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Karl Theodor

... unterwegs mit seinem Koffer aus Berlin, macht er auch gerne mal Umwege, wenn es sein muss.

„Das ist der schmerzlichste Schritt meines Lebens“, sagte er und schaute ernst. Beinahe gequält schaute er, während er einen Schritt nach vorne machte. Und noch einen zur Seite. Etwas hölzern, bis er beim Spiegel zum Stehen kam. Die Enge der Beinkleider sei es, die ihm aufs unangenehmste, bis in die empfindlichsten Bereiche hinein, Beklemmungen bereite. Noch einmal blickte er in den Spiegel. Anklagend, vorwurfsvoll. Bevor er federnden Schrittes in der Umkleide verschwand. Bis zur Stunde – und er betonte “bis zur Stunde” – trage er Anzüge Berliner Noblesse und Weltläufigkeit. Dies zu ändern sei ein Gebot der Lage, raunte er hinter dem geschlossenen Vorhang hervor. Dies aber mit dem der Situation angemessenen Bedacht zu tun, sei seine Absicht. Aus eben jenem Grunde sei er nun hier und in keinster Weise gewillt – er betonte “in keinster Weise” –, unnötig Zeit verstreichen zu lassen, um die Sache zu erledigen. Der Verkäufer schaffte einen neuen Anzug herbei. Dunkelblau. Genervt schüttelte der Kunde den Kopf. Lokalkolorit, brauche er, ein Zeichen der Verbundenheit, ein Statement der Identifikation, wozu er extra zu Lodenfrey gekommen wäre – er betonte “extra” –, so dass es doch möglich sein müsste, in diese Richtung weiter voranzuschreiten. Der Verkäufer schaute irritiert, schob drei komplette Kleiderstangen heran, um noch eine vierte zu holen, die ein Stück weiter abseits gestanden hatte. Der Kunde nickte, zog zwei, drei Anzüge heraus, drehte sie hin und her, bevor er sich entschloss, sie anzuprobieren. Kritisch beäugte er ihren Sitz, ihren Stoff und ihre Machart. Prüfte und drehte sich. Schritt vor und wieder zurück. Vor dem Spiegel. Lange. Wohl niemand wird leicht, geschweige denn leichtfertig zu einer Entscheidung kommen, in einer Sache, die nicht nur das eigene Wohl und Wehe, sondern im schlimmsten Falle gar zu Lasten der Vertrauten und Anvertrauten werde gehen müssen. Denn wie könne man sich wohlfühlen in seiner Haut, und nichts anderes stelle ein gut sitzender Anzug eben dar, wenn er nicht aufs Vortrefflichste passe. Noch einmal schritt er den Gang entlang. Wippend, federnd. Noch einmal kam er zum Spiegel zurück. Stellte sich auf. Gestikulierte. Strich sich durchs Haar, das gegelte. Nickte, wartete, als könnte er die Entscheidung reifen sehen, die sich langsam, aber doch stetig anzubahnen schien. Zwei, ach was, drei Anzüge ließ er sich einpacken, eo ipso er davon ausging, dass sich die Angelegenheit in München etwas hinziehen werde können. Mit dem gebotenen Anstand hatte er entschieden, sogar mit Weitsicht, die niemand ihm in Abrede stellen konnte und überhaupt hätte stellen wollen. Raschen Fußes schritt er hinaus. Die Einkaufstasche an seiner Hand baumelnd. Von der Maffeistraße bog er direkt in die Theatinerstraße ein, die Gottlob bar jeder Wohlfeilheit ein Maß an Exklusivität ausstrahlte, das ihn Geschäfte wie Passanten gleichermaßen wohlwollend betrachten ließ. Regelmäßig klackte der Rollkoffer, den er beharrlich hinter sich herzog. Der Koffer, in dem alles Wichtige und aufs Engste mit ihm Verbundene aus Berlin Platz gefunden hatte. Am Odeonsplatz holperte der Koffer über das Kopfsteinpflaster. Der Minister – a.D. – grüßte Passanten, die ihm freundlich zuwinkten, trotz allem. Kurz hielt er inne, um den Blick bis zum Siegestor hinaufgleiten zu lassen. Diese Ludwigstraße wird er den Trachtenumzug begleiten. Jedes Jahr zur Wiesn. Ende September. In einer Kutsche wird er sitzen. Den Leuten winken. Links und rechts. Dem Volk. Jubeln werden sie. Wie immer. Warum sollten sie nicht jubeln? Sie haben immer gejubelt. Er nickte. Ja, so wird es sein. Wenn auch nur für kurze Zeit, um die ihm nötige und der Sache angemessene Frist zu gewährleisten. Im Lauf der Dinge wird es liegen und auch liegen müssen, dass die Geschicke dieses Mannes, so sehr sie jetzt und in diesem Moment hier an diesem Orte liegen mögen, sich von den Niederungen des zwangsläufig Provinziellen werden befreien müssen. Unwidersprochen bleibt die Ambition zurück in den Olymp Berliner Geschicke. Man darf, wenn dem so ist, kein Mitleid erwarten. Nicht von ihm. Hier schon gar nicht. Sein Blick geht hinüber zur Staatskanzlei, wie sie unnahbar vor ihm liegt. Holpernd poltert der Rollkoffer über die Kieswege des Hofgartens. Zäh lässt er sich ziehen, dieser Koffer, als sträube er sich gegen das nahende Ziel. Mit der ihm eigenen Kraft zieht er ihn voran, beharrlich, stur, sein Blick starr auf die Fassade gerichtet. Horst steht am Fenster. Er hat ihn lange kommen sehen. Jetzt ist er da. Horst nickt. Er wird ihn noch etwas warten lassen, bevor er ihn einlässt. In die Staatskanzlei. Den Karl Theodor.


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Verfasst von: © Mara Lehn, 2011

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