„Drei Tage in Kyjiw.“ Von Margaryta Surzhenko

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1989 in Luhansk geboren, lebte Margaryta Surzhenko seit 2014 in Kyjiw, zurzeit in Leipzig. Nach einem Studium der Politikwissenschaft musste sie 2014 mit Beginn des Krieges im Donbas ihre Heimatstadt verlassen. Sie verfasste zwei Bücher mit Geschichten über Flüchtlinge, die im Krieg alle Besitztümer verlieren, aber trotzdem Freundschaft und Liebe finden (2014: Ato. Geschichten von Ost nach West; 2015: Hobe. Geschichten von West nach Ost). 2015 schuf Surzhenko eine Website mit 300 modernen Märchen für Kinder. Außerdem verfasste sie drei weitere Romane. Im Sommer 2022 war sie writer-in-residence des Literaturhauses Niederösterreich in Krems, im Herbst nahm sie an den Tagungen des Netzwerks Eine Brücke aus Papier in Weimar teil. Zusammen mit 11 weiteren ukrainischen Künstler*innen erhielt sie ein Sonderstipendium des Freistaats Bayern in Kooperation mit dem Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. Der folgende Text bildet den Anfang aus ihrem noch unveröffentlichten Roman Drei Tage in Kyjiw.

*

„Bleibt draußen!“ sagte eine Frau, die wie eine Hexe aussah.

Doch wir machten den Schritt und betraten den Aufzug, ohne die Verrückte zu beachten. Eine solche Unhöflichkeit entgegen allen guten Manieren und Höflichkeit in Kyjiw zu hören, war schmerzhaft, widerwärtig, beängstigend und einfach scheußlich. Meine Schwester musterte die Frau von oben bis unten und wandte verächtlich den Blick ab. Die Aufzugstür schloss sich. Wir fuhren vom elften Stock hinab ins Erdgeschoss. Die Frau begann hinter unserem Rücken zu lachen und sagte dann: „Ich hab euch doch gesagt: draußen bleiben. Jetzt muss einer von euch sterben. Der Tod hat mit euch den Aufzug betreten.“

Die Frau begann wieder zu lachen, und ich wurde vor Angst stocksteif. Ich war unfähig zu wertenden oder abwertenden Blicken, witzigen Antworten, groben Geschimpfe oder sarkastischen Sticheleien. Als ich im neunten Kriegsmonat nach Kyjiw zurückkehrte, sah ich auch ohne diese Verrückte den Tod überall. Der Blick meiner Freunde war verschwommen, sie hörten oder sahen den Tod nicht, sie konnten seine Gegenwart nicht riechen, seine Nähe nicht in ihren Eingeweiden spüren, doch ich spürte ihn jede Sekunde: ohne Luftalarm, aber vor allem während eines Luftalarms, unten in der U-Bahn, jedoch vor allem oben in hohen Gebäuden, wo man einfach von Raketen getroffen wird, weit weg von Einrichtungen des Militärs und der Energieversorgung, besonders aber in deren Nähe. Doch jetzt haben wir den Jackpot gewonnen. Der Luftalarm ging vor ein paar Minuten los, wir waren im elften Stock und in der Nähe des Hauses befand sich ein Kraftwerk. Und wenn ich mich sonst mit dem Gedanken beruhigte, dass das Gefühl des nahenden Todes nur meine Angststörung war, dann wollte ich, nachdem diese Frau darüber geredet hatte, weinen, in Panik geraten, irgendwo hinlaufen, meinen Kopf mit den Armen bedecken, ich bekam keine Luft mehr, ich fing an, auf die Anzeige mit den Nummern der Stockwerke zu stieren, die sich nur langsam ablösten, 11 auf 10. Und wenn es keine Angststörung ist? Vielleicht hatte ich all die Tage so viel Angst, weil ich wusste, dass ich bald sterben würde. Deshalb habe ich den Tod gesehen, denn er kam zu mir und folgte mir auf den Fersen.

10 auf 9.

Deshalb war ich anders als die Kyjiwer, die in der Stadt geblieben und nicht wie ich weggegangen waren. Nicht etwa, weil sie sich an den Kriegszustand gewöhnt, das Ausmaß der Angst verringert und sich mit ihr abgefunden haben, müde vom Zittern, müde vom Leben in den Korridoren, wo man im Prinzip nicht lebte, sondern überlebte und nur auf das Leben wartete.

9 auf 8.

Das war keine Angst, sondern Intuition. Wir hielten abrupt an. Die Nummer 8 verlosch. Das Licht ging aus. Der Aufzug blieb stecken. Es schien, dass mein Herz vor übergroßem Schrecken zerspringen wollte. Doch es kam noch schlimmer. Vor Angst ging ich in die Hocke und öffnete im Handy rasch die Alarmkarte, in der Hoffnung, dass Kyjiw nicht in der roten Zone war. Es gab keine Internetverbindung. Die Karte war mit einem roten Punkt auf dem Bildschirm eingefroren. Das bedeutete, dass es in der gesamten Ukraine Alarm gab. Meine Freunde meinten in so einem Fall, dass das sogar gut sei, denn es bedeute, dass sich die Chance für einen Einschlag auf alle Regionen gleichmäßig verteile und somit die Wahrscheinlichkeit getroffen zu werden für einen einzelnen Punkt abnehme. Andererseits könnte es auch schlecht sein, denn es könnte sich um einen groß angelegten flächendeckenden Angriff handeln. Ich – kein religiöser Mensch – machte, was ich die ganzen drei Tage in Kyjiw bereits gemacht hatte. Ich betete. Und die Frau neben mir lachte.

„Halt endlich die Klappe! Siehst du denn nicht, dass ihr übel ist?“ sagte meine Schwester. Zu mir sagte sie, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe. „Wir fahren gleich weiter. Beruhig dich.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass wir zu Fuß runter gehen sollen!“ entgegnete ich aus der Hocke. „Jetzt kann man doch nicht Lift fahren, Aljona! Ganz nah befindet sich ein Kraftwerk.“

Ich war in Panik und hilflos. Mir schien, dass ich für diese Welt zu sensibel war, ich hatte zu viel Fantasie, ich sah den Krieg und die Raketen, ich sah Fotos und Videos von toten Ukrainern und fühlte ihren Schmerz, ich fühlte den Schmerz jedes Hauses und jeder beschossenen Stadt, ich starb in Gedanken unendlich viele Tode während der drei Tage in Kyjiw und jeder einzelne meiner imaginären Tode erschreckte mich. Ich konnte mich nicht an das Sterben gewöhnen. Ich hatte jedes Mal Angst, als ob es das erste Mal wäre.

„Ich hab doch gesagt, draußen bleiben“, sagte die Frau in der Dunkelheit und ihr Tonfall änderte sich plötzlich. Sie lachte nicht mehr, sie sprach kalt und ernst. Als ob gar nicht sie gesprochen hätte. Als ob der Tod wirklich mit uns im Aufzug fahre. Als ob er gesagt habe: „Einer von uns dreien wird heute sterben, und das werde nicht ich sein.“

 

Februar

Nichts deutete auf Ärger hin. Abgesehen vom amerikanischen Geheimdienst und den Schlagzeilen in den Medien, die wie durch Caps Lock fixiert schon fast nach dem Krieg schrien. Wenn der Chef dieses Geheimdienstes in Begleitung meiner Psychotherapeutin, der ich mehr vertraute als mir selbst, in meine Wohnung gekommen wäre und mir etwas von dem nahenden Krieg erzählt hätte, dann hätte ich dieses Pärchen mit den Worten „Keine Panik, macht die Leute nicht verrückt!“ vor die Tür gesetzt. Danach hätte ich meine Freundin angerufen und wir hätten uns gegenseitig versichert, dass ein Krieg in Kyjiw unmöglich sei. Wir wussten natürlich, dass der amerikanische Geheimdienst besser informiert sein musste als wir. Aber wir waren uns nicht sicher, ob er schon einmal über unsere europäischen Straßen voller Leben und Freude geschlendert war. Unser Kyjiw war zu anständig, gepflegt, glücklich, zivilisiert und friedlich für einen Krieg.

Der wichtigste Trumpf, den ich in allen Gesprächen über einen möglichen Krieg ausspielte, war meine Erfahrung in Luhansk. Ich hatte den Kriegsausbruch dort gesehen und konnte meinen Freunden erzählen, dass es unmöglich sei, so etwas in der Hauptstadt zu wiederholen.

„Die Situation wurde monatelang hochgekocht. Zuerst brachte man Russen dorthin und stattete sie mit russischen Fahnen aus. Diese gekauften Protestler sollten dann auf einer Kundgebung stehen und brüllen, dass man sie retten solle,“ begründete ich meinen Freunden im Februar, warum es keinen Krieg geben werde. „Natürlich wurden da auch Einheimische aus Luhansk miteinbezogen, besonders solche, die auf den Kopf gefallen waren. Und die russische Propaganda filmte diese Story und zeigte Bilder von den Bewohnern der Ostukraine, die litten und ein besseres Leben verdienten und davon träumten, in den Nachbarstaat zu gelangen. In der Zwischenzeit wurden unter den Einwohnern von Luhansk Gerüchte gestreut, dass zehn Busse mit Banderowzi, mit westukrainischen Nationalisten, kommen würden, um sie zu töten, nur weil sie Russisch sprechen.“

Übrigens: Während alle auf die Banderowzi warteten, wurde es in Luhansk immer gefährlicher, Ukrainisch zu sprechen. Denn die eingeschüchterten Einwohner konnten ja versehentlich denken, dass eben du ein ukrainischer Nationalist bist. Und es drohten dir verschiedene Abstufungen von Gefahren – vom Spucken in den Kaffee bis hin zu einer Faust im Gesicht. Und während sich ein Teil der Einwohner von Luhansk um diese Nationalisten kümmerte, begann ein anderer zusammen mit den Russen, Verwaltungsgebäude zu besetzen. Letztere haben zumindest etwas Geld damit verdient, aber bei ersteren bin ich mir nicht sicher und es ist gut möglich, dass sie nur eine ideelle Befriedigung davon hatten.“

Meine lebhafteste Erinnerung betrifft den Angriff auf unsere friedliche Kundgebung am 9. März. Meine Freunde und ich kauften Tulpen, die an diesem Tag deutlich billiger wurden, und brachten sie zum Denkmal unseres Nationaldichters Taras Schewtschenko, um ihm zu seinem Geburtstag zu gratulieren. Wir standen dort und hörten zu, wie ein Gedicht nach dem anderen von einer Art Bühne vorgetragen wurde. Auch ich habe ein Gedicht vorgetragen, das ich auswendig konnte. Leider stand ich da und rezitierte das Gedicht mit dem vielleicht widerwärtigsten Gesichtsausdruck meines Lebens – denn mir gegenüber bettelten die gekauften Protestler den Diktator um Hilfe an. Doch plötzlich bewegte sich die Herde auf uns zu. Sie drängten uns ab, zertrampelten unsere Blumen und unsere blau-gelbe Fahne und hängten dann ihre dreifarbigen Lappen auf. Das alles war im März, und die Panzer fuhren erst im Juni in Luhansk umher. Das zeugt davon, dass Krieg nichts Spontanes ist und nicht einfach so über die Städte kommt, er braucht eine Grundlage, Zeit und eine Bühne.

„Habt ihr hier schon so ein Narrentreiben gesehen?“, fragte ich meine Freunde, die so etwas in Kyjiw, noch dazu im Februar, bestimmt nicht gesehen hatten.

Sie sahen nur Restaurants voller Menschen, Touristen, die sich nicht vor den Schlagzeilen in den Medien fürchteten, Journalisten, die Kyjiw und die Landesgrenzen beobachteten, Theater und Konzerte, Straßenmusiker, Staus und keine aufgeheizte öffentliche Stimmung. Kein Grund also, Militär zu schicken.

Wer konnte schon ahnen, dass die Schizophrenie des Diktators oder sein Gefühl, ihm sei alles erlaubt in acht Jahren, so weit fortschreiten würde. Jetzt benötigte er keine inszenierten Bilder mehr, er begann, frecher zu agieren. Warum Geld für Demotourismus, für Busse, für das Schneiden von Videos und für das Senden von Nachrichten vergeuden? Es reicht schließlich auch, einfach etwas daher zu reden, so in dem Sinn, dass man sicher wisse, dass es Nazis gebe und man sie bombardieren müsse. Und dann kann auch schon mit der Bombardierung begonnen werden. Mit dem gesparten Geld lassen sich ein paar mehr Raketen kaufen, um eine noch größere Anzahl von Ukrainern zu töten. Aber weder ich noch meine Freunde noch viele andere Menschen, die Timothy Snyder nicht gelesen haben und den Schlagzeilen keinen Glauben schenkten, wussten nichts von der fortschreitenden Schizophrenie und dem Gefühl der eigenen Straflosigkeit des Diktators.

Die Menschen in Kyjiw lebten also ihr Leben. Und mit ihm die Bewohner von Irpin, Butscha und Hostomel, die sich oft auch als Kyjiwer bezeichnen. Damals wusste die Welt nichts über unsere Städte, also war es einfacher zu sagen, dass man aus Kyjiw kam, denn Gott bewahre, sonst würde noch jemand denken, Irpin sei eine Art bäuerliche Einöde. Aber Irpin ist fast genauso wie Kyjiw, nur mit sauberer Luft, Wäldern, billigeren Wohnungen, gepflegten Parks mit Grillstationen in Form von Hirschen, auf denen man Schaschlik grillen kann, mit günstigeren Preisen für Zahnärzte und Kosmetikerinnen. In zeitlicher Hinsicht sind wir den Kyjiwern freilich unterlegen durch den Zeitverlust auf dem Weg zu den Büros in der Hauptstadt. Und auch die Fülle an brandneuen Gebäuden, die wie Teenager in der Pubertät wachsen, beäugte man besorgt, denn dadurch könnte sich die Fahrtzeit bald verdoppeln. Doch Corona spielte uns in die Hände und in den Zeiten der großen Lockdowns fühlten wir uns wie die absoluten Gewinner. Wir konnten sogar während der Arbeitszeit illegal ins Fitnessstudio gehen und keiner hätte irgendetwas geahnt. Unsere Arbeitgeber dachten, wir säßen am Computer. Und wir tankten entspannt Frischluft in Parks oder Wäldern, denn unsere Bosse konnten uns von ihren Kyjiwer Wolkenkratzern aus kaum sehen. In Irpin war alles nah gelegen. Mir gefiel besonders, dass man in der Nähe guten Kaffee bekommen konnte, und zusammen mit dem Kaffee auch freundliche Jungs, die jedes Mal lächelten und schon wussten, was man mag, mit Zucker oder ohne.

Nichts deutete also darauf hin, welch Ärger im Februar über uns hereinbrechen würde. Wir gingen in Restaurants und Cafés, zum Business Breakfast und zu Meditationen, Malkursen und literarischen Lesungen. Ich lernte Englisch und bereitete mich auf Vorstellungsgespräche vor. Ich wurde nirgendwo genommen, ich war ein wenig frustriert, sah mir die Lehrbücher noch einmal an, wiederholte technisches Englisch, schickte meinen Lebenslauf noch einmal. Es schien, Arbeitslosigkeit sei mein größtes Problem im Leben.

Und dann wachte ich am Morgen des 24. Februar von einer Explosion auf und alle meine Vorkriegsprobleme traten in den Hintergrund.

 

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)