https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/blank.jpg

Schackstraße 1 (III): In der Baumkrone

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/2022/Abb_29_DE-1992-FS-LI-0065_500.jpg
Abb. 29: Das Haus Leopoldstraße 4, erbaut 1897 nach Plänen des Jugendstil-Architekten Martin Dülfer, verband die Häuser Schackstraße 1 und Leopoldstraße 6. Foto (um 1900): Stadtarchiv München, Sign.: DE-1992-FS-LI-0065

Noch einmal zurück in den Garten der Schackstraße 1, und hinauf in die Baumkrone der Esche. Michael Krüger meint: „Wenn man sich in ihre Krone setzen wollte, könnte man nach Norden die Leopoldstraße hinaufsehen.“[72] Das ist noch ganz richtig. Doch dann gerät der Beobachter ins Fabulieren. Im Nachbarhaus, Leopoldstraße 4, (Abb. 29) das mit dem Haus Schackstraße 1 und noch mit dem Haus Leopoldstraße 6 eine zusammenhängende „Baugruppe“[73] bildet, vermutet Krüger ein reges literarisches Treiben: „Gleich neben dem Haus, in dessen Garten die Esche steht [Schackstraße 1], wurden die berühmten Zeitschriften des Jugendstil redigiert (Jugend, Pan, Insel)“.[74] Das stimmt gleich zweimal nicht. Die Jugend kam seit 1896 in Georg Hirths Verlagsgruppe der Münchner Neuesten Nachrichten am Färbergraben 24 heraus; und der PAN erschien ausschließlich in Berlin, von 1895 bis 1900 und von 1910 bis 1915. Tatsächlich nachweisen lassen sich im Haus Leopoldstraße 4 1899/1900 nur der Verlag und die Zeitschrift Die Insel; das von Rudolf Alexander Schröder exquisit für seinen Vetter Alfred Walter Heymel eingerichtete Interieur der Erdgeschosswohnung[75] bildet wiederum den Schauplatz für Heinrich Manns Roman Die Jagd nach Liebe (1903), eine Kritik am damaligen Ästhetizismus.[76]

Dann aber trübt sich der Blick Krügers in der Baumkrone zum Wunschbild; er fährt fort, im Haus Leopoldstraße 4 habe der Verleger Hans von Weber „das von Franz Blei und Carl Sternheim betreute Periodikum Hyperion“ herausgegeben, worin „die ersten kurzen Geschichten oder Skizzen von Franz Kafka veröffentlicht wurden.“[77] Die Luxuszeitschrift Hyperion wurde zwischen 1908 und 1910 aber nicht in der Leopoldstraße 4 redigiert, sondern, laut Impressum und den Münchener Adressbüchern, in der Adalbertstraße 76! Dort erschienen im März als erste Publikation Franz Kafkas acht nummerierte Prosastücke unter dem Titel Betrachtung.

Der Cicerone im Baum weiß sodann, drüben, „auf der anderen Straßenseite der Leopold, in der Ainmillerstraße“, habe „der Dichter Rainer Maria Rilke“ gelebt, in Rufweite von Lenin, der sich in der Kaiserstraße ein Zimmer im Hinterhaus genommen hatte“.[78] Das ist zwar gut gemeint, aber Rilke hätte auch beim besten Willen aus der Ainmillerstraße 34/IV im Jahr 1918 schwerlich zu Lenin 1901 in die Kaiserstraße 46 hinüberrufen können oder wollen.[79] Aber das alles ist natürlich anders gemeint, bildlich, im übertragenen Sinn, weit weg von der offenen Präzision, die die „Fabel“ Handkes auszeichnet.

Immerhin können wir mit Michael Krüger den Blick aus der Baumkrone in die Gegend schweifen lassen und zusehen, ob sich noch jemand vom jungen deutschen Film blicken lässt, der sich um 1970 mit Regisseuren wie dem Handke-Freund Wim Wenders, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Bernhard Sinkel, Rainer Werner Fassbinder sowie den Filmkritikern Frieda Grafe und Enno Patalas, dem späteren Direktor des Münchner Filmmuseums, „in Schwabing niedergelassen“[80] hatte.

 


Zur Station 9 von 10 Stationen


 

[72] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 66.

[73] Schackstraße 1, in: Denkmäler in Bayern. Drittelband 3 (wie Anm. 28), S. 991.

[74] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 66.

[75] Vgl. Dirk Heißerer: Die Insel. Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel, Rudolf Alexander Schröder, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern (wie Anm. 58), S. 118-127, hier S. 123f.

[76] Vgl. Dirk Heißerer: Unstet. Heinrich Manns Wohnung in München, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern (wie Anm. 58), S. 110-117, hier S. 112f.

[77] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 66f.

[78] Ebd., S. 67.

[79] Vgl. den Abschnitt „Ins Eigene“ (zu Rilke) und den im Kandinsky-Kapitel zu Lenin, in: Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern (wie Anm. 63), S. 240-245 sowie S. 191f.

[80] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 67f.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer