38. Literarischer Herbst: Lesung mit Philipp Weiss
Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen von Philipp Weiss
Wunderschön sind die fünf Bände in dem Schuber, die zusammen den ausufernden Debütroman bilden, den ein junger Wiener Autor in mehrjähriger Arbeit hervorgebracht hat. Nimmt man die Bücher einzeln zur Hand, bewundert man die Kunstfertigkeit und ästhetische Erfahrung, die Pauline Altmann in Typographie und Gesamtgestaltung gesteckt hat. Wir kennen ja von ihr bereits einige bibliophil gestaltete Bücher der Reihe Naturkunden aus dem Verlag Mattes & Seitz, Berlin.
Mehr als tausend Seiten sind es insgesamt in den verschiedensten Erzählhaltungen, Stilarten, Zeitkontexten, Schreibabsichten, auf denen sich Lebensentwürfe, Gedankensplitter, Befindlichkeiten von fünf Hauptpersonen ausbreiten. Das prägende und bestimmende Ereignis, zumindest in dreien der fünf Bände, ist die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011. So verwundert es nicht, dass Japan als Schauplatz und Bezugsrahmen dominiert. Obwohl jeder der Romanteile autonom ist, gibt es Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Personen und Motive, die sich überlagern.
Zeitlich am weitesten zurück, nämlich bis ins Jahr 1870 reicht Enzyklopädien eines Ichs. Unendlich ausführlich, in einer mitunter schwer lesbaren altmodischen Sprache, versucht Paulette Blanchard anhand des Alphabets sich ihrer selbst zu vergewissern. Doch was zuerst wie das gefühlige Mäandern einer höheren Tochter zwischen willkürlich gewählten Begriffen erscheint, entpuppt sich als die Emanzipationsgeschichte einer starken Frau.
Die Physikerin und Klimaforscherin Chantal Blanchard folgt in dem Band Cahiers den Spuren ihrer Ururgroßmutter Paulette von Sibirien bis nach Japan. Ihre Reisenotizen zeugen von tiefer, hoffnungsloser Einsamkeit. Durch Intrigen im Institut und auch aus eigenem Mangel an Kommunikationsfähigkeit wurde sie aus einer wissenschaftlichen Karriere manövriert. Dazu kommt die Sehnsucht nach Jona. Das alles erklärt ihre Verzweiflung nicht völlig, die ist existenzieller Natur.
Jona, ein gefragter künstlerischer Fotograf, hat Chantal auf einer Tagung kennengelernt. Aus der anfangs rein geistigen Beziehung wurde eine Amour fou zwischen dem androgynen Jüngling und der zwanzig Jahre älteren Frau. Doch nun ist Chantal verschwunden. Jona vermutet sie in Japan und reist nach Tokio. Dort gerät er in das Erdbeben, das die Atomhavarie in Fukushima auslöst. Jona taumelt durch physische und psychische Grenzsituationen. Den*die Leser*in jedoch erreichen die Ereignisse als die differenzierte, gut fassbare Ich-Erzählung Terrain Vague.
Akios Aufzeichnungen wiederum sind Monologe, die ein neunjähriger Junge auf seinen ziellosen Wanderungen durch das verwüstete Gelände um das Atomkraftwerk in ein Diktiergerät spricht. Mit Jona haben er und seine kleine Schwester eine flüchtige Begegnung.
Und schließlich noch die Graphic Novel in Mangamanier Die glückseligen Inseln über die versehrte Abra, die in Jonas Erzählung ebenfalls eine Rolle spielt.
Manche Kritiker*innen mäkeln an dem Autor, er habe sich übernommen und für sein Sujet keine adäquate literarische Form gefunden. Bleibt die Frage, ob ein solch komplexer, Welt umspannender Stoff nicht jegliche Form sprengen muss.
Philipp Weiss wurde 1982 in Wien geboren, wo er derzeit auch lebt und arbeitet. Er studierte Germanistik und Philosophie und veröffentlichte Theaterstücke und Erzählungen. Für das vorliegende Romandebüt bekam er bereits Auszeichnungen, u. a. den Rauriser Literaturpreis 2019.
38. Literarischer Herbst: Lesung mit Philipp Weiss

Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen von Philipp Weiss
Wunderschön sind die fünf Bände in dem Schuber, die zusammen den ausufernden Debütroman bilden, den ein junger Wiener Autor in mehrjähriger Arbeit hervorgebracht hat. Nimmt man die Bücher einzeln zur Hand, bewundert man die Kunstfertigkeit und ästhetische Erfahrung, die Pauline Altmann in Typographie und Gesamtgestaltung gesteckt hat. Wir kennen ja von ihr bereits einige bibliophil gestaltete Bücher der Reihe Naturkunden aus dem Verlag Mattes & Seitz, Berlin.
Mehr als tausend Seiten sind es insgesamt in den verschiedensten Erzählhaltungen, Stilarten, Zeitkontexten, Schreibabsichten, auf denen sich Lebensentwürfe, Gedankensplitter, Befindlichkeiten von fünf Hauptpersonen ausbreiten. Das prägende und bestimmende Ereignis, zumindest in dreien der fünf Bände, ist die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011. So verwundert es nicht, dass Japan als Schauplatz und Bezugsrahmen dominiert. Obwohl jeder der Romanteile autonom ist, gibt es Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Personen und Motive, die sich überlagern.
Zeitlich am weitesten zurück, nämlich bis ins Jahr 1870 reicht Enzyklopädien eines Ichs. Unendlich ausführlich, in einer mitunter schwer lesbaren altmodischen Sprache, versucht Paulette Blanchard anhand des Alphabets sich ihrer selbst zu vergewissern. Doch was zuerst wie das gefühlige Mäandern einer höheren Tochter zwischen willkürlich gewählten Begriffen erscheint, entpuppt sich als die Emanzipationsgeschichte einer starken Frau.
Die Physikerin und Klimaforscherin Chantal Blanchard folgt in dem Band Cahiers den Spuren ihrer Ururgroßmutter Paulette von Sibirien bis nach Japan. Ihre Reisenotizen zeugen von tiefer, hoffnungsloser Einsamkeit. Durch Intrigen im Institut und auch aus eigenem Mangel an Kommunikationsfähigkeit wurde sie aus einer wissenschaftlichen Karriere manövriert. Dazu kommt die Sehnsucht nach Jona. Das alles erklärt ihre Verzweiflung nicht völlig, die ist existenzieller Natur.
Jona, ein gefragter künstlerischer Fotograf, hat Chantal auf einer Tagung kennengelernt. Aus der anfangs rein geistigen Beziehung wurde eine Amour fou zwischen dem androgynen Jüngling und der zwanzig Jahre älteren Frau. Doch nun ist Chantal verschwunden. Jona vermutet sie in Japan und reist nach Tokio. Dort gerät er in das Erdbeben, das die Atomhavarie in Fukushima auslöst. Jona taumelt durch physische und psychische Grenzsituationen. Den*die Leser*in jedoch erreichen die Ereignisse als die differenzierte, gut fassbare Ich-Erzählung Terrain Vague.
Akios Aufzeichnungen wiederum sind Monologe, die ein neunjähriger Junge auf seinen ziellosen Wanderungen durch das verwüstete Gelände um das Atomkraftwerk in ein Diktiergerät spricht. Mit Jona haben er und seine kleine Schwester eine flüchtige Begegnung.
Und schließlich noch die Graphic Novel in Mangamanier Die glückseligen Inseln über die versehrte Abra, die in Jonas Erzählung ebenfalls eine Rolle spielt.
Manche Kritiker*innen mäkeln an dem Autor, er habe sich übernommen und für sein Sujet keine adäquate literarische Form gefunden. Bleibt die Frage, ob ein solch komplexer, Welt umspannender Stoff nicht jegliche Form sprengen muss.
Philipp Weiss wurde 1982 in Wien geboren, wo er derzeit auch lebt und arbeitet. Er studierte Germanistik und Philosophie und veröffentlichte Theaterstücke und Erzählungen. Für das vorliegende Romandebüt bekam er bereits Auszeichnungen, u. a. den Rauriser Literaturpreis 2019.