Herzogpark, Poschingerstraße 1
Von Januar 1914 bis Februar 1933 bewohnt die Familie Mann das eigene Haus an der Poschingerstraße 1, kurz „Poschi“ genannt; heute steht dort der bereits zweite Neubau und die Adresse lautet Thomas-Mann-Allee 10. Erika und Klaus Mann gehen von hier zunächst in eine Privatschule in der Maxvorstadt, in das Institut von Ernestine Ebermayer in der Schraudolphstraße 15/0. Danach besucht Erika von 1914 bis 1922 erst die Städtische Höhere Mädchenschule am St. Anna-Platz im Lehel und wechselt nach einem Zwischenspiel in einem Internat in der Rhön im September 1922 auf die Städtische Höhere Mädchenschule an der Luisenstraße 7, das heutige Luisengymnasium. Dort legt sie im März 1924 mit einer wohl nicht nur in der Münchner Schulgeschichte ziemlich einmaligen Ausbeute von gleich sechs (!) Fünfern (in Latein, Französisch, Englisch, Mathematik, Physik und Chemie) das Abitur ab.18
Fünf Jahre vorher hat Erika Mann die Weichen für ein Leben als Schauspielerin gestellt. Zusammen mit Bruder Klaus und dem Freund Ricki Hallgarten Mann gründet sie am 1. Januar 1919 den „Laienbund deutscher Mimiker“.19 Dazu gehören die Freunde Ricki Hallgarten, Gretel Walter und Willi Süskind sowie die Geschwister Golo und Monika. Die Halbwüchsigen wagen sich an weniger bekannte Stücke wie Theodor Körners Gouvernante, aber auch an Klassiker wie Shakespeares Was ihr wollt und Lessings Minna von Barnhelm. Thomas Mann steuert im sogenannten „Mimikbuch“, das erfreulicherweise erhalten geblieben ist, am 15. Januar 1919 eine launige Rezension bei.20 Gespielt wird bei den Manns im Haus Poschingerstraße 1, bei den Hallgartens in der Pienzenauerstraße 15 und bei Walters in der Mauerkircherstraße 43.
Erika Mann und ein Partner beim Theaterspielen auf der Diele des Hauses an der Poschingerstraße 1, um 1920 © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_2278
Diese ernsthaften Aufführungen standen freilich in einem gewissen Gegensatz zu den Eskapaden der aus dem Gründungstrio bestehenden „Herzogpark-Clique“, die durch „Unsinn-Machen und Die-Leute-Düpieren“ auffiel und dabei mit Erika Manns Talent zum Stimmenimitieren zweifelhafte Erfolge feierte.21 Eine dieser szenischen Flunkereien findet sich in Thomas Manns Familiennovelle Unordnung und frühes Leid (1925), wo Erika und Klaus Mann leicht als Vorbilder für die Figuren der „Großen“ Ingrid und Bert erkennbar sind. In der Trambahn legt Ingrid als angeblich alleinerziehendes „Ladenfräulein“ zusammen mit Bert als Zuhörer eine derartig erschütternde Szene hin, dass ein alter Herr, der sich zunächst gegen dieses öffentlich vorgetragene Schauermärchen verwahrt und von Bert scheinbar wütend bedroht wird, „an der nächsten Station schleunig den Wagen verläßt“.22 Diese Allotrai bestätigt auch der Publizist und Philosoph Ludwig Marcuse. Er hatte Erika Mann Anfang 1927 in Hamburg getroffen, wo sie als Besetzung für Ferdinand Bruckners Schauspiel Krankheit der Jugend erwogen worden war; daraus wurde zwar wegen der geplanten Tournee mit der Revue zu Vieren nichts23, aber Marcuse war begeistert:
Jedenfalls unterhielt sie mich besser als die vereinigte deutsch-französische Lustspiel-Literatur; sie beherrschte die Thomas-Mann-Sprache fließend, wie nur eine Eingeborene. Der Schöpfer dieses bekannten deutschen Dialekts schrieb ihn nur; die Tochter aber sprach ihn – und trieb so viel Allotria damit, daß er sie gewiß beneidete; denn Thomas Mann wollte vor allem Spaßmacher sein und hatte mit soviel Ernst zu ringen.24
[18] Vgl. das Reifezeugnis Erika Manns vom 9. April 1924 in: Die Kinder der Manns (wie Anm. 8), S. 65.
[19] Vgl. Klaus Mann, Kind dieser Zeit, S. 75-80; vgl. Gerta Andreas, geb. Marcks, „Der 'Laienbund Deutscher Mimiker' im Herzogpark“, in: Willibald Karl (Hrsg.), Bogenhausen. Vom bäuerlichen Pfarrdorf zum noblen Stadtteil, München 1992, S. 169f.
[20] Ebd., S. 76f.
[21] Ebd., S. 81f.; 106f.
[22] Thomas Mann, „Unordnung und frühes Leid“, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band VIII, Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen, Frankfurt a. M. 1974, S. 618-657, hier S. 623; neuerdings auch in: ders., Späte Erzählungen 1919-1953, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Hans Rudolf Vaget unter Mitarbeit von Angelina Immoos (Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), Bd. 6.1), Frankfurt a. M. 2021, S. 167-211, hier S. 173. Eine Illustration dieser Szene von Hermann Ebers findet sich in: Dirk Heißerer, Musische Verschmelzungen (II). Die Illustrationen zu Unordnung und frühes Leid, in: Alexander Krause (Hrsg.), Musische Verschmelzungen. Thomas Mann und Hermann Ebers, Erinnerungen, Illustrationen, Briefe, München 2006 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 5), S. 107-140, Bildteil S. {143]-[173], hier S. [149], Nr. 3.
[23] Vgl. Lühe, Erika Mann, S. 56.
[24] Ludwig Marcuse, Mein Zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Frankfurt a. M., Hamburg 1968, S. 96.
Von Januar 1914 bis Februar 1933 bewohnt die Familie Mann das eigene Haus an der Poschingerstraße 1, kurz „Poschi“ genannt; heute steht dort der bereits zweite Neubau und die Adresse lautet Thomas-Mann-Allee 10. Erika und Klaus Mann gehen von hier zunächst in eine Privatschule in der Maxvorstadt, in das Institut von Ernestine Ebermayer in der Schraudolphstraße 15/0. Danach besucht Erika von 1914 bis 1922 erst die Städtische Höhere Mädchenschule am St. Anna-Platz im Lehel und wechselt nach einem Zwischenspiel in einem Internat in der Rhön im September 1922 auf die Städtische Höhere Mädchenschule an der Luisenstraße 7, das heutige Luisengymnasium. Dort legt sie im März 1924 mit einer wohl nicht nur in der Münchner Schulgeschichte ziemlich einmaligen Ausbeute von gleich sechs (!) Fünfern (in Latein, Französisch, Englisch, Mathematik, Physik und Chemie) das Abitur ab.18
Fünf Jahre vorher hat Erika Mann die Weichen für ein Leben als Schauspielerin gestellt. Zusammen mit Bruder Klaus und dem Freund Ricki Hallgarten Mann gründet sie am 1. Januar 1919 den „Laienbund deutscher Mimiker“.19 Dazu gehören die Freunde Ricki Hallgarten, Gretel Walter und Willi Süskind sowie die Geschwister Golo und Monika. Die Halbwüchsigen wagen sich an weniger bekannte Stücke wie Theodor Körners Gouvernante, aber auch an Klassiker wie Shakespeares Was ihr wollt und Lessings Minna von Barnhelm. Thomas Mann steuert im sogenannten „Mimikbuch“, das erfreulicherweise erhalten geblieben ist, am 15. Januar 1919 eine launige Rezension bei.20 Gespielt wird bei den Manns im Haus Poschingerstraße 1, bei den Hallgartens in der Pienzenauerstraße 15 und bei Walters in der Mauerkircherstraße 43.
Erika Mann und ein Partner beim Theaterspielen auf der Diele des Hauses an der Poschingerstraße 1, um 1920 © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_2278
Diese ernsthaften Aufführungen standen freilich in einem gewissen Gegensatz zu den Eskapaden der aus dem Gründungstrio bestehenden „Herzogpark-Clique“, die durch „Unsinn-Machen und Die-Leute-Düpieren“ auffiel und dabei mit Erika Manns Talent zum Stimmenimitieren zweifelhafte Erfolge feierte.21 Eine dieser szenischen Flunkereien findet sich in Thomas Manns Familiennovelle Unordnung und frühes Leid (1925), wo Erika und Klaus Mann leicht als Vorbilder für die Figuren der „Großen“ Ingrid und Bert erkennbar sind. In der Trambahn legt Ingrid als angeblich alleinerziehendes „Ladenfräulein“ zusammen mit Bert als Zuhörer eine derartig erschütternde Szene hin, dass ein alter Herr, der sich zunächst gegen dieses öffentlich vorgetragene Schauermärchen verwahrt und von Bert scheinbar wütend bedroht wird, „an der nächsten Station schleunig den Wagen verläßt“.22 Diese Allotrai bestätigt auch der Publizist und Philosoph Ludwig Marcuse. Er hatte Erika Mann Anfang 1927 in Hamburg getroffen, wo sie als Besetzung für Ferdinand Bruckners Schauspiel Krankheit der Jugend erwogen worden war; daraus wurde zwar wegen der geplanten Tournee mit der Revue zu Vieren nichts23, aber Marcuse war begeistert:
Jedenfalls unterhielt sie mich besser als die vereinigte deutsch-französische Lustspiel-Literatur; sie beherrschte die Thomas-Mann-Sprache fließend, wie nur eine Eingeborene. Der Schöpfer dieses bekannten deutschen Dialekts schrieb ihn nur; die Tochter aber sprach ihn – und trieb so viel Allotria damit, daß er sie gewiß beneidete; denn Thomas Mann wollte vor allem Spaßmacher sein und hatte mit soviel Ernst zu ringen.24
[18] Vgl. das Reifezeugnis Erika Manns vom 9. April 1924 in: Die Kinder der Manns (wie Anm. 8), S. 65.
[19] Vgl. Klaus Mann, Kind dieser Zeit, S. 75-80; vgl. Gerta Andreas, geb. Marcks, „Der 'Laienbund Deutscher Mimiker' im Herzogpark“, in: Willibald Karl (Hrsg.), Bogenhausen. Vom bäuerlichen Pfarrdorf zum noblen Stadtteil, München 1992, S. 169f.
[20] Ebd., S. 76f.
[21] Ebd., S. 81f.; 106f.
[22] Thomas Mann, „Unordnung und frühes Leid“, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band VIII, Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen, Frankfurt a. M. 1974, S. 618-657, hier S. 623; neuerdings auch in: ders., Späte Erzählungen 1919-1953, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Hans Rudolf Vaget unter Mitarbeit von Angelina Immoos (Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), Bd. 6.1), Frankfurt a. M. 2021, S. 167-211, hier S. 173. Eine Illustration dieser Szene von Hermann Ebers findet sich in: Dirk Heißerer, Musische Verschmelzungen (II). Die Illustrationen zu Unordnung und frühes Leid, in: Alexander Krause (Hrsg.), Musische Verschmelzungen. Thomas Mann und Hermann Ebers, Erinnerungen, Illustrationen, Briefe, München 2006 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 5), S. 107-140, Bildteil S. {143]-[173], hier S. [149], Nr. 3.
[23] Vgl. Lühe, Erika Mann, S. 56.
[24] Ludwig Marcuse, Mein Zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Frankfurt a. M., Hamburg 1968, S. 96.

