„Magst du es nicht, schau nicht hin.“ Von Anna Melikova

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Anna Melikova auf der Berlinale 2022

1984 in Jewpatorija geboren, wächst Anna Melikova auf der Krim auf. Nach einem Studium der Germanistik in Kyjiw geht sie nach Moskau. 2017 zieht sie nach Berlin, wo sie bis heute lebt. Sie arbeitete unter anderem als Programmleiterin für das Filmfestival „2morrow“ in Moskau und schrieb das Drehbuch für Grand Jeté (2022) von Isabelle Stever. 2022 ist sie Teil der Auswahlkommission der Reihe „Berlinale Panorama“. 2022 wurde sie als Stipendiatin der LCB-Autor*innenwerkstatt und 2023 als Berlinale Talent für die Script Station ausgewählt. Der folgende Text bildet einen Auszug aus ihrem noch unveröffentlichten Debütroman Ich ertrinke in einem fliehenden See.

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Nach dem Frühstück steigen wir ins Auto. Magst du es nicht, schau nicht hin, sagt Papa und rückt das Georgsbändchen sorgfältig zurecht. Mir gefällt es wirklich nicht, und so beschließe ich, es mir ganz genau anzusehen und nicht, wie sonst, wegzuschauen. Vielleicht ist es ja diese ätzende Farbe. Da bin ich ganz konsequent: Vor zehn Jahren konnte ich Orange nicht leiden, als es den Hauptplatz der Stadt füllte, in der ich damals lebte, und ich mag es auch jetzt nicht, wenn es, von Schwarz in Streifen geschnitten, an Autospiegeln, Jackenaufschlägen und Taschengriffen hängt – in der Stadt, in der ich jetzt lebe, und auch in der Stadt, in der ich als Kind gelebt hatte, aber gewiss nicht in der Stadt, in der ich vor zehn Jahren lebte. Aber meine Beständigkeit geht nicht über diese Farbe hinaus. Alles andere in mir hat sich mit den Städten verändert: Jewpatorija, Kyjiw, Moskau. Bei meinem Vater ist es genau umgekehrt. Er hat keine Vorliebe für Farben: Damals mochte er das Blau und Weiß der Partei der Regionen, heute mag er Orange und Schwarz. Aber sonst ist er stabil. Ich bin es nicht. Er wird nicht müde, mich daran zu erinnern. Wie ist das möglich, fragt er, wer hat dich verdorben. Früher warst du ein normaler Mensch, hattest die richtigen Ansichten, und jetzt bist du eine Banderowka, auch wenn du gerade aus Moskau kommst. Du bist wie eine Wetterfahne, sagt Papa und will schon ein altes Lieblingslied der Band „Maschina Wremeni“ anstimmen, aber gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, dass die jetzt sein ideologischer Feind ist und „Annexion“ statt „Wiedervereinigung“ singt.

Schau lieber aus dem Fenster.

Die Bäume auf der Krim blühen, wie immer um diese Zeit. In gleicher Farbe, mit gleichen Blüten. Es ist ihnen egal, wie das Land heißt, auf dem sie wachsen. Wem es gehört. Niemandem. Hier sind sie ihre eigenen Herren. Oder Gefangene. Die Menschen können gehen, wenn ihnen etwas nicht passt, wenn sie anders gewählt haben, wenn ihre Stimmen nicht berücksichtigt, nicht gehört wurden, aber die Bäume bleiben. Die Werbung für ukrainisches Waschpulver auf den Plakatwänden ist jubelnden Slogans über die „Wiedervereinigung“ gewichen. Manchmal werden die Slogans durch das Bild des Oberchefs verstärkt. Die Bäume versuchen, die Slogans zu verdecken, sie zu besiegen, aber es gelingt ihnen nicht. Die Werbetafeln haben sich der Landschaft angepasst und sind ein Teil von ihr geworden. Sie fühlen sich jetzt wie die neuen Herren. Wem das nicht gefällt, der wird nicht festgehalten, der kann sich verpissen. Ich schließe die Augen. Papa dreht das Radio leiser, und der feierliche Sprechgesang, der die Musik ebenso unterbricht wie die Werbetafeln die Bäume, ist kaum noch zu hören.

Nickerchen gemacht? Wir sind am Kai von Sewastopol angekommen, Papa parkt neben dem Auto seines Bruders. Was für ein Glück, Parkplätze für zwei Autos gleichzeitig zu finden. Heute ist hier alles voll. Alles ist wie im Rausch. Alle wollen mitmachen. Na klar, sage ich, und Papa schaut mich an, als hätte ich ihm auch das gesagt, was ich wirklich denke. Verdirb uns nur nicht die Feier. Behalte deine Gedanken für dich. Ich schweige ja, ich schweige, sage ich, und nachdem ich das gesagt habe, schweige ich wirklich. Papa reicht mir das Mineralwasser, immer noch dasselbe wie früher, aber bald wird es das auch nicht mehr geben: Er wird ein russisches Äquivalent besorgen müssen, das den gleichen Kalzium- und Magnesiumgehalt hat wie das, was Papa gewohnt ist.

Um zum Platz zu gelangen, von dem aus man eine gute Aussicht haben soll, gehen wir um die Südbucht herum. Manchmal sieht man auf den Straßen noch gelb-blaue Fahnen, als hätte jemand beim Umzug seine Sachen in der alten Wohnung liegen lassen. Sie scheinen sich in den Ecken zu verstecken, scheinen ausharren zu wollen, vielleicht vergisst man sie, vielleicht rührt man sie nicht an, lässt sie in Ruhe, und dann wird es schon irgendwie gehen. Aber scharfe Augen finden sie. Geschickte Hände räumen sie weg, tauschen sie gegen andere Farben aus, übermalen sie. Das Wichtigste dabei ist, die Reihenfolge nicht durcheinander zu bringen, sonst kommt etwas anderes heraus. Jeder merkt sich, wie er kann: erst blutiger Boden, dann blauer Himmel, dann weißer Überhimmel. Wem das zu schwierig ist, der kann auch einen Pinsel in die Hand nehmen, ihn in drei Farbeimer tauchen und vor sich hin sprechen: KGB. Erst K für krasnij, rot, dann G für goluboj, blau, dann B für belij, weiß. Das passt, so kann man es sich gut merken. Magst du es nicht, schau nicht hin, sagt Papa wieder und wirft die leere Flasche in einen Mülleimer, der infolge menschlicher Anwesenheit überquillt.

Wo soll ich sonst hinschauen?

Schau – in den Himmel. Dort beginnt gleich die Show. Seit anderthalb Monaten läuft diese Show nun schon, murmele ich, aber meine Worte gehen im herannahenden Dröhnen unter, das früher bedrohlich geklungen hat, wie ein Signal, in Deckung zu gehen, aber jetzt – das kommt darauf an, wer es hört. Der Maihimmel füllt sich abwechselnd mit Hubschraubern und Flugzeugen, die aussehen wie 1945. Aber das geht zu weit. Sie hätten sich auf das Zeitgenössische beschränken können – es geht ja nicht mehr um Erinnerung. Bist du etwa gegen den Sieg, fragt mich meine Tante. Ich frage nach, welchen Sieg sie denn eigentlich meint, aber ihre Antwort geht unter im Lärm der Menge und der Flugzeuge, die mit Todesloopings Siegesbotschaften schreiben. Sie werden von den neu orientierten Stadtbewohnern und von den russischen Gästen der Heldenstadt Sewastopol mit begeistertem „Hurra“ begrüßt. Ein Fallschirmspringer springt ab und landet, nachdem er seine Flugbahn genau berechnet hat, in einer jubelnden Menge, in der die einen vor lauter Aufregung eine Hymne zu singen beginnen und die anderen sie sofort aufgreifen, noch bevor sie sich einigen können, welche Hymne sie singen sollen. Mit der Melodie kann man nicht viel falsch machen. Beim Text ist das schon schwieriger. Was soll man also tun? Soll man den auswendig gelernten Text singen, mit dem man einst gesiegt hat, oder doch den neuen, den man sich schlecht merken kann, mit dem man sich jetzt wiedervereint hat? Um die Verwirrung zu übertünchen, fängt einer an zu klatschen und zu pfeifen, und alle anderen klatschen und pfeifen mit und nehmen sich vor, die Sache mit der Hymne noch zu klären und sie dann auswendig zu lernen. Ein Trio von Fallschirmspringern erkennt, dass sie an der Reihe sind. Sie springen. Der erste Springer entrollt eine rote Fahne. Hurra! Der zweite Fallschirmspringer entrollt eine blaue Fahne. Hurra! Der dritte scheint verwirrt, er schafft es nicht, seine Fahne zu entrollen. Aber alle wissen ja schon, dass sie weiß ist. Also doch noch einmal: Hurra! Man nimmt es dem Fallschirmspringer nicht übel. Die Leute sind heute freundlich und nachsichtig. Schließlich ist dies nur eine Probe für die Parade. Ein, zwei Fehler sind erlaubt. Das Wichtigste ist, dass am 9. alles reibungslos läuft. Dass alles in Ordnung ist. Wie befohlen. Unter der Hand wird gesagt, dass er persönlich kommt. Wie könnte er nicht da sein? Das ist ja sein Sieg.

Kap Fiolent in der Nähe von Sewastopol. Bild von Ольга Примачек auf Pixabay

Ein lebendiger, nicht sanktionierter Schrei durchbricht das dumpfe Dröhnen der Maschinen und die kollektiven Hurra-Rufe. Eine Möwe, die ein streng blickender Mann mit seiner Angelschnur statt eines Fisches gefangen hat, schreit vor Schmerz oder Schrecken. Sie schreit immer lauter, die Menschen hören es, die Vögel auch. Die einen kommen herbeigelaufen und versammeln sich um den Mann, die anderen fliegen um die Möwe herum. Sie wollen sie entweder retten oder ihr die Augen aushacken, und sie wehrt sich – entweder glaubt sie nicht an ihre guten Absichten, oder sie weiß, dass sie böse sind. Die Menschen sagen pst, pst, leise, bitte die Probe nicht stören. Doch der strenge Mann scheint die allgemeine Besorgnis nicht zu bemerken, mit eiskalter Ruhe rollt er langsam die Schnur auf und zieht die Möwe immer und immer näher zu sich heran. Die Möwe wirft sich hin und her. Die Möwe strengt sich über ihre Kräfte an. Die Möwe will nicht am Ufer sein. Als sie fast an der Kaibrüstung ist, packen sie mehrere Menschen am Schnabel, damit sie nicht zuschnappt, und an den Pfoten, damit sie ruhig bleibt, dann löst der Mann die Schlinge auf und lässt die Möwe frei. Er macht das so gekonnt, als hätte er das schon oft gemacht. Als hätte es solche Möwen schon einmal gegeben, gefangen und dann wieder freigelassen. Vielleicht ist das nicht immer gut gegangen. Vielleicht blieb der Haken im Hals der Möwe stecken, durchbohrte ihn, das Blut floss heraus und das Meer färbte sich rot. Aber die Sanitäter des Meeres – Seetang, Algen, Muscheln – machten ihre Arbeit gut: Sie reinigten das Meer, filterten es, gaben ihm seine natürliche Farbe zurück, und die Möwenkadaver wurden von der Strömung weggetragen. Das Meer wurde wieder glatt, alles war vergessen. Ruhe kehrte ein.

Schau, schau. Die Flugzeuge drehen noch immer ihre Loopings, und die dankbaren Zuschauer, die sie mit ihren Telefonen filmen, werden nicht müde, über die Geschicklichkeit der Piloten zu staunen. Du kannst auch mal knipsen, sagt Papa, das ist doch so schön, wo sonst kannst du so etwas sehen? Und ohne meine Antwort abzuwarten, hebt er wieder den Kopf. Ich schaue. Ich sehe die Möwe nicht mehr. Sie ist hinter den Wolken oder in den Wellen verschwunden. Andere Vögel sind mit ihr weggeflogen – weit weg von Anglern, zur Hölle mit ihnen, gebt endlich Ruhe. Das Meer ist groß, die Welt ist es nicht. Der Mann im Angleranzug beschließt ebenfalls, nicht länger hier zu bleiben: Er rollt seine Angel ein und geht langsam davon, die gefangenen, durchbohrten Fische hat er ins Wasser geworfen, der Fang selbst hat ihn schon befriedigt. Die Fische, die bis dahin zu überlebt haben, schwimmen davon. Die es nicht geschafft haben, bleiben da. Das Meer begräbt. Das Meer rettet. Das Meer ist immer noch da. Der Mann geht immer weiter weg, er hinterlässt auf dem Asphalt die Spuren seiner nassen Stiefel, in denen er in diesen ersten Maitagen frieren muss. Dann verschwindet er für immer.

Welcher Looping hat dir am besten gefallen, fragt mein Vater, genau wie in meiner Kindheit, als wir bei Demonstrationen auf der Krim die besten sowjetischen Plakate auswählten, auf denen der tägliche Arbeitseinsatz, der friedliche Himmel und die Maisonne gepriesen wurden. Ich zucke mit den Schultern. Die Schlinge um den Hals der Möwe, die gelöst wurde, damit sie frei fliegen konnte. Papa ärgert sich. Was haben deine Mutter und ich bei deiner Erziehung bloß falsch gemacht? Du verstehst nichts, du hast immer Mitleid mit irgendwem. Mit irgendwelchen Krüppeln. Mit Schwachen. Mit Hilflosen. Du hättest woanders hinschauen sollen. In den Himmel, dort war die Kraft, dort war die Macht, sagt er, als er die Tür unseres Autos öffnet, das noch ukrainische Nummernschilder hat, aber drinnen läuft schon russisches Radio. Keine Ahnung auf welcher Seite Mama jetzt stehen würde, sie hat die Ukraine geliebt, sie hat Kyjiw geliebt und bedauert, dass ich nach Moskau gezogen bin, sage ich, während ich mich auf den Beifahrersitz setze und Papa kopfschüttelnd den Motor startet.

Ich schaue nicht auf das baumelnde Georgsbändchen, das bei jeder Kurve ruckelt, ich schaue Papa an. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, ihn allein zu sehen, obwohl er mir früher immer nur als Teil eines Ganzen erschienen ist. Ich habe mich daran gewöhnt, ihn anzurufen, auch wenn früher alle Telefongespräche ihn nur in den Erzählungen meiner Mutter erreicht hatten. Ich gewöhnte mich daran, über sein separates, autonomes Schicksal nachzudenken, wie über das Schicksal einer Halbinsel, die nur durch eine schmale Landenge mit dem Festland verbunden ist. Und vielleicht würde ich mich eines Tages daran gewöhnen, ihn mit jemand anderem zu sehen, jemand Fremdem, und mich daran gewöhnen, dass es mich nichts angeht.

Und die Möwen, obwohl sie keine Flugzeuge waren, sind auch schön geflogen, wie gut, dass diese Verrückte gerettet wurde, sagt Papa und schaut mich an, ich lächle und nicke zurück.

(2014)

Deutsch von Boris Borisovich


Kleiner Kommentar: Der Text nimmt Beobachtungen und Details von Melikovas Reise auf die Krim (2014, anderthalb Monate nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel) auf. Das Georgsband ist ein Symbol der „russischen Welt“, der Annexion der Krim und des Krieges im Donbas. Es ist ein Band mit drei schwarzen und zwei orangen Streifen. Orange war zehn Jahre zuvor die Farbe der Orangen Revolution in der Ukraine, die Melikova in Kyjiw miterlebte. Deren Anhänger wurden, wie 2014 die Aktivisten der Maidan-Revolution, in Russland als Nationalisten denunziert. „Partei der Regionen“ ist die größte prorussische Partei in der Ukraine. Die Erzählerin wird nach dem ukrainischen Unabhängigkeitsführer Stepan Bandera abfällig „Banderowka“ genannt. „Wiedervereinigung“ steht im russischen Sprachgebrauch für die Annexion der Krim. Die russische Nationalhymne übernahm die Melodie der sowjetischen Hymne, es wurde jedoch ein neuer Text dazu gedichtet.