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Volker

... bricht auf in ein neues Leben.

Sie wird JA sagen, da war sich Volker sicher. Aber heute würde er Jasmin nicht fragen. Das wäre zu früh. Seine Scheidung wäre schnellstens in einem halben Jahr über die Bühne. Dennoch begann heute ein neues Leben.

„Kann nicht mehr warten“, hatte Jasmin geschrieben. „Ich muss dich sehen! Heute, 20 Uhr im Gandl.“

Das ist keine Frage, dachte er erregt, sondern Sehnsucht, und hatte eilig seine Antwort getippt. „Vorher Maximiliansbrücke? An unserer Stelle? 19 Uhr?“

Sie stimmte zu.

Beschwingt nahm Volker zwei Stufen auf einmal die U-Bahn-Treppe hinauf zur St.-Anna-Straße und lief hinüber in ihr Lieblingsrestaurant.

„Eine Flasche von Ihrem besten Champagner!“ Er wartete nicht, bis der Kellner an der Feinkosttheke war. Er musste sich beeilen, um pünktlich auf der Brücke zu sein. „Und dann möchte ich noch einen Tisch reservieren. Hinten in Ihrem Kaminzimmer. Um acht, für zwei.“

„Na, da haben Sie heute noch einiges vor.“ Der Kellner grinste. „Hier, der Champagner. 95 Euro, bitte. Die Tischreservierung geht klar.“

Als Volker den Preis hörte, zuckte er zusammen, aber dieser besondere Tag verdiente es, kostspielig gefeiert zu werden.

Volker nahm die Flasche und eilte in seine neue Wohnung in der Gewürzmühlstraße. „Viel zu groß!“, dachte er noch gestern, als er einzog. Er stellte den Champagner in den Kühlschrank, holte zwei Gläser aus dem Regal und brachte sie ins Schlafzimmer.

In wohliger Vorfreude betrachtete Volker das einzige Möbelstück in der Wohnung: die Matratze. Für heute Abend das Wichtigste, außer dem Champagner. Er wollte mit Jasmin feiern, auf ihren Neuanfang anstoßen, auf ihr neues Leben. Zusammen.

Die letzten Monate waren eine Herausforderung für ihn, ein ständiges Hin und Her zwischen seiner Ehe und seiner Lust, zwischen Eheberatung und Freiheit, zwischen Vernunft und Traum, zwischen Claudia und Jasmin.

„Such dir eine Wohnung!“, fauchte Claudia ihn entnervt an, als er wieder einmal mit Jasmins Duft nach Hause kam. „Solange du dein Hirn nicht aus deiner Hose rausfischen kannst, hat es keinen Sinn.“

Dennoch gingen sie regelmäßig zur Eheberatung, und er gab sich Mühe. Mit Jasmin vereinbarte er vor zwei Monaten eine Auszeit. Der Eheberater wollte es so. Jasmin flippte aus.

„Seit einem halben Jahr eierst du herum. Überleg dir endlich, was DU willst! Mit deiner Frau alt werden oder mit mir ein neues Leben beginnen. Ich will ein Kind!“ Sie bohrte ihren Finger in seine Schulter, dass es schmerzte. „Ich gebe dir drei Monate Zeit. Dann will ich eine Entscheidung. Sie oder ich.“

Mit ihrer heutigen SMS stand seine Wahl nun fest. Jasmin wollte ihn, hielt es vor Sehnsucht nicht aus, bis die drei Monate vorüber waren. Und sie wollte ein Kind von ihm. Jasmin war seine Zukunft.

Ein letzter Blick in den Spiegel. Zufrieden verließ Volker die Wohnung. Er ging die Gewürzmühlstraße vor zum Thierschplatz, folgte den Straßenbahnschienen und wandte sich am Max-II-Denkmal Richtung Isar.

Das Maximilianeum glänzte golden in der untergehenden Sonne. Das Wasser des Springbrunnens erinnerte ihn an Schweißperlen auf Jasmins nackter Haut. Volker verspürte eine Kraft in seinem Körper, die er lange vermisste, als wäre endlich die Handbremse gelöst worden. Mitten auf der Maximiliansbrücke blieb er stehen. Das war ihre Stelle. Ihr Treffpunkt.

„Hier auf der Brücke, in aller Öffentlichkeit“, erinnerte sich Volker, wie Jasmin an diesem einen Abend im Juni lachend behauptete, „fällt es gar nicht auf, was wir tun. Ob wir uns küssen oder ich in deiner Hose herumfummele.“ Mit einem Grinsen dachte er an das, was danach passierte. Eilig verschwanden sie damals in den Isarauen und fielen wie Verhungernde übereinander her.

Es war kurz nach Sieben. Volker beugte sich über die Brüstung und betastete die Steinmauer von außen. Ja, es war noch da. Ihr Liebesschloss. An einem geheimen Ort, wo es niemand finden würde. Natürlich war es Jasmins Idee, wie alle verrückten Sachen, die sie machten.

„Unsere Liebe ist etwas Besonderes“, flüsterte sie ihm damals ins Ohr. „Darum darf es nicht neben den tausend anderen an der Tierparkbrücke hängen.“

Sie brachten das Schloss an einer versteckten Eisenverstrebung an, bevor jeder seinen Schlüssel in die Isar warf. „Für immer“, hatten sie sich geschworen. Hand in Hand. Wie bei seiner Trauung.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war schon nach halb acht und fast dunkel.

„Ich schaffe es nicht mehr zur Brücke. Lass uns gleich im Gandl treffen.“ Ihre Stimme klang fremd. Sie sprach gehetzt.

„Ist was passiert?“

„Passiert? Nein. Nichts passiert. Ich wurde aufgehalten.“ Nun war ihre Stimme wieder normal. „Ich komm dir ein Stück entgegen.“ Sie legte auf. Verunsichert schlug Volker den Rückweg ein und vergrub die Hände in seinen Hosentaschen, wo er den Wohnungsschlüssel fühlte. Sofort erinnerte er sich an den Champagner, der im Kühlschrank wartete. An die Matratze. An sein neues Leben, das heute begann. Ungeduldige Vorfreude ließ ihn schneller gehen.

Kurz nach dem Max-II-Denkmal bog er in die Pfarrstraße. Er hörte Jasmin schon von Weitem. Ihre Schuhe klapperten laut in der abendlichen Stille. Dann sah er sie. Sie sah umwerfend aus. Ihre Haare waren kürzer. Sie wirkte jünger, frecher. Sein Puls raste.

Nur noch ein paar Meter und dann stand sie vor ihm. Er schlang seine Arme um sie und hielt sie fest an sich gedrückt. Sein Herzschlag hallte an ihrem Körper wider. Jetzt waren sie zusammen.

„Ich bin so glücklich, dass wir uns heute sehen.“ Er hob sie hoch und wirbelte sie herum.

„Ich bin auch glücklich.“ Sie lachte ihr helles Lachen. Ihr Duft stieg in seine Nase, als er sie wieder herunterließ.

„Mmhmm. Du riechst heute anders.“ Volker spürte eine Veränderung, die nicht bei ihrem Parfüm, nicht bei ihrem Duft stehenblieb. Jasmin antwortete mit einem raschen Kuss auf seine Wange und löste sich von ihm.

„Komm, lass uns gehen.“ Übermütig zog er sie mit sich fort. Wie Kinder rannten sie die letzten Meter bis zum Gandl. Hand in Hand.

Lachend betraten sie das Restaurant. Der Kellner begrüßte sie mit einem breiten Grinsen und führte sie an den reservierten Tisch im Kaminzimmer. Er zwinkerte Volker zu, der sich mit einem vielsagenden Blick bedankte. Jasmin griff nach der Menükarte. „Ich habe Hunger für zwei. Nehmen wir das Menü?“

Volker rückte seinen Stuhl zurecht. „Du hast es aber eilig! Lass uns zuerst anstoßen!“ Er wartete nicht auf ihre Zustimmung und rief den Kellner. „Zwei Spritz, bitte. Mit Prosecco.“

Über den Tisch griff er nach ihrer Hand. Er wollte ihr nah sein, sie berühren, sie nicht mehr loslassen. Er war überwältigt. Von ihr, von ihrer Erscheinung, von ihrer Ausstrahlung. Von seinem Entschluss.

„Ich habe eine Überraschung für dich.“

„Du auch?“ Irritiert löste sie ihre Hand aus seiner, griff nach ihrem Glas, das der Kellner ihnen gebracht hatte, und drehte es am Stiel.

Aus seiner Hosentasche holte er den Wohnungsschlüssel und legte ihn auf den Tisch. „Weißt du, was das bedeutet?“

„Du bist ausgezogen?“

„Gestern. Und heute deine SMS.“ Er grinste sie an. „Perfektes Timing!“ Wieder griff er nach ihrer Hand und sah ihr tief in die Augen.

„Ich freue mich so für dich. Wo ist sie?“

„Hier gleich um die Ecke. In der Gewürzmühlstraße. Sie wird dir gefallen. Dachgeschoß, drei Zimmer. Groß genug.“ Er lächelte vielsagend.

Erneut entzog sie ihm ihre Hand und spielte mit dem Glas. „Dann kannst du jeden Tag zu Fuß in die Arbeit gehen.“

„Ja, das auch.“ Verwirrt strich er sich durch die Haare. Verstand sie wirklich nicht, was er ihr sagen wollte? Aber warum dann die SMS? „Und was ist deine Überraschung?“

Sie kramte in ihrer Tasche. „Das ist meiner“, sagte sie leise und legte einen Schlüssel auf den Tisch. Sie sah ihn nicht an. „Ich bin zu Helmut gezogen.“

„Helmut?“

Sie blickte ihn an. „Ich bekomme ein Kind. Von ihm.“


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Verfasst von: © Dorothea Burger, 2012

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