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Alfred Andersch, 1974 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Ein Kirschbaum in Italien (bei Viterbo)

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Göttingen, Amtshaus beim Geismar Tor. Gedenkstein für Alfred Andersch (1990) von Joachim Eriksen. Foto: Dirk Heißerer

Anderschs Bericht von den Kirschen der Freiheit, der mit dem Blick des Fünfjährigen im Frühjahr 1919 auf die Kolonnen der zu erschießenden Räterevolutionäre begonnen hatte, endet im Juni 1944 unter einem Kirschbaum in Italien bei Vejano (Viterbo).[72] Hier pflückt der Held nach seiner erfolgreichen Desertion aus der Wehrmacht „die ciliege diserte, die verlassenen Kirschen, die Deserteurs-Kirschen, die wilden Wüstenkirchen meiner Freiheit“ und befindet: „Sie schmeckten frisch und herb.“[73] Den erlösenden Moment mit diesen „Kirschen der Freiheit“ darzustellen, war die erklärte „Aufgabe“ des Buches gewesen: „einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben“.[74] Mehr noch: „Die Freiheit ist nur eine Möglichkeit, und wenn man sie vollziehen kann, so hat man Glück gehabt – worauf es ankommt, ist: sich die Anlage zur Freiheit zu erhalten.“[75] Der Triumph besteht darin, dass Andersch einfach Glück hatte und diese Desertion überlebte, nicht, wie die Opfer von 1919, erschossen wurde, und stattdessen diesen Bericht schreiben konnte.

Wenn daher aktuell in München weder eine Gedenktafel noch ein Denkmal für Andersch möglich sind, dann sei daran erinnert, dass das andernorts, wie in Göttingen, schon längst möglich werden konnte. Dort ist am Amtshaus beim Geismar Tor, einer ehemaligen Kaserne, aufgrund eines Ratsbeschlusses vom Mai 1990 ein von dem Göttinger Künstler Joachim Eriksen gestalteter Gedenkstein für die Deserteure des Zweiten Weltkriegs angebracht worden. Sein Titel „Die Kirschen der Freiheit“ bezieht sich programmatisch auf Anderschs Bericht über seine Desertion 1944 in Italien. Der Schriftzug auf dem Stein zitiert einen Halbsatz aus den Kirschen der Freiheit: „nicht aus Furcht vor dem Tode sondern aus dem Willen zu leben / A. Andersch“.[76] Eine Hinweistafel erläutert zusätzlich: „Den Deserteuren, die sich aus Gewissensgründen dem Kriegsdienst für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verweigert haben und dafür verfolgt, getötet und verleumdet wurden.“ Im Übrigen präsentiert die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand [...] in ihrer Dauerausstellung im Bendler Block, Berlin unter der Nr. 19-4‚ Deserteure aus politischer Gegnerschaft‘ unter anderen Alfred Andersch“.[77] Das erinnert an den Vorschlag, für die Deserteure auch einen eigenen Gedenktag einzuführen, konkret den Karsamstag, den Tag zwischen Tod und Leben, und ihn, über alle Grenzen der religiösen und politischen Machthaber hinweg, in freiem Gedenken, etwa mit der „Karsamstagslegende. Den Verwaisten gewidmet“ (1915), des jungen Brecht zu begehen.[78] Die Kirschen der Freiheit bleiben Symbol und Mahnung.

Wolfram P. Kastner (Jg. 1947): Kirschen der Freiheit, 1992. Acrylfarben auf Leinwand. 180 x 150 cm. Foto: Wolfram P. Kastner

 

[72] Vgl. das Kapitel II. Wo die Kirschen der Freiheit wuchsen. Die Orte der Desertion und der Gefangennahme. In: Stephan, Über Die Kirschen der Freiheit (wie Anm. 2), S. 21-34.

[73] KF (wie Anm. 1), S. 130.

[74] Ebda., S. 84.

[75] Ebda., S. 85.

[76] Ebda., S. 83.

[77] Tuchel, Andersch im Nationalsozialismus (wie Anm. 6), S. 40.

[78] Heißerer, Wagnis Freiheit (wie Anm. 11), S. 258; vgl. Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 13. Gedichte 3. Gedichte und Gedichtfragmente 1913/1927. Berlin und Weimar, Frankfurt a.M. 1993, S. 83.

 

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Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer