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28.05.2025, 10:00 Uhr
Sophia Merwald
Rezensionen

Rezension zu Doris Dörries Essay „Wohnen“ (2025)

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© Hanser Verlag

Doris Dörrie erzählt in ihrem autobiografischen Essay Wohnen, was das Leben drinnen und draußen ausmacht. Sie entlarvt patriarchale Ideale, die bis heute unser Verständnis des Zusammenlebens prägen. Eine Reise vom wiederaufgebauten Elternhaus über Virginia Woolfs geistiges Zuhause bis hin zu japanischen Tatami-Räumen.

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Am Anfang einer jeden kindlichen Fantasie steht das Spiel: In Doris Dörries Fall das Puppenhaus als Abbild einer Ordnung, als Experimentierraum des Wohnens. Sie stellt eine Hausordnung auf den Kopf, die viele patriarchale Haushalte in den 60er-Jahren durchzog. Wer gehört in welches Zimmer? Wer übt wo welche Tätigkeit aus? Wie wäre es mit: Kinder an den Herd, Mutter auf die Couch, Vater ins Stockbett? In dieser Spielerei erkennt Dörrie die Ausweglosigkeit der eigenen Mutter, ihrer Rolle als Hausfrau, der Beschränkung auf nur einen Raum.

Ähnlich verspielt spinnt Dörrie ihre Abhandlung weiter, mit kindlicher Lust fügt sie zusammen, was eigentlich getrennt wird: das Drinnen und das Draußen. Unser Leben erscheint oft genauso zweigeteilt – wie Szenen in Drehbüchern – nach „INNEN WOHNUNG TAG oder AUSSEN STRASSE NACHT“. Nur wenige Dinge erledigen wir draußen wie drinnen gleichermaßen. Dörrie wollte nie in einem Drinnen leben, es zog sie hinaus zu den anderen. „Draußen vermutete ich das Leben, draußen fand ich Geschichten, Inspiration, und mehr als meine eigene interessierten mich die Wohnungen meiner Figuren.“

Die kleine Doris wächst in einem privilegierten Drinnen auf – eine Ärztefamilie väterlicherseits –, doch gerade da gedeiht die Sehnsucht nach Ausbruch. Aus dem elterlichen Nest in Hannover zieht es sie nach New York, München, Los Angeles, Tokio und immer wohnt sie zwischen Tür und Angel. Eine Zeit lang in einer Obdachlosenunterkunft in New York, weil sie dort kein bezahlbares Zimmer findet. Dann wieder in zahllosen Studenten-WGs. Etwa zusammen mit ihrer Schwester, als sie gerade mit Männer ihren filmischen Durchbruch feiert und Hollywood auf dem Festnetz anruft.

Anstatt von einer Hausenden zur Wohnenden zu werden, richtet sie lieber Studio-Wohnungen für ihre Filme ein oder streunert auf Motivsuche durch fremde Apartments und Häuser. In den USA geht sie regelmäßig zu Besichtigungen atmosphärisch toter Villen. Nie mit dem Wunsch, eine davon zu bewohnen oder gar zu kaufen. Nur um sich vorzustellen, wie andere leben könnten. Denn „Wohnungen sind Metaphern. Sie erzählen immer über uns. Als Inszenierung oder unfreiwillig, aber immer erzählen sie.“

Bewohnen und bewohnt werden

Diese Faszination für den privaten Raum, die Sicherheit, die wir uns in den eigenen vier Wänden erhoffen, verbindet Dörrie heute mit dem angespannten Wohnungsmarkt und den vielen Krisen, die vor der Haustür lauern. Mit all jenen Kräften, die Abschottung als Lösung aller Probleme propagieren. Auch fehlende Gemeinschaftsräume sowie die ausbleibende Zurückeroberung des öffentlichen Raums beklagt sie. So banal die Erkenntnis sein mag: Einen Raum bewohnen nicht nur wir, er bewohnt auch uns. Er erzählt, was wir erlebt haben, erleben wollen und welche Möglichkeiten uns bleiben.

Doris Dörrie erzählt uns, wie sie erzählt, am Beispiel des Wohnens. Wie unsere Art und Weise des Zusammenlebens, etwa gemeinsame Essenszeiten, Nahrung fürs Schreiben sein kann. Welches Futter das Wohnen dem Erzählen gibt und umgekehrt. „Zu schreiben und Filme zu machen, ist für mich, wie ein Gericht mit verschiedenen Zutaten zuzubereiten, den Tisch zu decken, Themen und Handlungen zu servieren.“ Die Konzentration auf die Küche, auf das patriarchale Abbild eines Raumes, brutzelt Dörrie in ihrer Pfanne.

Doch was erzählt ihre persönliche Wohn-Ablehnung? Sie erzählt von einer politischen Haltung, einer Abwendung von bürgerlichen Verhältnissen: „Wir wollten uns nicht einrichten, nicht etablieren.“ Sie erzählt aber auch von der Mutter, die bis zu ihrem Lebensende um die heimelige Sicherheit bangte. Die fürchtete, die Fassade des trauten Heims könnte wieder einstürzen wie zu Kriegszeiten. In der Küche wohnen wie die eigene Mutter oder so aufgeräumt wie die Geschwister, all das kann Dörrie sich nicht vorstellen. Ihr Wohnen erzählt sie als Nicht-Stillstehende, als Lebende. Mit dem Ziel, möglichst wenig zu besitzen, um leichter fortzuziehen oder in der Not türmen zu können.

Nichts besitzen zu wollen, impliziert auch, zumindest mal etwas besessen zu haben. Oder sich auf Eltern verlassen zu können, die die Vergangenheit in Kisten auf dem Speicher bunkern. Es bedeutet, jemand anderes hat etwas, also kann ich verzichten. So entsteht der Eindruck, dass Dörries Wohn-Losigkeit keine reine Abkehr von der elterlichen Verhaftung im Örtlichen ist, sondern eher ein selbstgewählter Ausweg. Das behütete Aufwachsen als Geschenk, das nicht zur Last fallen soll. Dem gegenüber stehen diejenigen, die versuchen, etwas festzuhalten, was sie nie besessen haben.

Im Fluss bleiben

Zu wohnen, meint nicht nur den gegenständlichen Raum, sondern ermöglicht auch einen geistigen, von dem etwa Virginia Woolf gesprochen hat. Im besten Fall konnte sie sich „in den letzten Satz hinablassen“, den sie tags zuvor geschrieben hatte. Der eigene Text als außerkörperlicher und doch verinnerlichter Raum? Dörrie kämpft seit ihrem Auszug mit dieser Idee eines eigenen (Arbeits-)Zimmers. Was tun, wenn das Schreiben dort nicht so recht funktionieren will? Wenn der Raum so mit Bedeutung aufgeladen ist, dass man ihn auspressen müsste, um überhaupt etwas zu schaffen? Dörrie schreibt am besten in ihrem Bett und es wird dauern, bis sie sich damit anfreunden kann.

Überraschenderweise geht es bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Wohnen zumindest vordergründig wenig um die Suche nach einem Zuhause. Erst auf den letzten Seiten klingt an, was Dörrie in dem Bauernhaus, das sie seit der Geburt ihres ersten Kindes bewohnt, gefunden hat: Vielleicht ist zuhause dort, wo man manche Aufgaben nie erledigt, diese eine Ecke nie aufräumt, eine störende Kante nicht abschleift, wo man nicht alles reparieren muss.

Ging es denn Virginia Woolf um die Suche nach einem zumindest geistigen Zuhause? Oder um die Frage, wann eine Frau etwas für sich beanspruchen darf? Etwas, das nicht als Verweigerung einer anderen Tätigkeit gelesen wird? Doris Dörrie ist keine Verweigerin, auch wenn ihr der Wohntyp-Test des „Zeitmagazins“ anderes attestiert. Sie ist eine, die gelernt hat, sich anzulehnen, sich kulturelle Räume zu leihen, ohne sich festzukrallen. Die in manchen Zimmern die Fenster offenlässt, in ihrem eigenen Tatami-Raum auf Reispapier-Matten sitzt und womöglich selbst in einem Baumhaus leben könnte.

Dörrie übersetzt ihren Wunsch nach einem Überall in ein fließendes Sammelsurium an Mobiliar: Filmreferenzen, Möbelstücke, Erinnerungsräume, Japan, die USA – leichtfüßig laufen diverse zeitliche und örtliche Ebenen ineinander, Drinnen und Draußen, Biografisches wie Politisches. Wohnen kommt ohne Kapitel, ohne weitere Überschriften aus, erzählt Umzüge im Umblättern und das Wichtigste im ewigen Weiterziehen. Selbst in den letzten Sätzen scheint dieser Text nicht anhalten oder gar enden zu wollen.


Doris Dörrie: Wohnen. Hanser Berlin 2025, 123 S., ISBN 978-3-446-27963-6

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