Rezension zu Lydia Dahers Lyrikband „Wo wir bleiben“
Das jüngste, lyrische Werk der Dichterin und Musikerin Lydia Daher, Wo wir bleiben (Voland & Quist 2025), spürt gemäß seines Titels einem Leben zwischen Stadt und Land poetisch nach. Der Lyriker Florian Birnmeyer hat diesen Band fürs Literaturportal gelesen und versteht ihn thematisch als die poetische Stimme einer alleinerziehenden Mutter, die das Leben vor besondere Herausforderungen stellt. Ein Leben, das ihr aber auch Momente besonderen Glücks und außergewöhnlicher Poesie beschert.
*
Zwischen Natur und kindlicher Fantasie
Vorangestellt ist dem Lyrikband Dahers der Anfang des Poems these poems der afroamerikanischen Menschenrechtsaktivistin und Dichterin June Jordan:
„These poems
they are things that I do
in the dark
reaching for you
whoever you are
and
are you ready?“
Daraufhin steigt Lydia Daher ins erste Kapitel des Bandes ein, der mit „und ab jetzt bei Farnen sein“ überschrieben ist und dessen Kapitelauftakt mit einigen abstrakten Bildern in Schwarzweiß verziert ist.
Wir steigen ein in Brandenburg, unweit von Berlin, auf dem Land. Nebel, Nachbarschaft, Stelzenhäuser. Der Sohn spricht vom Nebel, die Gedanken des Sohnes, kindliche Gedanken, fantasievolle Gedanken, sind in kursiv gesetzt, um sie von den mütterlichen Gedanken und den Ideen der Erwachsenen zu unterscheiden. Doch da ließe sich die Frage stellen: Was unterscheidet in der Lyrik, in der Fantasie, in der Welt der Literatur kindliche und erwachsene Ideen? Wo verläuft die Grenze? Sind Kinder wirklich unvernünftig oder nur radikale Träumer, Fantasten?
Der Sohn sagt:
„Der Nebel ist ein kleines Tier.
Es fliegt durch die Lüfte.
Es ist so klein, dass man eins allein
nicht sehen kann.“
Die erwachsene Lyrikerin erwidert:
„Lass uns nicht von vorn anfangen, sondern hier.
In diesem Stelzenhaus in Brandenburg, wo wir glauben
ans Weiß der Wildkirschen, den Atem dieser Gegend,
die Spaten, die Heide, den Schorf und die kleinen Geschichten
ausgetauscht zwischen Nachbarn.
Dazu Millionen von Mücken, Musik auf dem Wasser
und immer riechts nach feuchtem Gras [...].“
Wer auf dem Land aufgewachsen ist – ob in Brandenburg oder anderswo – kann sich etwas darunter vorstellen: Die Natur ist für Lydia Daher ein Ort der Zuflucht, ein Spiegel des Selbst. Fast wie in der Romantik verdoppelt sich das Ich in ihrer Wahrnehmung der Landschaft. Bäume werden zu festen Größen, an denen man sich orientieren kann. Gerüche vermitteln Geborgenheit, und die wiederkehrenden Abläufe des Jahres erinnern an die Verlässlichkeit der Kindheit.
Doch dieses Naturbild ist nicht naiv – es trägt feine Unschärfen in sich. Für Daher bleibt die Natur dennoch ein Rückzugsort: ebenso wie die poetisch-fantasievollen Gedanken des Kindes ein Ausweg aus den Zwängen des Erwachsenenlebens sind.
Ernstes Spiel
Alles ist ernstes Spiel hier:
„Warte, Mama, gleich
wird was schön.
Hebst den Arm.
Hältst mir eine Möhre ans Ohr.
Hörst du die Erde,
hörst du ihr Summen?
Ich versuche ein Lächeln.
Mein Gesicht wächst hinein.“
Der Vater nimmt eine zugleich abwesende und präsente Rolle ein – auch ihm widmet Lydia Daher ein Gedicht. Darin spielt sie, wie in einigen anderen Texten auch, mit der Groß- und Kleinschreibung.
„Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa da?
Papa!
JAAA!“
Urbane Lyrik: Kippensammler in Hoodies
Während im ersten Teil von Wo wir bleiben das Verhältnis von Mutter und Sohn sowie ihre jeweiligen Rollen im Mittelpunkt stehen, richtet sich der Blick im zweiten Teil auf die Stadt Berlin. Ging es zuvor um die Natur und stellte Daher ihre Fähigkeit zum lyrischen Nature Writing unter Beweis, überträgt sie diese poetische Sensibilität im Kapitel „mit der Kälte gehen“ auf die urbane Landschaft.
Die Gedichte dieses Abschnitts sind von einer gänzlich anderen Tonalität geprägt: Die kindliche Unschuld ist verschwunden. Stattdessen geht es um die Härten des städtischen Lebens – Wohnungslosigkeit, Dreck, Tauben, Rauch, Einsamkeit, das Sammeln von Kippen, Beton und Armut.
So trist diese Themen zunächst erscheinen mögen, gelingt es Daher, sie in einer poetischen Form zu verarbeiten, die überraschend zugänglich bleibt. Ihre Texte enden oft mit einer Pointe, die die Schwere der Themen aufbricht – etwa im ebenfalls in Versalien gehaltenen Gebet-Gedicht, das mit augenzwinkernder Ernsthaftigkeit eine eigene Art der Hoffnung formuliert.
„Die Stadt klebt uns am Körper
Wir beten.
Mach, dass alles gut wird
durch den Regen,
durch die Graupel,
durch den Hagel,
einen Downburst
unsretwegen.
Dass wir uns nicht
ergeben.“
Keines von Lydia Dahers Gedichten trägt einen Titel – jedes steht für sich allein, Gedicht für Gedicht, Zeile für Zeile. Oft erinnern ihre Texte an poetische Gesänge, durchzogen von zündenden Ideen, Bildern, Metaphern und mehreren Pointen. So auch das lautmalerische Gedicht, das mit klanglicher Wucht und rhythmischer Präzision wirkt wie ein kleiner, musikalischer Rausch:
„Hoodie mit Kind.
Fuffi im Wind.
Scharfe Schritte.
Erase, Reprint.“
Poesie als Refugium
Der letzte Teil des Gedichtbandes, „hineinfinden, weiter“, unterscheidet sich im Ton deutlich vom Beginn. Er schlägt eine erwachsene, melancholische und von Reue durchzogene Stimmung an. Es geht um Trennung, um Verlassenwerden und Verlassensein. Dieser Abschnitt wirkt wie das erwachsene Gegenstück zum ersten Teil – zurecht spiegelverkehrt zu ihm angeordnet und durch das mittlere Kapitel getrennt.
Vielleicht ist die kindliche Reaktion auf Schmerz eine Form der Zuflucht – ein inneres Ausweichen in Fantasie und Natur. Und vielleicht holt uns das erwachsene Leben irgendwann alle ein. Vielleicht ist die Kindheit nur ein Übergang – und die Poesie die kleine Kindheit, die wir uns zurückerobern.
Lydia Daher: Wo wir bleiben. Gedichte (edition Azur). Verlag Voland & Quist, Berlin 2025, 93 S.
Rezension zu Lydia Dahers Lyrikband „Wo wir bleiben“>
Das jüngste, lyrische Werk der Dichterin und Musikerin Lydia Daher, Wo wir bleiben (Voland & Quist 2025), spürt gemäß seines Titels einem Leben zwischen Stadt und Land poetisch nach. Der Lyriker Florian Birnmeyer hat diesen Band fürs Literaturportal gelesen und versteht ihn thematisch als die poetische Stimme einer alleinerziehenden Mutter, die das Leben vor besondere Herausforderungen stellt. Ein Leben, das ihr aber auch Momente besonderen Glücks und außergewöhnlicher Poesie beschert.
*
Zwischen Natur und kindlicher Fantasie
Vorangestellt ist dem Lyrikband Dahers der Anfang des Poems these poems der afroamerikanischen Menschenrechtsaktivistin und Dichterin June Jordan:
„These poems
they are things that I do
in the dark
reaching for you
whoever you are
and
are you ready?“
Daraufhin steigt Lydia Daher ins erste Kapitel des Bandes ein, der mit „und ab jetzt bei Farnen sein“ überschrieben ist und dessen Kapitelauftakt mit einigen abstrakten Bildern in Schwarzweiß verziert ist.
Wir steigen ein in Brandenburg, unweit von Berlin, auf dem Land. Nebel, Nachbarschaft, Stelzenhäuser. Der Sohn spricht vom Nebel, die Gedanken des Sohnes, kindliche Gedanken, fantasievolle Gedanken, sind in kursiv gesetzt, um sie von den mütterlichen Gedanken und den Ideen der Erwachsenen zu unterscheiden. Doch da ließe sich die Frage stellen: Was unterscheidet in der Lyrik, in der Fantasie, in der Welt der Literatur kindliche und erwachsene Ideen? Wo verläuft die Grenze? Sind Kinder wirklich unvernünftig oder nur radikale Träumer, Fantasten?
Der Sohn sagt:
„Der Nebel ist ein kleines Tier.
Es fliegt durch die Lüfte.
Es ist so klein, dass man eins allein
nicht sehen kann.“
Die erwachsene Lyrikerin erwidert:
„Lass uns nicht von vorn anfangen, sondern hier.
In diesem Stelzenhaus in Brandenburg, wo wir glauben
ans Weiß der Wildkirschen, den Atem dieser Gegend,
die Spaten, die Heide, den Schorf und die kleinen Geschichten
ausgetauscht zwischen Nachbarn.
Dazu Millionen von Mücken, Musik auf dem Wasser
und immer riechts nach feuchtem Gras [...].“
Wer auf dem Land aufgewachsen ist – ob in Brandenburg oder anderswo – kann sich etwas darunter vorstellen: Die Natur ist für Lydia Daher ein Ort der Zuflucht, ein Spiegel des Selbst. Fast wie in der Romantik verdoppelt sich das Ich in ihrer Wahrnehmung der Landschaft. Bäume werden zu festen Größen, an denen man sich orientieren kann. Gerüche vermitteln Geborgenheit, und die wiederkehrenden Abläufe des Jahres erinnern an die Verlässlichkeit der Kindheit.
Doch dieses Naturbild ist nicht naiv – es trägt feine Unschärfen in sich. Für Daher bleibt die Natur dennoch ein Rückzugsort: ebenso wie die poetisch-fantasievollen Gedanken des Kindes ein Ausweg aus den Zwängen des Erwachsenenlebens sind.
Ernstes Spiel
Alles ist ernstes Spiel hier:
„Warte, Mama, gleich
wird was schön.
Hebst den Arm.
Hältst mir eine Möhre ans Ohr.
Hörst du die Erde,
hörst du ihr Summen?
Ich versuche ein Lächeln.
Mein Gesicht wächst hinein.“
Der Vater nimmt eine zugleich abwesende und präsente Rolle ein – auch ihm widmet Lydia Daher ein Gedicht. Darin spielt sie, wie in einigen anderen Texten auch, mit der Groß- und Kleinschreibung.
„Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa rar.
Papa da?
Papa!
JAAA!“
Urbane Lyrik: Kippensammler in Hoodies
Während im ersten Teil von Wo wir bleiben das Verhältnis von Mutter und Sohn sowie ihre jeweiligen Rollen im Mittelpunkt stehen, richtet sich der Blick im zweiten Teil auf die Stadt Berlin. Ging es zuvor um die Natur und stellte Daher ihre Fähigkeit zum lyrischen Nature Writing unter Beweis, überträgt sie diese poetische Sensibilität im Kapitel „mit der Kälte gehen“ auf die urbane Landschaft.
Die Gedichte dieses Abschnitts sind von einer gänzlich anderen Tonalität geprägt: Die kindliche Unschuld ist verschwunden. Stattdessen geht es um die Härten des städtischen Lebens – Wohnungslosigkeit, Dreck, Tauben, Rauch, Einsamkeit, das Sammeln von Kippen, Beton und Armut.
So trist diese Themen zunächst erscheinen mögen, gelingt es Daher, sie in einer poetischen Form zu verarbeiten, die überraschend zugänglich bleibt. Ihre Texte enden oft mit einer Pointe, die die Schwere der Themen aufbricht – etwa im ebenfalls in Versalien gehaltenen Gebet-Gedicht, das mit augenzwinkernder Ernsthaftigkeit eine eigene Art der Hoffnung formuliert.
„Die Stadt klebt uns am Körper
Wir beten.
Mach, dass alles gut wird
durch den Regen,
durch die Graupel,
durch den Hagel,
einen Downburst
unsretwegen.
Dass wir uns nicht
ergeben.“
Keines von Lydia Dahers Gedichten trägt einen Titel – jedes steht für sich allein, Gedicht für Gedicht, Zeile für Zeile. Oft erinnern ihre Texte an poetische Gesänge, durchzogen von zündenden Ideen, Bildern, Metaphern und mehreren Pointen. So auch das lautmalerische Gedicht, das mit klanglicher Wucht und rhythmischer Präzision wirkt wie ein kleiner, musikalischer Rausch:
„Hoodie mit Kind.
Fuffi im Wind.
Scharfe Schritte.
Erase, Reprint.“
Poesie als Refugium
Der letzte Teil des Gedichtbandes, „hineinfinden, weiter“, unterscheidet sich im Ton deutlich vom Beginn. Er schlägt eine erwachsene, melancholische und von Reue durchzogene Stimmung an. Es geht um Trennung, um Verlassenwerden und Verlassensein. Dieser Abschnitt wirkt wie das erwachsene Gegenstück zum ersten Teil – zurecht spiegelverkehrt zu ihm angeordnet und durch das mittlere Kapitel getrennt.
Vielleicht ist die kindliche Reaktion auf Schmerz eine Form der Zuflucht – ein inneres Ausweichen in Fantasie und Natur. Und vielleicht holt uns das erwachsene Leben irgendwann alle ein. Vielleicht ist die Kindheit nur ein Übergang – und die Poesie die kleine Kindheit, die wir uns zurückerobern.
Lydia Daher: Wo wir bleiben. Gedichte (edition Azur). Verlag Voland & Quist, Berlin 2025, 93 S.