Doch wenn er Humor, Gefühle oder sogar Liebe beschreiben will, bleiben das pure Behauptungen. 

Nach 344 Seiten ist klar: Hauptsächlich interessiert sich der Ich-Erzähler für sich und sein Leid. Mit einer kräftigen Portion Selbstironie könnte so ein Narzissmus interessant sein. Doch anstatt sich selbst zu hinterfragen, fährt er prätentiös den „Kanon des Westens“ auf und altägyptische Mythologie: 

Die Zerrissenheit, das Zerfallen, die Auflösung, in der ich mich befand, war nicht mehr zu leugnen, nicht mehr zu ignorieren, und zeigte sich erst recht in meinen disparaten Gedankengängen; Abendländer, der ich war, gefangen in meiner humanistischen Bildung, meine Vorstellungskraft eingehegt im Kanon des Westens, interpretierte ich meinen Zustand ganz falsch, klammerte mich an Dante, glaubte mich bereits tot im Schattenreich, las die Chimäre auf meiner Schulter, trotz des Fehlens eines Jungfrauenantlitzes, als solches ging die sorgenvolle Schriftstellermine nicht durch, als Harpyie, dich mich zur Strafe für die Müdigkeit des Herzens, für meine Todesbefallenheit, die mich zu dornigem Strauchwerk hatte werden lassen, ewiglich quälte, sich von meinen Blättern nährte, und mit ihren Krallen meine Borken schindete, vergaß darüber, was ich gestern Abend erst über die Todesvorstellung der alten Ägypter gelernt hatte, fühlte mich in meiner Denkgemeinschaft behaglich wohl, bis ich das Mumienmuseum an der Corniche betrat und dort bald, durch Faksimiles von Papyrusfragmenten, die an den Wänden hingen, aus dieser Behaglichkeit gerissen wurde, weil sie mir zweifelsfrei zeigten, womit ich es zu tun hatte, denn ich begegnete dort jenem Wesen, das mir seit meiner Zugfahrt Gesellschaft leistete, dem menschengesichtigen Falken, als der auf den Papyri des Ba, dieser flatterhafte Seelenteil symbolisiert wurde, wie er über einem schattenhaften Leichnam schwebte fast so, wie ich es in der letzten Nacht durchlebt hatte, und dieses fast war das entscheidende Wort, denn ich begriff in jenem Moment, welche Freiheit ich in meiner Zerrissenheit gefunden hatte, war ich doch keiner Tradition mehr verpflichtet und konnte fortan alles, was mit mir geschah, deuten, wie es mir gefiel, und bei dieser Erkenntnis ereignete sich eine helle Explosion in meinem Schädel, die mich, es fehlte mir ein Wort in meiner Sprache, und ich griff auf das Englische zurück, ganz und gar lightheaded machte, eine Diagnose, die ich meiner neu entdeckten Freiheit zuschrieb, die aber jeder Arzt und vermutlich auch jeder vernünftige Patient als fiebrig bezeichnet hätte und tatsächlich war es, vermutlich, weil ich mich in der Allee der Sphingen verausgabt hatte, schlicht die Grippe, die sich zurück meldete.

So ein Satzungetüm zeigt wie eine kleine Pointe durch bandwurmartige Nebensätze, Attribute und Appositionen bis zur Unverständlichkeit verschüttet wird. Sich durch so einen pseudo-intellektuellen Popanz zu schlagen und am Ende nicht mehr erfahren, als dass der Ich-Erzähler nach einer überstandenen Covid-19-Infektion wieder Symptome hat, ist ernüchternd. Man hat genug von zwanghaft ausufernden Reflexionen, in denen der Ich-Erzähler mit seinem körperlichen und geistigen Unwohlsein kokettiert.

Tonnenschwer und todernst

Oder soll in dem grotesken Missverhältnis zwischen Inhalt und metastasierenden Satzkonstruktionen eine ironische Note schimmern? Könnte es sein, dass der Autor sich selbst und seine Bildungshuberei parodiert? – Ironie und Humor benötigen Leichtigkeit und die Fähigkeit, sich selbst nicht ganz ernst zu nehmen. Beides Merkmale, nach denen man sich vergeblich sehnt. Verzauberte Vorbestimmung ist tonnenschwer und todernst.

Verbirgt sich in diesem komplizierten Text eine komplexe Aussage? Was sind die Ergebnisse dieses syntaktischen Gewaltausbruchs? Sie sind überschaubar, liegen zwischen bekannt und banal: Krieg ist grausam. Faschismus ist verabscheuungswürdig. Technischer Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich. Am Kapitalismus gibt es viel auszusetzen. Das Wichtigste ist Liebe. Alles hängt irgendwie zusammen. Alles bedeutet etwas oder sein Gegenteil.

Wer aus so vielen kulturellen, historischen, philosophischen und literarischen Rohren ballert, erzeugt nicht nur dumpfes Getöse und viele Querschüsse. Manchmal trifft er ins Schwarze: Der mit Fleiß, Willenskraft und zigtausenden Fundsteinen erbaute Palast des Briefträgers Cheval ist ein ähnlich gigantomanisches, zweifelhaftes Projekt wie dieser Roman. Zwischendurch hat sogar der Autor selbst erkannt: „Je größer die Worte, desto kleiner der Geist“. Auf der letzten Seite hat er sogar festgestellt: „Zu viel Wissen, zu wenig Leben, das schien mir eine ganz gute Beschreibung meiner selbst.“ Man möchte ergänzen: zu viel Ehrgeiz, zu wenig Entspannung. Zu viel Schwadronieren, zu wenig Erzählen.

 

Jonas Lüscher: Verzauberte Verzückung, Hanser Verlag 2025, 352 S., ISBN 978-3-446-28364-0

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