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Alfred Andersch, 1974 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Feldherrnhalle mit „Drückebergergässlein“

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München, Feldherrnhalle mit dem „Mahnmal“ der NSDAP. November 1939 (Bayerische Staatsbibliothek/Hoffmann).

In den zeitlichen Umkreis der Münchner Zeit in Kirschen der Freiheit gehört die Franz-Kien-Geschichte „Die Inseln unter dem Winde“ aus dem Band Mein Verschwinden in Providence (1971) mit neun Erzählungen. Franz Kien ist im „Herbst 1933“,[58] also kurz nach Anderschs zweiter Entlassung aus dem KZ Dachau (vgl. Station 6), der Fremdenführer für einen englischen Diplomaten namens Sir Thomas Wilkins, der einst „Gouverneur der Windward-Inseln“ und dann „Zivilgouverneur von Malta“ gewesen sei.[59] Dahinter lässt sich Sir Thomas Best, einst „britischer Gouverneur der Windward-Inseln – deutsch: Inseln unter dem Winde – auf den Kleinen Antillen“ erkennen.[60] Die beiden sind zweimal unterwegs, einmal im Deutschen Museum, wo Wilkens selbst die Führung übernimmt, und sodann auf einem längeren Spaziergang vom Hotel Vier Jahreszeiten an der Maximilianstraße hinüber ins Lehel zur Kirche St. Anna, von dort über die Galeriestraße, durch die damals noch eine Trambahn fuhr, zum Hofgarten und zum Odeonsplatz. Dort will Franz Kien es vermeiden, mit Wilkins zum „Mahnmal für die 16 Gefallenen des 9. November 1923“ zu gehen, das an der östlichen Flanke der Feldherrnhalle am 9. November 1933 von Hitler enthüllt worden war. Ein „SS-Doppelposten“ stand darunter und die Passanten auf der Residenzstraße hatten die Tafel mit dem sog. „Deutschen Gruß“, dem ausgestreckten rechten Arm, zu grüßen.[61]

Wer diesen Weg mit dem Zwangsgruß nicht nehmen wollte, konnte um die Feldherrnhalle herum durch die Viscardigasse gehen und wieder auf die Theatinerstraße einbiegen; die Viscardigasse wurde daher im Volksmund auch verniedlichend „Drückebergergasse“[62] oder „Drückebergergässlein“ genannt. Andersch lässt in der Erzählung von den „Inseln unter dem Winde“ den Fremdenführer Franz Kien das Problem zunächst mit einem Gang durch die Theatinerstraße zur Perusastraße umgehen. An der alten Hauptpost vorbei geht es zum Alten Hof und über den Max-Joseph-Platz in die Residenzstraße zum einstigen Café Rottenhöfer neben dem Preysing-Palais. Franz Kien erläutert Wilkens nun den Sachverhalt der Gedenktafel für den gescheiterten Hitlerputsch von 1923, diskutiert mit seinem Gast die Rolle Ludendorffs dabei, erinnert sich daran, dass sein eigener Vater an dem Putschversuch teilgenommen hatte (vgl. Station 1) und beantwortet die Bemerkung Wilkins', die Leute grüßten alle diese Tafel, damit, dass das ein „Befehl“ sei und dass man dort aber nicht vorbei gehen müsse, sondern den ‚kleinen Umweg‘ durch die Viscardigasse zum Odeonsplatz nehmen könne. „Er versuchte ein Lächeln, als er sagte: ‚Die Gasse heißt in ganz München das Drückebergergäßlein.‘ ‚Drückebergergäßlein?‘ wiederholte Wilkins. ‚Ah, ich verstehe.‘“[63] Der Brite entscheidet sich aber doch dafür, ebenfalls mit dem Deutschen Gruß an der Tafel vorbeizugehen, denn, so erklärt er: „‚Ich mache in einem fremden Land gerne alles, was die Bewohner machen. Man versteht sie besser, wenn man ihre Sitten annimmt.‘“[64] Anderschs literarische Momentaufnahme vom Herbst 1933 an der Münchner Feldherrnhalle ist eine seiner besten Arbeiten; sie gehört unbedingt in jeden Erinnerungszusammenhang der NS-Zeit in München. Bei Kriegsende wurde die Tafel auf den Gehsteig gestürzt.

München, Feldherrnhalle mit dem auf die Straße gestürzten „Mahnmal“ der NSDAP. Frühjahr 1945 (Bayerische Staatsbibliothek/Tino Walz). Foto: Dirk Heißerer

 


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[58] Alfred Andersch: Die Inseln unter dem Winde. In: Ders.: Mein Verschwinden in Providence (1971) (hinfort zitiert: Inseln). Zürich 1979, S. 209-233, hier S. 219. Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 52 zitiert Anderschs briefliche Datierung „‚im späten September‘ 1933“, die aber wegen der erst am 9. November 1933 enthüllten Gedenktafel für die Opfer des NS-Putschversuchs vom November 1923 (vgl. Anm. 61) nicht stimmen kann.

[59] Ebda., S. 220.

[60] Reinhardt, Andersch (wie Anm. 6), S. 52.

[61] Vgl. 8 / Feldherrnhalle. In: Nerdinger, Winfried (Hg.) (22006): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Salzburg, München (hinfort zitiert: Nerdinger, Ort und Erinnerung), S. 22; vgl. die Abb. grüßender Fahrrad-Passantinnen in: Nerdinger, Winfried (Hg.) (2015): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München. München, S. 180f.; München – „Hauptstadt der Bewegung“ (wie Anm. 51), S. 352f. (Nr. 20.8), Abb. S. 356.

[62] Nerdinger, Ort und Erinnerung (wie Anm. 61).

[63] Inseln (wie Anm. 58), S. 228.

[64] Ebda., S. 230.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer