Die Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers denkt über den Essay „Verzweiflungen“ (2025) von Heike Geißler nach
Die Schriftstellerin Heike Geißler findet in ihrem, in unserem Leben viele Anlässe für Verzweiflung. Woher kommt die Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft – von den Geschlechterrollen, dem Heroismus, der Militarisierung? Sie wehrt sich gegen Rechtsextremismus, feindselige Strukturen und nicht aushaltbare Verhältnisse. Und übt einen neuen Ansatz, um daraus Trost und Mut zu schöpfen.
*
Heike Geißler hat schon in Romanen wie Rosa (2002), Nichts, was tragisch wäre (2007), Saisonarbeit (2014) oder Die Woche (2022) einen wach-kritischen Blick auf die Gegenwart geworfen. Hierbei hat sie sozialkritische Themen stets mit einer sehr geistreichen, originellen Sprache verbunden. Stilistisch hat sie eben nicht die Art von leicht lesbarer, geradliniger Prosa verfasst, die man vielleicht bei „sozialkritischer Literatur“ erwarten würde. Sie schreibt oft lyrisch-dicht, essentialistisch, bleibt nie deskriptiv.
In ihrem nun in Buchform erschienenen Essay Verzweiflungen (2025) folgt man der Autorin auf einem wilden introspektiven Ritt durch all die „Zumutungen“ der Gegenwart, von groben Mitmenschen („Es ist Rot, du Arschloch!“) bis hin zu dem sich abzeichnenden Ergebnis der US-Wahl und dem Erfolg der AfD in Deutschland, um nur ein paar Verzweiflungsanlässe der Autorin zu nennen. Der Plural verweist auf die Vielzahl von Bedrohungen, die von nah und fern ständig auf sensible Zeitgenossinnen und Zeitgenossen einprasseln. Die Themenkreise sind Europa, Krieg, Rechtsruck, Demokratiefeindlichkeit, aber auch sehr private Ereignisse. Heike Geißler möchte nicht abstumpfen, sich nicht an Unerträgliches aufgrund schierer Dauerpräsenz gewöhnen. Die Flucht in überlegenen Zynismus, eine oft gewählte akademische Pose, ist ebenfalls nicht in Geißlers Sinn. Sie flüchtet nicht in belehrende Betrachtungen aus der Vogelperspektive, schlägt keinen Krisendurchblicker-Ton („Ihr Dreizehnmalklugen“) an.
Stattdessen spielt sie verschiedene Modi durch, um mit den Dauerbelastungen umzugehen: Die Anrufung von Schutzengeln („Ich, begleitet von Recken, gehe einkaufen“), Erinnerungen an „Märchen und Gegenmärchen“, Zufluchtsorte in der Literatur, Selbst-Ermutigung („Ich bin jetzt alle Recken, die ich kenne“), sie stimmt ein Lob auf die Verdrängung an („Ablenkung, goldene Fähigkeit“) und erinnert an den Eskapismus ihrer Mutter, die statt über Politik nur über „schöne Dinge“ sprechen wollte. Sie konstatiert, dass nicht nur sie allein unter den gegenwärtigen Bedrohungen leidet; sie stellt einen Kollektivbefund auf, dem im Moment wohl kaum jemand widersprechen würde: „Ich kenne niemanden, der oder dem nicht häufiger schlecht ist als früher. Das Grundrauschen ist Übelkeit“.
Statt eine Marschroute vorzugeben, zitiert sie lieber Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Philosophinnen und Philosophen oder andere ihr wichtige Personen, deren ganz unterschiedliche Beobachtungen und Krisenbewältigungsstrategien sie interessieren: Hélène Cixous, Donna Haraway, Sören Kierkegaard, Cassie Thornton, Rebecca Solnit, Dietmar Dath, Hölderlin, Kurt Tucholsky, Gilda Sahebi, Cynthia Fleury, die autistische Autorin Heidi Fischer und viele mehr.
Ultimativ große Begriffe
Beeindruckend ist die Beschreibung von unbefriedigenden Gesprächen mit Verwandten, die sich eine politisch felsenfeste Meinung zugelegt haben und einfach nur Recht haben wollen. Hier trifft Geißler den Zeitgeist, beschreibt eine Situation, die wohl viele Leserinnen und Leser nachvollziehen können; ebenso die konkrete Sorge um ihre beiden Söhne angesichts der neuen Militarisierung der Gesellschaft („Im Kindergarten hieß es noch die ganze Zeit, ihr sollt nicht schießen, aber jetzt sollt ihr, oder was?“). Eine literarisch starke Szene ist ihre Beschreibung der Bulimie, an der sie als junge Frau litt: „Während ich überlegte, was ich kochen könnte, bemerkte ich diesen alten Impuls, zu fressen und zu kotzen (es ist nicht zu essen und sich übergeben“.
Allerdings: Heike Geißler spricht oft von sich und nicht alles, was sie protokolliert ist zwingend interessant für die Leserinnen und Leser („ich brauche Ruhe“, „Gerade versuche ich nicht, irgendwas in den Griff zu kriegen“). Oft fährt Geißler auch ultimativ große Begriffe auf, was auf Dauer ein wenig ertauben lässt: „Tod“, „Wahrheit“, „Verzweiflung“, „Todesschrei“, „Urschrei“, „Tränen“, „Zusammenbruch“, „Verwüstungen“ – manchmal wäre hier weniger mehr gewesen, und nicht immer kann man den Furor der Autorin nachvollziehen. Da gerinnt einiges zu Allgemeinplätzen, und manch Kapitalismuskritik kommt allzu routiniert daher.
Überzeugender wird Verzweiflungen immer dann, wenn Geißler ausgehend von eigenen Erlebnissen zu einem gesellschaftlichen Befund kommt: So rekurriert sie auf ihr Aufwachsen in der DDR (sie ist in Riesa aufgewachsen, hat in München studiert), beschreibt wie ihre Mutter ihre alten Stasi-Akten liest, deren Inhalt noch heute bei der Autorin fast paranoid anmutende Gefühle auslöst, ob der Dinge, die statt- oder vielleicht doch nicht stattgefunden haben. Sie blickt zurück auf die Ängste ihrer Eltern: „Der Grundton meiner Kindheit, meines Lebens: Bitte nicht. Das wird mir langsam klar. Bitte lass das nicht geschehen, bitte lass das an mir vorüberziehen“. Und sie spürt, wie die elterliche Lebensangst ihre eigenen Beklemmungen fundiert: „Die Angst, alles zu verlieren, die Angst ausgesetzt zu sein“.
Doch da, am tiefsten Punkt der Furcht, in der „Jauchegrube“, macht sie eine andere Erfahrung, die von Resilienz: „Ich gehe unter. Ich tauche wieder auf“. Zu Beginn des Buchs lockt Geißler die Leserinnen und Leser damit, dass sie im Laufe des Buchs einen „schlechten Witz“ erzählen wird, er folgt auf einer der letzten Seiten und zeugt von dieser neu gefundenen, eigenen pragmatischen Stärke: „Wer ist immer für dich da, wenn du fällst? Der Boden.“
Das Stilprinzip der Sprunghaftigkeit
Geißler kommt oft zu ganz eigenen Schlüssen, so wenn sie sich ein Zitat von Björn Höcke vornimmt – und vorführt: „Und Höcke sagt: ‚Es ist klar geworden, dass ich Opfer einer verzerrten Medienberichterstattung bin, dass ich mit Nationalsozialismus nichts, aber auch gar nichts am Hut habe, und dass ich völlig unschuldig bin‘. Aber nicht einmal ich würde das so sagen: dass ich mit Nationalsozialismus nichts am Hut habe. Dass ich völlig unschuldig bin. Das wird man von mir nicht hören. Tätervolk steht auf der Rippe, aus der mich die Geschichte formte.“
Assoziationen, Zitate, Exkurse, lyrische Verdichtung, Gedankensprünge: Bei Verzweiflungen handelt sich eher um eine persönlich gehaltene, bewusst wenig strukturierte Bestandsaufnahme als um eine stringente Analyse der Gegenwart. Dabei ist das Stilprinzip der Sprunghaftigkeit, der oft atemlos erscheinenden Reihungen bewusst gewählt: Wie Holden Caulfield in Der Fänger im Roggen, der ein Loblied auf die „Abschweifung“ singt, empfindet Geißler die von ihr zelebrierte „Ablenkung“, das Assoziative als etwas Kreatives und Befreiendes. Zugleich entspricht der Essay in seiner verästelten Form eben der Pluralität der Verzweiflungen. Bei aller Sprunghaftigkeit kann man jedoch ein fein gewobenes Netz an Themen und Ebenen erkennen, untergründigen Verbindungslinien nachvollziehen.
Verzweiflungen ist ein mit Verve geschriebener, kluger, oft überraschende Wendungen nehmender, überwiegend gelungener Essay, der aber auch an Ich-Lastigkeit und Generalisierungen leidet.
Heike Geißler: Verzweiflungen. Essay, edition suhrkamp, 2025, 221 S., ISBN 978-3-518-12873-2
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Die Schriftstellerin Heike Geißler findet in ihrem, in unserem Leben viele Anlässe für Verzweiflung. Woher kommt die Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft – von den Geschlechterrollen, dem Heroismus, der Militarisierung? Sie wehrt sich gegen Rechtsextremismus, feindselige Strukturen und nicht aushaltbare Verhältnisse. Und übt einen neuen Ansatz, um daraus Trost und Mut zu schöpfen.
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Heike Geißler hat schon in Romanen wie Rosa (2002), Nichts, was tragisch wäre (2007), Saisonarbeit (2014) oder Die Woche (2022) einen wach-kritischen Blick auf die Gegenwart geworfen. Hierbei hat sie sozialkritische Themen stets mit einer sehr geistreichen, originellen Sprache verbunden. Stilistisch hat sie eben nicht die Art von leicht lesbarer, geradliniger Prosa verfasst, die man vielleicht bei „sozialkritischer Literatur“ erwarten würde. Sie schreibt oft lyrisch-dicht, essentialistisch, bleibt nie deskriptiv.
In ihrem nun in Buchform erschienenen Essay Verzweiflungen (2025) folgt man der Autorin auf einem wilden introspektiven Ritt durch all die „Zumutungen“ der Gegenwart, von groben Mitmenschen („Es ist Rot, du Arschloch!“) bis hin zu dem sich abzeichnenden Ergebnis der US-Wahl und dem Erfolg der AfD in Deutschland, um nur ein paar Verzweiflungsanlässe der Autorin zu nennen. Der Plural verweist auf die Vielzahl von Bedrohungen, die von nah und fern ständig auf sensible Zeitgenossinnen und Zeitgenossen einprasseln. Die Themenkreise sind Europa, Krieg, Rechtsruck, Demokratiefeindlichkeit, aber auch sehr private Ereignisse. Heike Geißler möchte nicht abstumpfen, sich nicht an Unerträgliches aufgrund schierer Dauerpräsenz gewöhnen. Die Flucht in überlegenen Zynismus, eine oft gewählte akademische Pose, ist ebenfalls nicht in Geißlers Sinn. Sie flüchtet nicht in belehrende Betrachtungen aus der Vogelperspektive, schlägt keinen Krisendurchblicker-Ton („Ihr Dreizehnmalklugen“) an.
Stattdessen spielt sie verschiedene Modi durch, um mit den Dauerbelastungen umzugehen: Die Anrufung von Schutzengeln („Ich, begleitet von Recken, gehe einkaufen“), Erinnerungen an „Märchen und Gegenmärchen“, Zufluchtsorte in der Literatur, Selbst-Ermutigung („Ich bin jetzt alle Recken, die ich kenne“), sie stimmt ein Lob auf die Verdrängung an („Ablenkung, goldene Fähigkeit“) und erinnert an den Eskapismus ihrer Mutter, die statt über Politik nur über „schöne Dinge“ sprechen wollte. Sie konstatiert, dass nicht nur sie allein unter den gegenwärtigen Bedrohungen leidet; sie stellt einen Kollektivbefund auf, dem im Moment wohl kaum jemand widersprechen würde: „Ich kenne niemanden, der oder dem nicht häufiger schlecht ist als früher. Das Grundrauschen ist Übelkeit“.
Statt eine Marschroute vorzugeben, zitiert sie lieber Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Philosophinnen und Philosophen oder andere ihr wichtige Personen, deren ganz unterschiedliche Beobachtungen und Krisenbewältigungsstrategien sie interessieren: Hélène Cixous, Donna Haraway, Sören Kierkegaard, Cassie Thornton, Rebecca Solnit, Dietmar Dath, Hölderlin, Kurt Tucholsky, Gilda Sahebi, Cynthia Fleury, die autistische Autorin Heidi Fischer und viele mehr.
Ultimativ große Begriffe
Beeindruckend ist die Beschreibung von unbefriedigenden Gesprächen mit Verwandten, die sich eine politisch felsenfeste Meinung zugelegt haben und einfach nur Recht haben wollen. Hier trifft Geißler den Zeitgeist, beschreibt eine Situation, die wohl viele Leserinnen und Leser nachvollziehen können; ebenso die konkrete Sorge um ihre beiden Söhne angesichts der neuen Militarisierung der Gesellschaft („Im Kindergarten hieß es noch die ganze Zeit, ihr sollt nicht schießen, aber jetzt sollt ihr, oder was?“). Eine literarisch starke Szene ist ihre Beschreibung der Bulimie, an der sie als junge Frau litt: „Während ich überlegte, was ich kochen könnte, bemerkte ich diesen alten Impuls, zu fressen und zu kotzen (es ist nicht zu essen und sich übergeben“.
Allerdings: Heike Geißler spricht oft von sich und nicht alles, was sie protokolliert ist zwingend interessant für die Leserinnen und Leser („ich brauche Ruhe“, „Gerade versuche ich nicht, irgendwas in den Griff zu kriegen“). Oft fährt Geißler auch ultimativ große Begriffe auf, was auf Dauer ein wenig ertauben lässt: „Tod“, „Wahrheit“, „Verzweiflung“, „Todesschrei“, „Urschrei“, „Tränen“, „Zusammenbruch“, „Verwüstungen“ – manchmal wäre hier weniger mehr gewesen, und nicht immer kann man den Furor der Autorin nachvollziehen. Da gerinnt einiges zu Allgemeinplätzen, und manch Kapitalismuskritik kommt allzu routiniert daher.
Überzeugender wird Verzweiflungen immer dann, wenn Geißler ausgehend von eigenen Erlebnissen zu einem gesellschaftlichen Befund kommt: So rekurriert sie auf ihr Aufwachsen in der DDR (sie ist in Riesa aufgewachsen, hat in München studiert), beschreibt wie ihre Mutter ihre alten Stasi-Akten liest, deren Inhalt noch heute bei der Autorin fast paranoid anmutende Gefühle auslöst, ob der Dinge, die statt- oder vielleicht doch nicht stattgefunden haben. Sie blickt zurück auf die Ängste ihrer Eltern: „Der Grundton meiner Kindheit, meines Lebens: Bitte nicht. Das wird mir langsam klar. Bitte lass das nicht geschehen, bitte lass das an mir vorüberziehen“. Und sie spürt, wie die elterliche Lebensangst ihre eigenen Beklemmungen fundiert: „Die Angst, alles zu verlieren, die Angst ausgesetzt zu sein“.
Doch da, am tiefsten Punkt der Furcht, in der „Jauchegrube“, macht sie eine andere Erfahrung, die von Resilienz: „Ich gehe unter. Ich tauche wieder auf“. Zu Beginn des Buchs lockt Geißler die Leserinnen und Leser damit, dass sie im Laufe des Buchs einen „schlechten Witz“ erzählen wird, er folgt auf einer der letzten Seiten und zeugt von dieser neu gefundenen, eigenen pragmatischen Stärke: „Wer ist immer für dich da, wenn du fällst? Der Boden.“
Das Stilprinzip der Sprunghaftigkeit
Geißler kommt oft zu ganz eigenen Schlüssen, so wenn sie sich ein Zitat von Björn Höcke vornimmt – und vorführt: „Und Höcke sagt: ‚Es ist klar geworden, dass ich Opfer einer verzerrten Medienberichterstattung bin, dass ich mit Nationalsozialismus nichts, aber auch gar nichts am Hut habe, und dass ich völlig unschuldig bin‘. Aber nicht einmal ich würde das so sagen: dass ich mit Nationalsozialismus nichts am Hut habe. Dass ich völlig unschuldig bin. Das wird man von mir nicht hören. Tätervolk steht auf der Rippe, aus der mich die Geschichte formte.“
Assoziationen, Zitate, Exkurse, lyrische Verdichtung, Gedankensprünge: Bei Verzweiflungen handelt sich eher um eine persönlich gehaltene, bewusst wenig strukturierte Bestandsaufnahme als um eine stringente Analyse der Gegenwart. Dabei ist das Stilprinzip der Sprunghaftigkeit, der oft atemlos erscheinenden Reihungen bewusst gewählt: Wie Holden Caulfield in Der Fänger im Roggen, der ein Loblied auf die „Abschweifung“ singt, empfindet Geißler die von ihr zelebrierte „Ablenkung“, das Assoziative als etwas Kreatives und Befreiendes. Zugleich entspricht der Essay in seiner verästelten Form eben der Pluralität der Verzweiflungen. Bei aller Sprunghaftigkeit kann man jedoch ein fein gewobenes Netz an Themen und Ebenen erkennen, untergründigen Verbindungslinien nachvollziehen.
Verzweiflungen ist ein mit Verve geschriebener, kluger, oft überraschende Wendungen nehmender, überwiegend gelungener Essay, der aber auch an Ich-Lastigkeit und Generalisierungen leidet.
Heike Geißler: Verzweiflungen. Essay, edition suhrkamp, 2025, 221 S., ISBN 978-3-518-12873-2