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Abb. 23: Der Umschlag der Erstausgabe wurde mit einer Kugelschreiberzeichnung des Autors versehen, entstanden am 12. Dezember 1979 am Pas du Berger der Montagne Sainte-Victoire. Foto: Sammlung Dirk Heißerer

Schackstraße 1 (I): Die Esche im Garten

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Abb. 21: Artemis oder Diana von Gabii, Abguss, um 1850. München, Schackstraße 1, im Garten vor der Esche, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Ein Graf Schack unserer Tage ist der Kunsthistoriker und Verleger Dr. Hubert Burda (Jg. 1940). Nach seiner Promotion (1967) bezog er mit (seiner ersten) Frau und Sohn die Erdgeschosswohnung des 1897 erbauten Hauses Schackstraße 1. Er „hängte wunderbare Bilder aus unserer Zeit an die Wände, richtete eine gute Bibliothek ein und öffnete den Freunden generös die Tür“.[29] Von dem Autor, Lyriker und Verleger Michael Krüger (Jg. 1943) erfahren wir im Nachwort zur Neuausgabe zu Handkes Fabel weiter, dass Hubert Burda seit 50 Jahren mit Peter Handke befreundet sei. Der war wiederum in all den Jahren, wie er selbst schreibt, „episodisch im Haus und Garten“[30] zu Gast und konnte nicht nur den großen Baum, sondern auch eine kleine Schutzgöttin wahrnehmen. (Von außen ist sie freilich nicht zu sehen. Der dreiseitig umlaufende Pfeiler-Gitter-Zaun ist innen blickdicht geschützt. Umso wichtiger sind die Fotos von Isolde Ohlbaum in der Neuausgabe der Fabel.)

Bei der Bronzefigur handelt es sich um einen „wunderbaren Abguss der Artemis von Gabii, angefertigt von der Millerschen Erzgießerei in München um 1850, rund sechzig Jahre nachdem das Original in Gabii ausgegraben wurde“. Das war eine „Stadt in der Peripherie Roms“, und die ursprüngliche Figur wird prominent „der Schule des Praxiteles“ zugerechnet.[31] Hubert Burda hatte diese Figur der Artemis oder Diana unter der Esche aufstellen lassen. (Abb. 21)

Die junge Frau ist soeben mit einer anmutigen Bewegung des rechten Arms dabei, einen Knopf zu fassen und ihr Kleid zu schließen. Sie erinnert dabei an eine der fünf „Tänzerinnen“, antike Bronzefiguren aus der Villa dei Papiri in Herculaneum (Ercolano) am Golf von Neapel, heute im Museo Nazionale di Napoli. (Abb. 22) Als Kopien sind die fünf Damen in der Getty Villa im kalifornischen Malibu im Garten um das Wasserbecken im Innenhof herum aufgestellt, das, wie die Villa insgesamt, der Villa dei Papiri bis ins Detail nachgebildet wurde.

Das kalifornische Tusculum hat in München eine Dependance an der Schackstraße 1. Unter der Esche und neben der Artemis wurde, so Krüger weiter, von Hubert Burda „1974 der Petrarca-Preis ins Leben gerufen“,[32] mit Peter Handke in der Jury. Der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304-1374) gilt als Entdecker der Landschaftsbeschreibung mit seinem Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux in der Provence im Jahr 1366. Der Petrarca-Preis ging zwischen 1975 und 1995 sowie von 2010 bis 2014 an zeitgenössische Dichterinnen wie Sarah Kirsch und Ilse Aichinger, an Dichter wie Rolf Dieter Brinkmann, Ludwig Hohl und Hermann Lenz, an Übersetzerinnen wie Ilma Rakusa, Elisabeth Edl und Verena Reichel sowie an Übersetzer wie Felix Philipp Ingold und Hanns Grössel. In dieser Zeit wurde die Esche, so Michael Krüger, „unser Baum“, dann wohnte „Peter Handke einmal länger allein in der Schackstraße“,[33] genauer Ende Oktober/Anfang November 1989, nahm damals die Esche und ihre Umgebung auf seine neue Weise wahr und schrieb die Kleine Fabel der Esche von München auf.

Diese ‚neue Weise‘ meint die poetische Methode, die sich Peter Handke in seinem Buch Die Lehre der Sante-Victoire (1980) beigebracht hatte. Die Montagne Sainte-Victoire in Südfrankreich bei Aix-en-Provence, lebenslanges Motiv für den Maler Paul Cézanne, wird auch für den Ich-Erzähler bei Handke zu einer neuen Orientierung aus abgrundtiefen Zweifeln. An der Kunst Cézannes lernt er, ein Objekt aus seinen eigenen Strukturmerkmalen, durch genau benannte Kontraste sprachlich neu zusammenzusetzen. Der erlebte Eindruck und die Scheinwirklichkeit der Literatur finden in einer Epiphanie zusammen. (Abb. 23)

Abb. 22: Die fünf „Tänzerinnen“ oder „Danaiden“ aus der Villa dei Papiri in Herculaneum im Museo Nazionale di Napoli, 2006. Foto: Lalupa

Das letzte Kapitel der Lehre der Sainte-Victoire geht von einem Gemälde im Kunsthistorischen Museum in Wien aus, von Jakob van Ruisdaels Der große Wald, und bildet einen Wald in der Nähe von Salzburg schreibend nach. Das Ich, der Held verschwindet, der Wald erscheint aus Worten zusammengesetzt.[34] Peter Handke hat das für ihn so wichtige Buch, eine seiner „zentralen poetologischen und erzählerischen Selbstvergewisserungen“,[35] den Freunden Hermann und Hanne Lenz, „zum Dank für den Januar 1979“[36] gewidmet, als ihr Haus in München ihm zum „Refugium“[37] geworden war.

Die Kleine Fabel der Esche von München wendet diese neue Methode aus Zweifel und Vergewisserung so an, dass das Motiv aus den beobachteten Details und den aus ihnen entwickelten Assoziationen vor den lesenden Augen ‚entsteht‘. Was hier im Kleinen geschieht, ist auch anderswo erlebbar, etwa wenn der Erzähler „die Tierchen in den Schründen der Rinde als in der Weltweite einsam Bergsteigende sah, von denen eines gerade einen Überhang bezwang, in anderes in einer Felsnische biwakierte, ein drittes an einem Spinnfaden-Seil schwankte“,[38] wobei in diese Beobachtung sogar noch etwas Humor hineinspielt.

Dann aber, skeptisch gegenüber der eigenen Schreibarbeit, die sich vom „Bildergeprunke“ anderer Schriftsteller wie Ernst Jünger, Julien Green und Paul Claudel absetzen will,[39] kommt der Vergleich der beiden Statuen, der einen auf dem Siegestor, die andere im Garten unter der Esche, zustande. Nun wird deutlich, warum das Siegestor nicht nur für die Ortsbestimmung der Esche wichtig ist:

Sonderbarer Kontrast zwischen der riesigen Frauenstatue oben auf dem Siegestor und der zierlichen unten im Garten. Der Koloß oben schritt muskulös voran durch die Lüfte, vier ebensolche Löwen an der Leine, während die Feingliedrige unten, ein Bein vor dem anderen, an ihrem Gewand die Schulterschnalle schloß? Oder aber öffnete?[40] (Abb. 24)

Abb. 24: Fotomontage aus der Bavaria-Löwen-Quadriga auf dem Siegestor und der Artemis oder Diana-Figur im Garten der Esche, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Die Figuren sind einander nah und gleichzeitig weit voneinander entfernt. Sie dennoch zueinander setzen zu können, verdankt Peter Handke seiner neuen literarischen Methode. Er ruht sich aber nicht dabei aus, sondern stellt sie im letzten Stück der elf Prosaskizzen Noch einmal für Thukydides (1990) gleich wieder in Frage. Auf die „Kleine Fabel der Esche von München“ folgt als Epimythion oder moralische Nutzanwendung die pompös (mit einer Spur Selbstironie) wie ein alter Heldengesang betitelte „Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire“.[41] Der wandernde Held findet die alte Landschaft nicht mehr vor: Der Wald um die Sainte-Victoire ist verbrannt, der Zauber des Motivs dahin, der dort gewonnene Weg kann nicht mehr weiter gegangen werden. Alles ist wieder offen. Endete „Der große Wald“ mit der Frage: „Zuhause das Augenpaar?“,[42] so lautet nun der Schlusssatz der Epopöe: „Mit Fragen enden.“[43] Alles ist wieder offen.

Die Esche hat schon viele literarische Rollen gespielt, vom Weltenbaum Yggdrasil in der altnordischen Sage bis zur „Welt-Esche“[44] in Richard Wagners Ring des Nibelungen (1876). In Handkes Fabel erfährt sie nun eine neue Bedeutung: Der mächtige Baum wird für den nur „episodisch“ anwesenden Autor zum Inbegriff der Beständigkeit („Die Esche war nichts als da“[45]), sogar zum rettenden „Asylbaum“,[46] verkörpert also für den weltreisenden Erzähler beinahe so etwas wie ein Zuhause oder eine Heimat. Die Esche ist für ihn kein „‘Weltbaum‘“[47] mehr, sondern eher eine „‘Niemandsrose‘“[48] (so der Titel eines Gedichtbands von Paul Celan, 1963) oder ein Allerweltbaum, dessen „seltsame Heimatlichkeit und Freundschaftlichkeit“ in Verbindung mit dem „Lichtreich der Krone“ im Erzähler jedoch den Wunsch weckt, auch „so zu sein und so etwas zu machen“.[49] Und so, auf diese persönlich-unpersönliche Weise im Sinne einer folgerichtigen Sprachkunst, kommt dem Erzähler noch am selben Tag im Englischen Garten eine „viel kleinere Esche“ (mit lateinischem Namensschild) in den Blick, und in der Prinzregentenstraße fallen ihm in einer „Straßenbahnschiene: Sand, Laub und Kiesel“ auf, die in all ihrer Zufälligkeit ebenfalls in die „Geschichte der Esche am Siegestor“[50] eingehen und sie zugleich beenden.

 


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[29] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 61-79, hier S. 75.

[30] Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 15.

[31] Michael Krüger: Nachwort, in: Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 76.

[32] Ebd., S. 77. Vgl. Hubert Burda: Lass klingen den Tag, steh‘ zu ihm. Eine Beschreibung der Erfahrungen, die sich beim Lesen von Peter Handkes Werk einstellen, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 272 vom 22./23.11.2008, S. 17. Gekürzte Fassung der Rede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 2008 an Peter Handke.

[33] Ebd.

[34] Peter Handke: Der große Wald, in: Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1980, S. 119-139, vgl. Peter Handke: Der große Wald. Leseprobe zur Folge 125 der Kleinen Literaturkunde, mit einer Einleitung („Wer ist der Verfasser?“) von Dirk Heißerer, in: Oberbayerisches Volksblatt (Rosenheim) vom 4./5.12.1982, S. 27.

[35] Helmut Böttiger, Charlotte Brombach, Ulrich Rüdenauer: Sanfte Bewegungen von außen nach innen. Zum Briefwechsel von Peter Handke und Hermann Lenz, in: Peter Handke, Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Frankfurt am Main, Leipzig 2006, S. 427-446, hier S. 442.

[36] Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (wie Anm. 34), S. 3.

[37] Norbert Hummelt: Im stillen Haus. Wo Hermann Lenz in München schrieb. Mit Fotografien von Isolde Ohlbaum. München 2009, S. 54f., 59-61; vgl. Peter Handke: Brief an Hermann und Hanne Lenz, Neubruck (Niederösterreich), 08.02.1979, in: Peter Handke, Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages (wie Anm. 35), Brief 113, S. 132, Kommentar S. 340f.

[38] Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 8f.

[39] Ebd., S. 10 (Ernst Jünger, Julien Green), S. 11 (Bildergeprunke), S. 13 (Paul Claudel).

[40] Ebd., S. 12.

[41] Peter Handke: Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire, in: ders: Noch einmal für Thukydides. Salzburg 2. Auflage 1990, S. 34-38. In Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912/13) wird der Held Gustav von Aschenbach als „Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs des Großen“ vorgestellt, einem Text, den der Autor Thomas Mann selbst aufgegeben hatte, vgl. Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Zweites Kapitel, in: Thomas Mann: Frühe Erzählungen 1893-1912, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt am Main 2004, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 2.1, S. 507-516, hier S. 507; Stellenkommentar Band 2.2, S. 403f.

[42] Peter Handke: Der große Wald, in: Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (wie Anm. 34), S. 139.

[43] Peter Handke: Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire (wie Anm. 41), S. 38.

[44] Vgl. den „Stamm einer mächtigen Esche“ zu Beginn der Szenenanweisung zum Ersten Aufzug der Walküre (S. 101) bzw. den Gesang der Nornen um die „Welt-Esche“ in der Götterdämmerung (V. 11, 25,38, 55, 74, 111), in: Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hrsg. und kommentiert von Egon Voss. Stuttgart 2009.

[45] Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 13.

[46] Ebd.

[47] Ebd.

[48] Ebd., S. 14.

[49] Ebd. Ganz ähnlich äußert sich Thomas Mann in seinem Vortrag Lübeck als geistige Lebensform (1926) anlässlich der Anregung durch „einen französischen Roman, die ‚Renée Mauperin‘ der Brüder Goncourt für den eigenen Roman Buddenbrooks aufgrund einer „Bewunderung, die produktiv wurde und mich denken ließ, dergleichen müsse doch schließlich auch wohl zu machen sein“. Vgl. Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform, in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band XI, Reden und Aufsätze 3. Frankfurt am Main 1974, S. 376-398, hier S. 379f.

[50] Ebd.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer