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29.01.2014, 13:43 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [334]: Wenn sich Gustav unter Menschen betrübt

Der abscheuliche und lange Sektor nimmt nach genau 14 Seiten ein Ende – und es ist nichts mehr passiert, als dass der Erzähler uns neben 1000 „Kleinigkeiten“ mitteilte, dass Gustav auf ein Abendessen geht, sich mit Beata trifft, schweigt und sich vor den „witzigen“ Hofleuten unwohl fühlt. Alles das, um uns mit Nachdruck darüber zu unterrichten, dass zwischen ihm und der Welt ein unmessbarer Abstand liegt, der nur – aber was heißt hier „nur“? - durch die sog. Natur ausgefüllt werden kann. Nachdem die Residentin, der sein temporäres Interesse galt, in der Gesellschaft ihr Genügen findet und Beata mit dem Papa nach Hause gegangen ist, geht Gustav – ins Freie. Hier atmet er, das überrascht nicht mehr, hier atmet er auf, und hier denkt er wieder seine todessehnsüchtigen Wünsche:

O zu dir, große Natur, will ich allzeit kommen, wenn ich mich unter den Menschen betrübe; du bist meine älteste Freundin und meine treueste, und du sollst mich trösten, bis ich aus deinen Armen vor deine Füße falle und keinen Trost mehr brauche.

Nicht, dass man ein tätiges Eingreifen in die menschliche Gesellschaft provozieren müsste. Nicht, dass man von jedem Menschen verlangen dürfte, dass er sich engagiert – aber Gustavs geheime Gedanken wirken so, als würde er dieses Abschiednehmen schon vor der Zeit praktizieren: als wünschte er sich, endlich aus den Armen der Natur vor ihre Füße zu fallen.

Gustav(!)[1] Mahler hat dieses Lebens-, besser: Sterbegefühl – ungefähr 100 Jahre, nachdem ein anderer Romantiker den einsamen Mönch am Meer malte – bezwingend komponiert:

Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!
Wohin ich geh'?
Ich geh', ich wand're in die Berge.
Ich suche Ruhe für mein einsam Herz.
Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte.
Ich werde niemals in die Ferne schweifen.
Still ist mein Herz und harret seiner Stunde!
Die liebe Erde allüberall
Blüht auf im Lenz und grünt aufs neu!
Allüberall und ewig blauen licht die Fernen!Ewig... ewig...

Mit diesen aus dem Chinesischen übersetzten Versen Hans Bethges endet Das Lied von der Erde. Der Sektor aber endet nicht in der Depression – sondern mit der Ankunft eines Briefes. Die Erde hat ihn, Gustav, also wieder.

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[1] Mahler trug nicht nur zufällig den Namen unseres „Helden“, sondern komponierte bekanntlich auch seine erste Symphonie auf Motive des Titan.

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