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Abb. 15: Die Ecke Siegestor-/Leopold-/Schackstraße, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Akademie- / Ludwigstraße: Siegestor

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Abb. 11: Die Esche (rechts mit der hohen Baumkrone) in der Baumgruppe gegenüber dem Siegestor an der Ecke Schackstraße-/Leopoldstraße, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Wir gehen von der Bayerischen Staatsbibliothek aus die Ludwigstraße nach Norden, vorbei an der Kirche St. Ludwig (1844), einem Schauplatz in Thomas Manns München-Novelle Gladius Dei (1902), weiter zum Professor-Huber-Platz und hinüber zum Geschwister-Scholl-Platz mit der Gedenktafelcollage (1988) des Berliner Künstlers Robert Schmidt-Matt (Jg. 1954) für die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ (1942/43), überqueren die Ludwigstraße und kommen zum Siegestor, gegenüber der Esche. (Abb. 11)

Man sieht sie jedoch nicht gleich oder besser, muss sich ihr auf besondere Weise nach und nach annähern, ganz so wie der Autor selbst. Der beginnt mit der Ortsangabe: „Die Esche stand (steht) inmitten eines fast wiesengroßen, vom Verkehr durchbrausten Gartens, bei weitem der massigste Baum da, im Zentrum Münchens“.[15] Wo das sein soll, erfährt der Leser etwas später:

Mitten in der Stadt stand für den Augenblick der Stamm mit seinen Mehrfarben vor mir und zugleich weit draußen, für sich, auf dem Land. Wo dort? Entsprechend der Antwort Karl Valentins auf die Frage, wo denn ein gesuchtes Haus stehe: ‚Im Freien.‘ Von der Leopoldstraße, vom Siegestor mit der seltsamen Inschrift ‚Dem Sieg geweiht – vom Krieg zerstört – zum Frieden mahnend‘ erschien die Esche auf einmal versetzt in eine Wildnis.[16]

Vom Siegestor aus ist die mächtige Esche im Garten des Hauses Schackstraße 1 (vgl. Station 4) ganz gut erkennbar, im Winter entlaubt ein wenig besser als, umgeben von mehreren niedrigeren Bäumen, in grüner Blätterpracht im Sommer. Doch was meint diese doppelte Lokalisierung, allgemein mit dem „‘Freien‘“ und der „Wildnis“, und konkret mit der „Leopoldstraße“ und dem „Siegestor“?

Das Lustigste daran ist sicher das Zitat nach Karl Valentin. Es findet sich in dem Dialog Der überängstliche Hausverkäufer (1940), genauer in der auf Schallplatte festgehaltenen gesprochenen Version. Der Käufer (Liesl Karlstadt) fragt: „Steht das Häuschen im Freien?“ Und der Verkäufer (Karl Valentin) antwortet: „Ja, jedes Haus steht im Freien. Da steht’s ja!“[17]

Das Komiker-Duo ist überhaupt gut informiert und erläutert auf einer „Münchner Fremdenrundfahrt“ (1929) auch das Siegestor. Nach dem der Englische Garten über die Feilitzschstraße verlassen wurde, eröffnet sich den beiden von Schwabing aus, wie die Karlstadt sagt, „ein neuer Anblick. Das Siegestor. Es ist der architektonische Abschluss der, von Ludwig I. erbauten Ludwigstrasse – es ist eine Nachbildung des Konstantinbogens in Rom.“ Karl Valentin ergänzt: „Die Siegesgöttin mit den 4 Löwen wurde oben auf dem Tor angebracht – da sie auf der Strasse verkehrsstörend gewirkt hätten.“[18] (Abb. 12)

Abb. 16: „Der Koloß oben schritt muskulös voraus durch die Lüfte“, 2022. Foto: Dirk Heißerer

Das kann man wohl sagen. Der Konstantinsbogen in Rom (315 n. Chr.), errichtet als dreitoriger Triumphbogen neben dem Kolosseum in der Zeit der Wende vom römischen zum christlichen Altertum, war tatsächlich das bauliche Vorbild für das Siegestor. Das Ziel war auch hier eine Machtdemonstration. „DEM BAYERISCHEN HEERE“ gewidmet, wie auf der Nordseite noch heute zu lesen ist, sollte das von König Ludwig I. von Bayern 1840 dem Architekten Friedrich von Gärtner in Auftrag gegebene Siegestor vor allem an die Erfolge der bayerischen Armee in den sogenannten „Befreiungskriegen“ (1813-1815) gegen Napoleon erinnern. Ludwig I. sorgte in seiner Amtszeit (1825 bis 1848) zudem dafür, dass Namen französischer Orte wie Brienne-le-Château, Arcis-sur-Aube und Bare-sur-Aube, an denen seinerzeit entscheidende Schlachten gewonnen worden waren, im neuen Nobelviertel der Maxvorstadt zu Münchner Straßennamen wurden: Brienner Straße, Arcisstraße und Barerstraße. Die Inschrift auf der Stadtseite: „Erbaut / von König Ludwig I. Koenig von Bayern / MDCCCL“ unterstrich dieses Programm.

Aber das Siegestor übernahm zugleich auch eine Aufgabe als neues Stadttor. Als Gegenstück zum Sendlinger Tor hatte neben der Residenz und vor dem Hofgarten bis 1817 das Schwabinger Tor gestanden. An seiner Stelle entstand bis 1844, in Anlehnung an die Loggia dei Lanzi in Florenz, die Feldherrnhalle. Hatte vorher beim Schwabinger Tor die Landstraße nach Schwabing begonnen, begann nun hier ab 1822 die nach Ludwig I. benannte Ludwigstraße. Ihren Abschluss bildet, als neues Schwabinger Tor, das Siegestor, auf das 1852 noch eine von Johann Martin von Wagner entworfene und von Ferdinand von Miller gegossene bronzene Bavaria-Figur gesetzt wurde, deren Wagen vier Löwen ziehen.

Literarische Streiflichter auf das Siegestor gibt es auch. In Lion Feuchtwangers bereits erwähntem München-Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930) ist „die Bavaria mit ihrer Löwenquadriga (…) das mächtige Sinnbild des kleinen Landes“.[19] Und Hermann Lenz (vgl. Station 4) beginnt seinen autobiographischen Roman Neue Zeit (1975) mit der Erinnerung an den Beginn seines Kunststudiums in München Ende 1937: „Die Stadt wiedersehen, wo das Siegestor im Nebel näherrückte, dessen Erzmedaillons die Marmorflanken schwärzten, weil über sie der Regen hundert Jahre lange herabgeflossen war. Dahinter regten sich die gelben Pappeln, schon fast ausgekämmt.“[20] Mit „Dahinter“ ist die Leopoldstraße gemeint, die noch heute von Pappeln gesäumt wird, die wiederum Günter Eich in seinem Gedicht Gegenwart (1955) erwähnt: „An verschiedenen Tagen gesehen, / die Pappeln der Leopoldstraße, / aber immer herbstlich, / immer Gespinste nebliger Sonne / oder von Regengewebe.“[21]

Abb. 12: Das Siegestor von Norden, um 1925, mit der Bavaria-Löwen-Quadriga und den beiden Trambahngeleisen. Foto: BSB (port-012318). Abb. 13: Das kriegszerstörte Siegestor im Januar 1948 vor dem Wiederaufbau, rechts die Baumgruppe um die Esche. Foto: Georg Fruhstorfer. BSB (fruh-00363). Abb. 14: Die Ecke Siegestor-/Leopold-/Schackstraße, um 1950. Foto. Johann Vorzellner. BSB (hoff-65250).

Doch zurück zum Siegestor. Ein schwerer Bombentreffer zerstörte am 12. Juli 1944[22] das Monument samt Bavaria-Gruppe so sehr, dass lange diskutiert wurde, ob es nicht besser ganz abgerissen oder doch als Mahnmal bewahrt werden sollte. (Abb. 13) Nach dem Beschluss zur „Konservierung des zerstörten Zustands“[23] entschied der Münchner Stadtrat am 16. Juli 1957 als neue Mahnmal-Inschrift auf der Stadtseite eine Inschrift zu verwenden, die der Münchner Professor für Theater Wissenschaft, Dr. Hanns Braun (1893-1966) entworfen hatte: „DEM SIEG GEWEIHT · VOM KRIEG ZERSTÖRT · ZUM FRIEDEN MAHNEND“.[24] Die Restaurierung der Bavaria samt Löwengruppe übernahmen ab 1969 Elmar Dietz, der Bildhauer des neuen Hippokrates (vgl. Station 1), und die Erzgießerei Otto Strehle in Neuötting. Im Mai 1972, noch rechtzeitig vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in München, stand die neue Bavaria mit ihren Löwen wieder auf dem geflickten Siegestor, versehen mit der von unten nicht erkennbaren „Signatur: Zerstört 12. Juli 1944 – Wiedererrichtet 1969-72“.[25]

Siebzehn Jahre später sah der Autor Peter Handke von der nahen Esche aus hinauf zu „der riesigen Frauenstatue oben auf dem Siegestor (…): Der Koloß oben schritt muskulös voraus durch die Lüfte“,[26] und verglich sie mit einer kleineren antiken Statue unter der Esche (vgl. Station 4). Gleichzeitig hörte er „[z]wischen dem Autolärm von der Leopoldstraße (…) die südslawischen Stimmen der Leute heraus (…), welche die am Straßenrand gereihten Gebrauchtwagen besichtigten.“ Die Käufer kamen damals mit der U-Bahn, die im Oktober 1971 die jahrzehntelang durch das Siegestor hin und her fahrenden Straßenbahnen abgelöst hatten. Immerhin ist Handkes knappe Erinnerung an den damaligen Automarkt um das Siegestor zum Glück nicht in dem „Getöse von der Straße“, dem „Gasröhren, Reifenquietschen, Sirenenjaulen“[27] untergegangen. Und noch heute werden in der Stadt des FC Bayern Siegestore im Fußball mit viel „Autolärm“ rund um das Siegestor gefeiert. (Abb. 14-16)

 


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[15] Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 5.

[16] Ebd., S. 6.

[17] Karl Valentin: Der überängstliche Hausverkäufer. Aufgenommen in München am 05.11.1940, Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, Dialog mit Liesl Karlstadt, in: Karl Valentin Gesamtausgabe Ton, hrsg. von Andreas Koll und Achim Bergmann. München 2002, CD 3: 1939-1940, Track 18. Diese gesprochene Passage unterscheidet sich von der Druckfassung der Typoskriptvorlage, vgl. Karl Valentin: Der überängstliche Hausverkäufer. Schallplattentext von Karl Valentin 1940, in: Karl Valentin: Sämtliche Werke in neun Bänden, Band 4: Dialoge, hrsg. von Manfred Faust und Andreas Hohenadl. München 2007, S. 79-81, hier S. 80. An diesen gedruckten Text hält sich auch der Abdruck unter dem Titel „Hausverkauf“, in: Alles von Karl Valentin. Monologe und Geschichten, Jugendstreiche, Couplets, Dialoge, Szenen und Stücke, Lichtbildreklamen, hrsg. von Michael Schulte. München, Zürich, 2. Auflage 1979, S. 233-235. Diese populäre Ausgabe gibt keine Quellen für die Texte an.

[18] Karl Valentin, Liesl Karlstadt: Münchner Fremdenrundfahrt von Karl Valentin und Lisl (!) Karlstadt Mai 1929, in: Karl Valentin: Sämtliche Werke in neun Bänden, Band 8: Filme und Filmprojekte, hrsg. von Helmut Bachmaier und Klaus Gronenborn. München 2007, S. 116-122, hier S. 121; vgl. auch die Version „Mit dem Fremdenwagen durch München“ (1929), in: Karl Valentins Filme. Ale 29 Filme, 12 Fragmente, 344 Bilder. Texte, Filmographie, hrsg. von Michael Schulte und Peter Syr, Neuausgabe 1989, S. 41f., hier S. 42.

[19] Lion Feuchtwanger: Erfolg (wie Anm. 8), S. 31.

[20] Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman (1975). Frankfurt am Main 1979, S. 7.

[21] Günter Eich: Gegenwart, in: ders.: Botschaften des Regens (1955). Frankfurt am Main 1963, S. 10f., hier S. 10.

[22] SIEGESTOR, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München (wie Anm. 5), S. 409-411, hier S. 410. Zu den Zerstörungen des Siegestors durch eine „Sprengbombe“ vgl. die Angaben unter dem „12.7.1944 Mittwoch“ und die Zusammenfassung der Schäden unter dem Datum des „16.7.1944 Sonntag“ in: Richard Bauer: Fliegerallarm. Luftangriffe auf München 1940-1945. München 2. Auflage 1997, S. 94-97, hier S. 94f.

[23] SIEGESTOR, in: Josef H. Biller, Hans-Peter Rasp: München (wie Anm. 5), S. 409-411, hier S. 410.

[24] Vgl. Otto B. Roegele: Hanns Braun, in: ders.: Ausbreitung, Lähmung, Konsolidierung – München 1963-1985, in: Arnulf Kutsch, Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen 1997, S. 62-109, hier S. 68-70.

[25] Vgl. Ludwigstraße (vormals). Siegestor mit Löwenquadriga (…), in: Denkmäler in Bayern. Landeshauptstadt München Mitte. Drittelband 2 (wie Anm. 28), S. 494-496, hier S. 496. Zur Datierung der Wiederaufstellung vgl. Karl Ude: Löwen im Anmarsch auf Schwabing. Die Quadriga für das Siegestor ist wiederhergestellt. Am Dienstag kommt sie von Neuötting nach München, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 109 vom 13./14.05.1972, S. 13.

[26] Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München (wie Anm. 1), S. 14, zum Titel „Kleine Fabel der Esche am Siegestor in München“ vgl. ebd., S. 12.

[27] Ebd.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer