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Luiz

... Luiz, eigentlich Ludwig, entdeckt nicht nur seine alte Heimat.

Am Nachmittag ist er bei weiß-blauem Bilderbuchhimmel am neuen Münchner Flughafen im Erdinger Moos gelandet. Der dreizehnstündige Flug aus Venezuela und der Jetlag steckten dem alten Herrn noch in den Gliedern, als er mit dem Taxi vor dem Bayerischen Hof am üppig begrünten Promenadeplatz. Im warmen Sonnenlicht fühlte er sich in der Stadt sogleich willkommen. In der Stadt, die er vor über 30 Jahren verlassen hatte, um als Geologe in Lateinamerika Gutachten für einen Großkonzern zu erstellen. Er war sichtlich gealtert. Aus seinem wettergegerbten, faltenreichen Gesicht unter schlohweißem Haar blitzten noch immer die neugierig-listigen wasserblauen Augen des welterfahrenen Einzelgängers. Der war er, alleine schon seines einsamen Berufes wegen, über die langen Jahre geblieben.

Schon die Fahrt mit dem Taxi aus dem Erdinger Moos auf der neuen Autobahn, entlang der Leopoldstraße durch Schwabing bis in die Innenstadt ließ ihn erkennen, wie sich München in diesen Jahrzehnten zur Moderne entwickelt hat.

Nach dem Einchecken im Hotel und einer kurzen Erfrischung im geräumigen Zimmer dieses 5-Sterne-Hauses ging er daran, sich die nähere Umgebung zu Fuß zu erschließen. Staunend schlenderte er durch die Fünf Höfe mit ihren Luxusboutiquen, In-Kneipen und diversen Angeboten, die mancher Mensch meint, sie zum Leben zu brauchen. Zum urbanen Leben. Zum auch dabei sein. Das Gesicht der Theatinerstraße empfand er als sehr verändert, bis er auf dem Odeonsplatz vor der Sankt-Kajetan-Kathedrale stand, vor der erstaunlich kleinen Eingangstüre in der gelben Fassade der Theatinerkirche. Der Lärm der Straße und das gerade noch internationale Stimmengewirr der Passanten wurden durch die dicken Mauern der Außenwände aus dem Inneren der Kathedrale ferngehalten. Eine wohltuende andächtige Stille lud ihn ein, sich in eine der vorderen Bankreihen der fast menschenleeren Kirche zu setzen. Still betrachtete er die kunstvollen Ausschmückungen der Wände und Decken dieses italienisch-spätbarocken Gotteshauses. Mit geschlossenen Augen hörte er in sich die Klänge früherer Trompeten- und Orgelkonzerte in diesem Kirchenschiff. Er saß fast eine halbe Stunde unbewegt und in sich vertieft, bis er mit der Erinnerung an eine wunderbare Aufführung der Missa Criolla von Ariel Ramirez seinen Platz und die Kirche wieder verließ. Die profane Welt hatte ihn, nun sichtlich entspannt, wieder. Gelöst und mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln spazierte er an der Feldherrnhalle vorbei, die er aus persönlichem Grunde völlig ignorierte. Zu sehr war sie für ihn mit bösen Erinnerungen an die „Hauptstadt der Bewegung“ verbunden. An das Unheil stiftende braune Geschmeiß, das hier giftig seine flammenden Hetztiraden brüllte. Durch die Residenzstraße an Nationaltheater und Spatenhaus fand er sich schließlich in der Dienerstraße.

Nun endlich saß er in seinem schon damals bevorzugten Schlaraffenland, im ersten Stock „beim Dallmayr“. Erst mal ein kühles frisch gezapftes Bier. Anschließend ließ er sich einen sehr trockenen französischen Weißwein zu lange entbehrten bayrischen und europäischen Kostbarkeiten schmecken. Es war wie damals. Er mochte dieses Flair. Er bezahlte, mit großzügigem Trinkgeld, bei dem freundlichen älteren Kellner mit dem unüberhörbaren osteuropäischen Akzent und schritt bedächtig die breite Treppe hinunter in die übervollen, verlockend nach Kaffee und verführerischen exotischen Verheißungen duftenden Verkaufsräume.

Im samstäglichen Gewühl von Kunden und Besuchern dieses Gourmettempels sah er SIE. Eine Frau, wie sie ihm überall auf der Welt sofort aufgefallen wäre. Sportlich-elegant gekleidet und von einer Aura umgeben, die er als angenehm geheimnisvoll empfand, ohne sich die Ursache hierfür jedoch mit seinem klaren Verstand als Wissenschaftler wirklich erklären zu können. Sie hatte sein Interesse geweckt, obwohl sie deutlich jünger sein musste als er selbst. Aufmerksam beobachtete er sie, ließ sie nicht mehr aus den Augen. Er folgte ihr durch die verschiedenen Abteilungen, und ihm gefiel ihre Art, wie sie sehr sorgfältig prüfend ihre Auswahl traf und diese wenigen Dinge behutsam in ihren Einkaufskorb legte. Aber was war das gerade? Kurz bevor sie sich am Ende der Schlange vor der Kasse anstellte, nahm sie offenbar zielsicher blitzschnell und im Gewühl unbemerkt eine Flasche besten Champagner aus einem kleinen Regal mit Sonderangeboten, die jedoch auf dem Weg zum Einkaufskorb auf unerklärliche Weise verschwand. Seine Neugier und sein männlicher Jagdtrieb waren nun endgültig gefordert. Er stellte sich genau hinter ihr an der Kasse an, sog tief und genüsslich ihren sinnlichen Duft ein, und beobachtete den schnöden Vorgang der Bezahlung äußerst gespannt. Der Champagner lag wirklich nicht mit den anderen Waren auf dem Kassentresen. Würde der etwaige Diebstahl bemerkt werden? Wie würde diese Dame bei einer Entdeckung reagieren? Nichts geschah. Sie bezahlte bar, wechselte noch ein paar freundliche Worte mit der jungen dunkelhäutigen Kassenkraft und verließ dann ruhig und mit dem ihr eigenen Stolz das Geschäft. Ihre angenehme dunkle Stimme noch im Ohr, verließ auch er nun den Laden, hielt kurz nach ihr Ausschau und holte sie schon nach wenigen Metern auf dem inzwischen abendlich beleuchteten Marienhof ein. In diskreter Entfernung folgte er ihr, bis sie zielsicher in einer Boutique in den Fünf Höfen verschwand. Durch das Schaufenster beobachtete er sie bei der Auswahl einiger eleganter Capes. Keines jedoch schien ihr zu gefallen, und so veranlasste sie wohl die Verkäuferin, im Lager noch weitere Modelle zu holen. Diesen Moment nutzte seine Schöne, um, mit einem der Capes bekleidet, in aller Ruhe den Laden zu verlassen. Doch die Verkäuferin war bereits zurück und folgte der Diebin laut schreiend und gestikulierend aus dem Laden.

Das war seine Chance. Mit zwei Schritten war er bei ihr.

„Ja Liebes, das gefällt mir. Das nehmen wir.“

Die Ladendiebin erfasste ihre Lage blitzschnell, und beide stellten der verdutzten Verkäuferin die Situation als ein kleines Missverständnis dar. Gemeinsam gingen alle drei wieder in den Laden zurück und er bezahlte das Cape.

In seiner oft erprobten spontanen Art lud er sie zum Abendessen in sein Hotel der Nähe ein. Sie willigte ein. Er brauchte nicht einmal sein Wissen um die gestohlene Champagnerflasche als weiteren Joker zu ziehen. Nein, sie willigte ein und seine Machoseele schlug innerlich einen gewaltigen Purzelbaum. Nach außen wirkte er wie immer – ruhig und gelassen, Herr der Situation. Das Abendessen dauerte sehr lange und fand seine vergnügte Fortsetzung im Hotelzimmer. Der geklaute Champagner erreichte inzwischen in der Minibar seine angenehme Trinktemperatur. Das zarte klingen der Gläser stimmte sie ein auf eine wunderbare schlaflose Nacht.


Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...

Verfasst von: © Klaus Grobholz, 2013

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