Seitenstettengasse 2: Kornhäuselturm

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Die Wiener Seitentstettengasse

In Wiens 1. Bezirk, rund dreihundert Meter Luftlinie vom Stephansdom entfernt, steht der so genannte Kornhäuselturm. Beinah undurchdringliche Touristenmassen strömen in dieser Gegend durch die Straßen, der Autoverkehr ist weitgehend zurückgedrängt. Die Seitenstettengasse führt leicht bergauf, sie wirkt eher still. Einige stark bewachte Einrichtungen finden sich hier, etwa die Israelitische Kultusgemeinde oder der jüdische Wohltätigkeitsverein Ohel Rahel. Der biedermeierliche Stadttempel in demselben Gebäudekomplex wurde 1826 gemäß den Bauschriften im Hof verborgen. Er bildet die Hauptsynagoge von Wien. In der Nr. 2 der Seitenstettengasse ist neben Wohnungen heute unter anderem ein koscheres Restaurant untergebracht. Biegt man um die Ecke führt eine kleine Treppe zum Fleischmarkt hinunter. Hier wird des antisemitischen Anschlags von 1981 im Bereich der Seitenstettengasse gedacht sowie an einen islamistischen Terroranschlag von 2020.

Zur Zeit seiner Erbauung und bis dahin stand der Kornhäuselturm nicht frei, sondern war von dreigeschossigen Gebäuden umgeben. Der Zugang erfolgte über die Treppen eines der anderen Wohnhäuser. Der wichtige österreichische Architekt Josef Kornhäusel (1782 – 1860) errichtete das neungeschossige Gebäude 1826 und bezog im obersten Stockwerk ein Atelier. Mit über fünfunddreißig Metern wurde der Kornhäuselturm zum höchsten Profanbau und ersten Hochhaus Wiens. Im vierten Stock des Gebäudes nahm Adalbert Stifter 1842 Wohnung und blieb dort bis zu seinem Weggang aus der Stadt im Mai 1848. Nach vielen rastlosen Umzügen ist das eine erstaunlich lange Phase der Stabilität – offensichtlich gefiel es dem Dichter seine Wohnung.

Wolfgang Matz zeichnet Stifter in dieser Phase seines Lebens als krass prokrastinierenden Spießbürger, der aufgrund seiner Leibesfülle ebenso wie seine Gattin auf Zeitgenossen gemütlich und wenig auratisch wirkte. Der inzwischen erfolgreiche Schriftsteller schrieb jedoch spannungsgeladene, düstere Texte, die das optimistische Programm der frühen Prosa, die Weltgeschichte zeige „Fortschritt und Endzweck“, nicht mehr unterfüttern können.

Oben auf diesem Wohnturm erlebte Adalbert die totale Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842. In seinem Bericht schildert er den Beginn: „Ich stieg um 5 Uhr auf die Warte des Hauses Nr. 495 in der Stadt, von wo aus man die Übersicht nicht nur über die ganze Stadt hat, sondern auch über das Land um dieselbe, bis zum fernsten Horizonte, an dem die ungarischen Berge wie zarte Luftbilder dämmern. Die Sonne war bereits herauf und glänzte freundlich auf die rauchenden Donauauen nieder, auf die spiegelnden Wasser und auf die vielkantigen Formen der Stadt, vorzüglich auf die Stephanskirche, die fast greifbar nahe an uns aus der Stadt, wie ein dunkles, ruhiges Gebirge, emporstand.“

Der heute freistehende Kornhäuselturm

Das Ereignis einer Sonnenfinsternis über Wien am 8. Juli 1842 hält Stifter in einem seiner berühmten Texte fest. Er erschien bereits sechs Tage später in der Wiener Zeitschrift. Mutig stellt er sich der Herausforderung, das nie zuvor Gesehene zu beschreiben. Interessanterweise geht er dabei von seinem physikalischen Vorwissen aus, verwirft dessen Nützlichkeit für die Schilderung der menschlichen Empfindung jedoch. Das Erlebnis kann durch Wissen nicht ersetzt werden. – Fotografische Verfahren waren zu dieser Zeit eben erst erfunden und hätten sich nicht geeignet, um die Eklipse festzuhalten. Darstellungen in der Kunst der Renaissance und des Barock, etwa bei Rubens waren vorhanden. Vor allem aber, und darauf rekurriert auch Stifter, waren es Beschreibungen, die seit biblischen Zeiten, den Hintergrund für die eigene Empfindung des Autors bildeten. Er hatte sich informiert.

Mehr als in anderen Texten Stifters tritt hier die Gewissheit der Existenz Gottes hervor – die Empfindungsfähigkeit des Menschen beweist sie, nicht die Berechnungen der Wissenschaft. Gott erhebt gewissermaßen seine Stimme in der Eklipse – doch diese Stimme ist Stille, hörbar erst, nachdem der Alltagstrubel der Stadt vollständig zum Erliegen gekommen ist: „… dann Totenstille, es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten.“ Auch die visuelle Erscheinung wird hinterrücks zu einer sehr kalten Gottesmetapher. Bei Stifter kommt es zu einer bezeichnenden Umkehrung. Er verknüpft das Göttliche mit der Dunkelheit, und das Licht mit der Verschleierung, dem Nichterkennen. In der Sonnenfinsternis, „dieser Erscheinung“, habe Gott „gleichsam nur den Mantel … von seiner Gestalt gelüftet, daß wir hineingehen, und Augenblicks wieder zugehüllt, daß alles sei wie früher.“

In seiner Interpretation zweier Texte des Dichters, die im Jahr 1842 entstanden, „Abdias“ und „Das alte Siegel“, sieht Biograf Wolfgang Matz eine „eine undurchdringliche Finsternis des Unglücks und der Sinnlosigkeit“ („Abdias“) bzw. eine dem „jungdeutschen Programm“ sehr nahe „Befreiung von den starren Fesseln der überkommenen Sitten“. Nie wieder sei Stifter dem Gedanken einer Emanzipation der Sinnlichkeit so weit gefolgt.

 


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