Rezension zu Christine Wunnickes Roman „Wachs“
Der neueste Roman Wachs von Christine Wunnicke (Berenberg Verlag 2025) handelt von einer verwegen schönen Liebesgeschichte im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die Autorin Joana Osman hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Ein erfrischend kurzer historischer Roman
Marie Biheron seziert für ihr Leben gern Leichen. Und Madeleine Basseporte malt für ihr Leben gern Blumen. Sie tun dies im vorrevolutionären Paris des 18. Jahrhunderts, lernen sich kennen und lieben einander. Mitten in der Zeit der Aufklärung spielt Christine Wunnickes erfrischend kurzer historischer Roman, der alles beinhaltet: Wissenschaft, Wahnsinn, Obsession und Revolution.
Marie, ein Mädchen mit forensischem Blick und einem leicht zwanghaften Hang zur Exaktheit, beginnt früh, sich für Anatomie zu interessieren – allerdings nicht aus einer morbiden Neigung, sondern aus echtem Erkenntnisdrang. In der Kunstschule von Madeleine Basseporte soll sie als Mädchen lernen, Blumen zu zeichnen – und malt stattdessen Innereien. Die deutlich ältere Madeleine, der Blumen immer schon näher standen als Menschen, ist von Marie ebenso fasziniert wie Marie von toten Körpern.
Als Hofmalerin im Jardin du Roi hat Madeleine Basseporte mit Menschen nur so viel zu tun, wie sie es gerade noch erträgt – für Marie jedoch macht sie eine Ausnahme.
„Weil wir Frauen sind“
Viel der Geschichte wird aus Madeleines Perspektive erzählt: Mit morbider Faszination beobachtet sie die junge Marie bei ihren Bemühungen, an Leichen zu kommen – um sie zu sezieren, versteht sich. Mit vierzehn Jahren schleicht sich Marie in Soldatenbaracken, weil sie dem Gerücht aufsitzt, wo Soldaten sind, seien auch Leichen. Später holt sie ihre Anschauungsmodelle – wie jeder andere Anatom in Paris – aus der Seine. Ausgestattet mit Skalpellen und Besteck öffnet sie in ihrem winzigen Zimmer die toten Körper unzähliger Pariserinnen und Pariser, mit Madeleine als einziger Zeugin – so lange bis sie zum „besten Anatom von Paris“ geworden ist.
Doch damit endet ihre Karriere nicht, sie will Organe nachbilden. Mit Gips erstellt sie Gussformen – doch nichts will funktionieren. Madeleine vermerkt, wie verzweifelt Marie bei ihren misslungenen Versuchen wirkt: „Warum bringt mir das keiner bei?“ klagt sie.
Madeleine liefert die Antwort: „Weil wir Frauen sind.“
Es sind Stellen wie diese, an denen präzise durchblitzt, dass Wachs ein zutiefst feministischer Roman ist – ohne das Thema je zur Sprache zu bringen.
Madeleine und Marie leben in einer Welt, in der Frauen nie als denkende Wesen anerkannt werden, in denen Frauen jede Möglichkeit zu lernen verwehrt wird, sobald sie über das rein Dekorative hinausgeht. Und so schaffen sich beide Frauen ihre Nischen eben selbst – als Lernende, Lehrende und als Liebende.
Die Sprache der Liebe als Sprache der kleinen Gesten
Wunnicke zeichnet die Beziehung zwischen Marie und Madeleine nicht plakativ – sie ist eher unspektakulär und ein wenig rätselhaft. Romantik ist jedoch nicht die Sache von Madeleine und Marie, die Nähe der beiden überintelligenten Frauen zeigt sich eher in den kleinen Gesten, etwa wenn Marie Madeleine einmal die Milz zeigt oder für sie einen Nierenstein abgipst.
Überhaupt das Gipsen – Marie merkt bald, dass sie keine Formen braucht – sie kann die Organe auswendig nachbilden – aus Wachs, Talg und Unschlitt formt sie Herzen, Bauchspeicheldrüsen, Hirne und Uteri – und lädt die Crème de la Crème der französischen High Society ein, bei ihr Anatomiestunden zu nehmen. Bald wird die Anatomieschule von Marie Biheron zum Place-To-Be für Dichter und Denker wie den zerstreuten Denis Diderot und für junge Französinnen aus gutem Hause, die ihren Stickereien und Zeichenkursen müde geworden sind. Organe sind der letzte Schrei und so pilgern Scharen von jungen Frauen zu Marie, um anhand von Wachsmodellen (und auch an echten Leichen) zu lernen, wie der menschliche Körper funktioniert. Es ist dies ein eindrückliches Beispiel weiblicher Selbstermächtigung, die aber im Roman ganz unspektakulär, fast beiläufig erzählt wird und gerade deswegen umso kraftvoller wirkt.
Ein zutiefst feministischer Roman
Wunnickes Roman ist kein feministisches Manifest, aber genau deshalb feministisch: Er zeigt zwei Frauen, die sich schlicht nicht dafür interessieren, was die Gesellschaft von ihnen will. Die durch ihre Skurrilität glänzen, ihre Eigenheiten ausstellen wie andere ihre Erfolge – und dabei geradezu trotzig das tun, was sie wollen: denken, forschen, sich einrichten im eigenen Kopf.
Der Ton des Romans ist unterkühlt, lakonisch und hochpräzise wie das Skalpell eines Anatoms. Man könnte meinen, er habe selbst etwas Wächsernes – bis man merkt, wie oft man beim Lesen grinst, weil hinter der scheinbar spröden Sprache ein bitterkomischer Humor lauert. Nichts wird überdramatisiert, alles wirkt beiläufig – und gerade dadurch tief. Der Tod, die Liebe, die Lust am Wissen: alles fließt ineinander wie warme Wachsmasse.
Wachs ist ein historischer Roman, der ohne Pathos auskommt. Kein Kostümdrama, keine dampfenden Teetassen, sondern eine sachte, skurrile, leise Exploration – ein Plädoyer für das Denken gegen den Strich.
Christine Wunnike: Wachs. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2025, 187 S., ISBN 978-3-9113-2703-9
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Der neueste Roman Wachs von Christine Wunnicke (Berenberg Verlag 2025) handelt von einer verwegen schönen Liebesgeschichte im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die Autorin Joana Osman hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Ein erfrischend kurzer historischer Roman
Marie Biheron seziert für ihr Leben gern Leichen. Und Madeleine Basseporte malt für ihr Leben gern Blumen. Sie tun dies im vorrevolutionären Paris des 18. Jahrhunderts, lernen sich kennen und lieben einander. Mitten in der Zeit der Aufklärung spielt Christine Wunnickes erfrischend kurzer historischer Roman, der alles beinhaltet: Wissenschaft, Wahnsinn, Obsession und Revolution.
Marie, ein Mädchen mit forensischem Blick und einem leicht zwanghaften Hang zur Exaktheit, beginnt früh, sich für Anatomie zu interessieren – allerdings nicht aus einer morbiden Neigung, sondern aus echtem Erkenntnisdrang. In der Kunstschule von Madeleine Basseporte soll sie als Mädchen lernen, Blumen zu zeichnen – und malt stattdessen Innereien. Die deutlich ältere Madeleine, der Blumen immer schon näher standen als Menschen, ist von Marie ebenso fasziniert wie Marie von toten Körpern.
Als Hofmalerin im Jardin du Roi hat Madeleine Basseporte mit Menschen nur so viel zu tun, wie sie es gerade noch erträgt – für Marie jedoch macht sie eine Ausnahme.
„Weil wir Frauen sind“
Viel der Geschichte wird aus Madeleines Perspektive erzählt: Mit morbider Faszination beobachtet sie die junge Marie bei ihren Bemühungen, an Leichen zu kommen – um sie zu sezieren, versteht sich. Mit vierzehn Jahren schleicht sich Marie in Soldatenbaracken, weil sie dem Gerücht aufsitzt, wo Soldaten sind, seien auch Leichen. Später holt sie ihre Anschauungsmodelle – wie jeder andere Anatom in Paris – aus der Seine. Ausgestattet mit Skalpellen und Besteck öffnet sie in ihrem winzigen Zimmer die toten Körper unzähliger Pariserinnen und Pariser, mit Madeleine als einziger Zeugin – so lange bis sie zum „besten Anatom von Paris“ geworden ist.
Doch damit endet ihre Karriere nicht, sie will Organe nachbilden. Mit Gips erstellt sie Gussformen – doch nichts will funktionieren. Madeleine vermerkt, wie verzweifelt Marie bei ihren misslungenen Versuchen wirkt: „Warum bringt mir das keiner bei?“ klagt sie.
Madeleine liefert die Antwort: „Weil wir Frauen sind.“
Es sind Stellen wie diese, an denen präzise durchblitzt, dass Wachs ein zutiefst feministischer Roman ist – ohne das Thema je zur Sprache zu bringen.
Madeleine und Marie leben in einer Welt, in der Frauen nie als denkende Wesen anerkannt werden, in denen Frauen jede Möglichkeit zu lernen verwehrt wird, sobald sie über das rein Dekorative hinausgeht. Und so schaffen sich beide Frauen ihre Nischen eben selbst – als Lernende, Lehrende und als Liebende.
Die Sprache der Liebe als Sprache der kleinen Gesten
Wunnicke zeichnet die Beziehung zwischen Marie und Madeleine nicht plakativ – sie ist eher unspektakulär und ein wenig rätselhaft. Romantik ist jedoch nicht die Sache von Madeleine und Marie, die Nähe der beiden überintelligenten Frauen zeigt sich eher in den kleinen Gesten, etwa wenn Marie Madeleine einmal die Milz zeigt oder für sie einen Nierenstein abgipst.
Überhaupt das Gipsen – Marie merkt bald, dass sie keine Formen braucht – sie kann die Organe auswendig nachbilden – aus Wachs, Talg und Unschlitt formt sie Herzen, Bauchspeicheldrüsen, Hirne und Uteri – und lädt die Crème de la Crème der französischen High Society ein, bei ihr Anatomiestunden zu nehmen. Bald wird die Anatomieschule von Marie Biheron zum Place-To-Be für Dichter und Denker wie den zerstreuten Denis Diderot und für junge Französinnen aus gutem Hause, die ihren Stickereien und Zeichenkursen müde geworden sind. Organe sind der letzte Schrei und so pilgern Scharen von jungen Frauen zu Marie, um anhand von Wachsmodellen (und auch an echten Leichen) zu lernen, wie der menschliche Körper funktioniert. Es ist dies ein eindrückliches Beispiel weiblicher Selbstermächtigung, die aber im Roman ganz unspektakulär, fast beiläufig erzählt wird und gerade deswegen umso kraftvoller wirkt.
Ein zutiefst feministischer Roman
Wunnickes Roman ist kein feministisches Manifest, aber genau deshalb feministisch: Er zeigt zwei Frauen, die sich schlicht nicht dafür interessieren, was die Gesellschaft von ihnen will. Die durch ihre Skurrilität glänzen, ihre Eigenheiten ausstellen wie andere ihre Erfolge – und dabei geradezu trotzig das tun, was sie wollen: denken, forschen, sich einrichten im eigenen Kopf.
Der Ton des Romans ist unterkühlt, lakonisch und hochpräzise wie das Skalpell eines Anatoms. Man könnte meinen, er habe selbst etwas Wächsernes – bis man merkt, wie oft man beim Lesen grinst, weil hinter der scheinbar spröden Sprache ein bitterkomischer Humor lauert. Nichts wird überdramatisiert, alles wirkt beiläufig – und gerade dadurch tief. Der Tod, die Liebe, die Lust am Wissen: alles fließt ineinander wie warme Wachsmasse.
Wachs ist ein historischer Roman, der ohne Pathos auskommt. Kein Kostümdrama, keine dampfenden Teetassen, sondern eine sachte, skurrile, leise Exploration – ein Plädoyer für das Denken gegen den Strich.
Christine Wunnike: Wachs. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2025, 187 S., ISBN 978-3-9113-2703-9