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Professor Wimmer, nein eigentlich sein Hut

Bis er schließlich in Amsterdam landet in einer Vitrine mit Post-Junge-Wilder-Kunst aus Deutschland.

In einem stark atmosphäregeladenen Kellerlokal in der Schellingstraße sitzen Leute, die Klaus kennt. Künstler. Künstler übten damals eine starke Faszination auf mich aus. Künstler waren für mich zu diesem Zeitpunkt eine mysteriöse Bruderschaft von Sterblichen, die sich starkfüßiger auf der Erde fortbewegten als andere Menschen; fast, als hätte jeder Tritt, den sie hinterließen Gewicht, Wucht, tiefste Bedeutung und ewige Dauer. Künstler lächelten wissend und überlegen, und erkannten Gleichgesinnte an einem gewissen Etwas. Vielleicht taten sie dies vermittels einer Art metaphysischem Sonar – so wie sich Delphine und Zahnwale in den Weltmeeren orientieren. Jedenfalls nicht so etwas Profanes, wie ein matter Händedruck oder ein höfliches „Grüßgott“. Damals dachte ich, dass Künstler mit besonderen Sinnen ausgestattet waren, die sie verfeinert hatten. Synästhesie oder so. Heute mag mir diese Vorstellung naiv und sonderbar vorkommen. Die Laubheuschrecke hört mit ihren Vorderbeinen, der Nachtfalter mit der Brust und die Zikade mit dem Arsch. Ich stellte es mir tatsächlich so vor: Das Sonar des Malers, Bildhauers oder Videographen startet mit einzelnen Klicklauten, die vermutlich nicht im Kehlkopf, sondern im Nasenraum erzeugt werden. Das Melon – ein Wulst aus Fettgewebe an der Stirn des Künstlers – bündelt den Schall so, dass er den Bereich vor dem Künstler „ausleuchtet“ und so ihresgleichen erkennt. Künstler als besondere Wesen.

In diesem Kellerlokal in der Schellingstraße nun, hatten sie sich gefunden. Der Kunstprofessor Wimmer, ein fleischiges, bartloses Mondgesicht, aus dem unter einer breiten Hutkrempe listige Äuglein blitzen. Daneben Kunstprofessor Hosemann, mit der Zigarre im Munde. Ein schmuckloser Ring in seinem rechten Ohr. Dann sitzt da Fred Weintraub und Igor, der Dichter und Bachmannpreisaspirant, mit einem Haufen Verehrerinnen um sich herum, alles Backfische und Akademiedohlen. Bachmannpreisaspiranten haben immer Glück bei den Frauen. Und dann ist da noch Rachmiehl, der desertierte Tschetschene, der neben dem Schlagzeuger von „Erzeugerorganisation Sachsenobst“ sitzt, wie mir Klaus versichert. „Rachmiehl fotografiert nur noch analog und macht auf Reisen nur noch ein Foto pro Woche aus Respekt vor dem Bild, das man immer aufs Neue selbst von der Welt machen muss“, sagt Klaus halblaut zu mir. Wir holen uns zwei blank gescheuerte Wirtshausstühle und quetschen uns dazwischen. Zwischen Igor und eine Chinesin aus der Hosemann-Klasse mit überlangen Ärmeln am papageiengrünen, gefältelten Kleid. Nur mit halbsäuerlicher Höflichkeit werden wir empfangen. Die Runde scheint schon einiges gebechert zu haben, alle sind aufgekratzt, in geistvolle Gespräche verstrickt und bester Laune. Nur Rachmiehl wirkt, als könne er jeden Augenblick Krakeel machen. „Kürzlich stand ich in der Pinakothek vor dem Polke „Höhere Wesen befahlen in die linke untere Ecke einen Blumenstrauß zu malen“ oder so. Und ein mir unbekannter Betrachter neben mir meinte: „Hätte er nur einen Blumenstrauß gemalt“, erzählt Fred Weintraub. Rachmiehl schimpft: „Deutsche Kunst kaum Metafisik. Obere Wesen machen Befehl. Und Maler machen schwarzes Eck hin in Ecke. Deutsche Kunst kaum Metafisik. Aber Ironie kennt viel“. Er meint es ernst. Das können die Tischgenossen natürlich nicht auf sich sitzen lassen und so entzündet sich eine lang währende Diskussion über Kunst.

„Aus dem Meer der geistesarmen Kostsassen ragen für dich wohl nur Polke, Richter und Jonathan Meese, wie Theodolithen?“, ruft Fred Weintraub aufgebracht. Professor Wimmer versucht zu beschwichtigen. „Na, na, na.“ Ich spitze die Ohren. Kann ich doch bestimmt viel lernen dabei. „Vielleicht sollte sich wirklich einmal jemand die Mühe machen, und den soziologischen Zusammenhang zwischen der lähmenden, bildnerischen Langweiligkeit, der selbstreflexiven Inneresleermacherei und Un-Funkiness der großen deutschen Maler und dem blasierten Pochen auf bildnerische Richtigkeiten der Bauhausbürokraten, wissenschaftlich aufdecken“, ruft ein Hosemannstudent mit Architektenbrille forsch. „Diese Farbaufundabstufer!“ Bei dem letzten Ausdrucke verzieht der Professor, der erst gelächelt hat, das Gesicht, wie wenn er einen Schluck sauren Bieres erwischt hätte. Die Stimmen schwirren jetzt tumultuarisch durcheinander. „Ah geh. I lach mir ja an Kropf. Pass amoi auf. As Bauhaus war weltklass´. As Bauhaus, Basler Schui, Ulmer Schui, des is a gestalterische Stringenz – da kannst no was lerna von dene. De ham scho wos gleist auf des mer stoiz sei ko, der Klee, der Albers, der Mohoininotsch. Da bist du noch ned amoi mim Nochdhemmad und am Millikannderl der Blechmusi nochglaffa. Da bist du no im Abraham seim Wurschtkessl umanandagschwomma.“ „Die Malerei ist tot. Es lebe Millefiori!“, ruft einer provozierend in die Runde.

Igor wendet sich urplötzlich an mich. Ich erschrecke. Alle sehen mich an. Er gesteht mir, er rauche nur dänische Zigaretten der Marke Einar Abham. Ich verstehe nicht. „Kann ich Einar Abham?“ Ich verstehe immer noch nicht, erst als er eine meiner Zigaretten aus der Packung nestelt, verstehe ich. Alle am Tisch lachen jetzt. Die Packung ist aber leer. Ich suche in der Tasche nach einer neuen und hole dabei auch mein Skizzenbuch hervor. “Ah, der Begriffsstutz do hint zeichned aa“, sagt der Professor Hosemann und blickt anerkennend zu mir. „Ich versuche es.“ „Bei wem studierst du?“ „Ich bin noch nicht an der Kunstakademie. Ich arbeite noch an meiner Mappe.“ Einer am Tisch nimmt das Büchlein und blätterte es durch.

Ich schäme mich ein wenig über meine, von einer jugendlichen, unkundig herumfahrenden Hand hervorgebrachten Zeichnungen. Neues, schlecht eingeschenktes Bier wird gebracht, und einige aus der Runde beschweren sich über die zu hohe Schaumborte. „Meinst, du, ich sollte mal mit den beiden Professoren näher ins Gespräch kommen, jetzt, wo mich der Hosemann schon angesprochen hat?“, flüstere ich zu Klaus. „Nein. Der Wimmer, das wäre nichts für dich. Der ist zwar ein bayrisches Urgestein und mit dem Polt gut befreundet. Der nimmt aber nur Gegenstandslose. Da brauchst du mit deinen Zoozeichnungen gar nicht antanzen bei dem.“

„Aber der Wiki studiert doch glaube ich auch bei dem Wimmer. Und der Wiki kocht doch nur. Der zeichnet doch nicht.“

„Der Wiki ist ein Genie. Der ist sogar Meisterschüler. Den hätte jeder Professor mit Handkuss genommen. Und der Willikens, der mag den Wiki auch nicht leiden, denn dem hat der Wiki einmal mit dem Fahrrad den Porsche angefahren.

In den ersten drei Semestern hat Wiki nur gekocht und mit Crossovercooking experimentiert. Also Hispano-Bayrische Tapas-Schmankerln. Pinchito vom Schwein in Kräuteröl oder Spanferkelsülze auf Carpaccio. Dazu Saurübensuppe mit Rauchspeck und Avocadodip. Das weiß ich noch genau. Da hab ich eine Videodokumentation darüber gemacht.

Der Hosemann. Das macht keinen Sinn. Der wird nächstes Semester pensioniert. Der betreut nur noch die Schüler aus seiner ehemaligen Klasse. Bei dem hättest du ohnehin nichts gelernt. Das ist ein sturer Farbtheoretiker, der hat eine sehr altmodische Auffassung von Malerei. Kennst du „alter rosa Zentimeter“ im Lenbachhaus? Das ist sein bekanntestes Bild.

Das hat ihn schlagartig berühmt gemacht.

Und im Museum für konkrete Kunst in Ingolstadt hängen noch einige Hosemann. Darunter das berühmte „Fünfzehn systemartistische Farbreihen in progressiven Horizontalgruppierungen.“ Kürzlich hat er den großen Preis der Dingolfinger Kreissparkasse gewonnen für die künstlerische Gestaltung des Gemeinschaftsregenschirms. Aber du könntest...“

Igor unterbricht unser Getuschel und will noch eine Einar Abham. Jetzt weiß ich gleich, was er meint, und ziehe nicht mehr die Aufmerksamkeit der ganzen Runde auf mich. Mein Skizzenbuch wird mir kommentarlos zurückgegeben. Ich glaube Klaus schämt sich ein wenig, dass er mich mitgenommen hat. Der, der die deutsche Malerei der Un-Funkyness bezichtigt hatte, ist sich unterdessen mit dem Professor Wimmer in die Haare geraten. Er scheint sein harsches Urteil nun ein wenig abschwächen zu wollen: „Ich würde ja nicht sagen: So, ja, das ist jetzt die absolute Oberkunst oder so, aber...“ – Der Wimmer fängt plötzlich ganz leise und gereizt in Hochdeutsch zu sprechen an: „Sie haben ja noch nicht einmal den Unterschied von einer Lichtform und einer Binnenform begriffen. Da hätten`S bei mir nicht einmal die Probewand bestanden. Gelln´S ?“ Er schiebt seine Brillengläser nach unten und blickt den Provokateur altersweise und durchbohrend an. Gereizt nimmt der Gekränkte dem Wimmer den Hut vom Kopf und rennt hinaus. Der Wimmer, dessen weiße, von spärlichem, grauem Haar umkränzte Glatze jetzt durch den Raum strahlt, wie ein angepecktes Straußenei, doch um einiges röter, kommt nicht hinterher. Er läuft ihm die Schellingstraße nach bis zur Adalbertstraße. An der Ecke Türkenstraße ist er vollkommen aus der Puste. So wirft er dem Entschwindenden eine Schimpftirade hinterher.

Die Tat des jungen Studenten sollte noch ein gerichtliches Nachspiel haben, aber davon will ich vielleicht an anderer Stelle berichten.

Ein gutes Jahrzehnt später sah ich den geklauten Hut des Professor Wimmer in Amsterdam wieder. In einer Vitrine einer Ausstellung mit Post-Junge-Wilder-Kunst aus Deutschland.


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Verfasst von: © Thomas Glatz, 2011