Rezension zu Jonas Theresias Roman „Toyboy“
Wadenimplantate, Camshows, bedrohliche Unwetter – irgendwo dazwischen zwei Brüder, und wie sie sich wieder annähern: In Jonas Theresias Debütroman Toyboy steckt die volle Wucht zeitgenössischer Leere. Ein kühner Versuch, das Bewusstsein am Rande zu greifen.
*
Eigentlich ist das ein Roman über Ausweglosigkeit, über Möglichkeiten, die es nicht gibt. Doch was heißt „eigentlich“? Es bedeutet, sich auf das Wesentliche besinnen, etwas Tatsächliches ergründen. Einen Schritt zurückzugehen, eine Schicht anzuheben und unter Oberflächen zu blicken.
Toyboy will ein „Eigentlich“, ja, bettelt mit jeder Faser darum: Irgendwo müsste es doch etwas Echtes geben. Irgendwo in dieser tristen Welt, in der jeder Körper bis zur letzten Pore käuflich ist. In der Selbstverwirklichung genauso bedeutungslos erscheint wie das Flexen mit Wadenimplantaten. Nur wo liegen die Trost-Orte, die hier gesucht werden? Und was brennt auf ihrer Fassade?
Über die glänzende Oberfläche dieser Welt schlittert ein junger Mann namens Levin. Alles in seinem Leben dreht sich um den Wettkampf von Körper und Schönheit. Er ist nach LA gezogen, um Model zu werden. Ist einer Verheißung gefolgt, die nur platzen kann. Das Business ist hart und er bloß eine nette Erscheinung – zwar mit „umwerfender Wangenpartie“ – doch für den Durchbruch reicht es nicht. Was passiert, wenn so einer in die heimatliche Einöde zurückkehrt? In die Wohnung, die er sich mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder Gregor teilt. Die Mutter ist nicht zuhause, als er ankommt. Stattdessen schickt sie Urlaubsbilder vom anderen Ende der Welt, während Gregor stundenlang Ego-Shooter-Games zockt. Er verbringt kurz vor seinem Abi deutlich mehr Zeit in virtuellen Sphären als andere nachts im Bett. Die große Wiedersehensfreude bleibt aus.
Wie soll Levin hier einen Neuanfang schaffen? Wie ein Rückkehrer werden, der etwas aus sich macht? Baustelle, Supermarkt, Callcenter – überall hat er schon erfolglos gejobbt. Und immer bleibt er mit dieser Leere zurück, allein in seinem Körper. Levin hat nur eine Möglichkeit: ihn zu nutzen, um Geld zu verdienen. Mal dreht er Pornos, dann rekelt er sich vor einer Live-Cam im Netz und kassiert aufgegeilte Kommentare.
Levins Haltlosigkeit wird von einem Paradoxon bestimmt: mit dem Körper zurechtzukommen, der ihm zugeschrieben ist, und gleichzeitig, seine Grenzen zu überwinden. Er ist nirgends in der Welt verankert, treibt umher wie eine Luftblase. In dieser Tragik wirkt selbst das sagenumwobene LA nur wie ein blendender Schriftzug. Sein Pendant, das dörfliche Niemandsland, bleibt namenlos. Lediglich der umliegende Wald soll sich bald einen Namen machen, indem er verschluckt, was nicht gefunden werden will ...
Ein Spiel der Illusionen
„Dass alle Orte der Welt gleichzeitig existieren“, schickt Levin einen Angstschauer über den Rücken. Diese Parallelität erzeugt in ihm einen quälenden Eskapismus. Nirgendwo anzudocken, schließt auch die Gefahr ein, überall nichts zu sein. Levin schwebt beständig zwischen den Weltenrändern, die so scharf sind wie Messerklingen. Versucht, das zurückzuerobern, was er glaubt, einmal verloren zu haben: Liebe, Nähe, Zugehörigkeit – zu seiner Verflossenen Cook, zu seinem Kindergartenfreund Momo und dem fremd gewordenen Bruder. Levin scheint das Existieren nur mit Distanz zu sich und seiner Umgebung aushalten zu können. Und doch ist da die unterschwellige Sehnsucht nach Rhythmus, nach Einklang, nicht nur mit sich. Die Sehnsucht nach Verbindung. Selbst wenn sie sich wieder als Illusion erweisen sollte.
„Wie einfach das Leben wäre, könnte man es mit Faustschlägen traktieren“, denkt Levin an einer Stelle. Denn was könnte er mit einem Schlag treffen? Welche Kraft hat er dem Leben zu entgegenzusetzen? Obwohl er sich dermaßen über den eigenen Körper definiert, sein Bruder in der Kampfmetaphorik seiner Games aufgeht, bleibt die physische Angreifbarkeit aus. Zuvor verschwindet jemand hinter einem Bildschirm und wird unfassbar. Die Beziehung der Brüder ist zu fragil, ihre Unerreichbarkeit, ihre Isolation so weit fortgeschritten – es scheint unmöglich, sich durchzuschlagen. Stattdessen bleibt nur: etwas nachzufahren, einer Kontur aufzulauern, um irgendwann den eigenen Kern zu kratzen.
Aus dem Kinderzimmer in die Apokalypse
Die womöglich einzige Konstante der Brüder ist ihre gemeinsame Kindheit. Ist der eine immerhin kurzzeitig aus dem „Kinderzimmergehege“ ausgebrochen, scheint der andere es nie zu verlassen. Schließlich gesteht Gregor in einem Anflug von Brüderlichkeit, in eine Frau verliebt gewesen zu sein, die er nur aus dem Internet kennt. Sie soll ihn um 3000 Euro betrogen haben. Levin schmiedet einen verhängnisvollen Plan, um das Geld und seinen Bruder wieder für sich zu gewinnen.
Doch es kündigt sich ein schweres Unwetter an, die Weltuhr steht auf kurz vor Apokalypse: Levin und Cook spekulieren über die „ständige Möglichkeit eines Gammablitzes“. „Das wäre dann wirklich das plötzliche Ende ... Wir werden alle geröstet, und man kann überhaupt nichts dagegen unternehmen.“ Alles ein bisschen zu schockierend, um wahr zu werden, oder? In Toyboy begleitet Levin stets die Angst vor dem Ungeheuerlichen. Wir spüren, wie der Vorhang der Welt sich verengt, wie unsere Umgebung zu einem Schlitz wird. Eingekesselt finden wir uns wieder, an ein Entkommen ist nicht zu denken. Der Schlitz, die Begrenztheit unserer Zeit, unserer Welt, unserer Geistes-Körper – was ist das anderes als der nicht enden wollende Kampf um Erlösung?
Es ist, als würde Levin inständig bitten und lautlos hoffen: Komm, wirf mich, komm, spiel mich, so wie ich es selbst nicht kann. Bis er erkennt, dass er kein Toyboy mehr sein muss. Denn nur, wenn er herausgefordert wird, aus einer Situation, nur, wenn er gezwungen ist, sich zu verlassen, kann er sich aufmachen, vielleicht jemanden zu retten, vielleicht jemand anderen außer sich selbst, vielleicht den ebenso vereinzelten Gregor.
Levin merkt an diesem Scheidepunkt, dass er sich einzig mit seiner ganzen Präsenz, mit seinem familiären Körper dem entfremdeten Bruder nähern kann: „Ich muss genau jetzt über mich selbst hinausgreifen, oder Gregor ist verloren.“ Mit diesem Auftrag irrt er durch den tiefen Wald: Ausgerechnet während des Unwetters vermutet er dort seinen urplötzlich verschwundenen Bruder. Was wird er im Orientierungsverlust finden? Einen Moment der letzten Einheit vor dem Zusammenbruch? Ein Stück Bewusstsein?
Es sind diese zutraulichen Augenblicke, die der Roman entfaltet, wenn er sich um die Beziehung der Brüder kümmert. Wenn man ihnen über die Schulter schauen darf, geradezu in den Nacken kneifen kann und sie ein wenig begreift. Jonas Theresia ist hier ein fürsorglicher und präziser Erzähler. Man jagt beim Lesen ständig der nächsten Sekunde nach, in der Nähe aufblitzt. Um nicht auch zu einer der erstarrten Hirschkühe zu werden, denen Levin begegnet. Und eigentlich hechtet man der eigenen Hoffnung hinterher, dass doch alles so aussichtslos nicht sein könne.
Jonas Theresia: Toyboy. Kein & Aber Verlag, Zürich – Berlin 2025, 222 S., ISBN 978-3-0369-5065-5
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Wadenimplantate, Camshows, bedrohliche Unwetter – irgendwo dazwischen zwei Brüder, und wie sie sich wieder annähern: In Jonas Theresias Debütroman Toyboy steckt die volle Wucht zeitgenössischer Leere. Ein kühner Versuch, das Bewusstsein am Rande zu greifen.
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Eigentlich ist das ein Roman über Ausweglosigkeit, über Möglichkeiten, die es nicht gibt. Doch was heißt „eigentlich“? Es bedeutet, sich auf das Wesentliche besinnen, etwas Tatsächliches ergründen. Einen Schritt zurückzugehen, eine Schicht anzuheben und unter Oberflächen zu blicken.
Toyboy will ein „Eigentlich“, ja, bettelt mit jeder Faser darum: Irgendwo müsste es doch etwas Echtes geben. Irgendwo in dieser tristen Welt, in der jeder Körper bis zur letzten Pore käuflich ist. In der Selbstverwirklichung genauso bedeutungslos erscheint wie das Flexen mit Wadenimplantaten. Nur wo liegen die Trost-Orte, die hier gesucht werden? Und was brennt auf ihrer Fassade?
Über die glänzende Oberfläche dieser Welt schlittert ein junger Mann namens Levin. Alles in seinem Leben dreht sich um den Wettkampf von Körper und Schönheit. Er ist nach LA gezogen, um Model zu werden. Ist einer Verheißung gefolgt, die nur platzen kann. Das Business ist hart und er bloß eine nette Erscheinung – zwar mit „umwerfender Wangenpartie“ – doch für den Durchbruch reicht es nicht. Was passiert, wenn so einer in die heimatliche Einöde zurückkehrt? In die Wohnung, die er sich mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder Gregor teilt. Die Mutter ist nicht zuhause, als er ankommt. Stattdessen schickt sie Urlaubsbilder vom anderen Ende der Welt, während Gregor stundenlang Ego-Shooter-Games zockt. Er verbringt kurz vor seinem Abi deutlich mehr Zeit in virtuellen Sphären als andere nachts im Bett. Die große Wiedersehensfreude bleibt aus.
Wie soll Levin hier einen Neuanfang schaffen? Wie ein Rückkehrer werden, der etwas aus sich macht? Baustelle, Supermarkt, Callcenter – überall hat er schon erfolglos gejobbt. Und immer bleibt er mit dieser Leere zurück, allein in seinem Körper. Levin hat nur eine Möglichkeit: ihn zu nutzen, um Geld zu verdienen. Mal dreht er Pornos, dann rekelt er sich vor einer Live-Cam im Netz und kassiert aufgegeilte Kommentare.
Levins Haltlosigkeit wird von einem Paradoxon bestimmt: mit dem Körper zurechtzukommen, der ihm zugeschrieben ist, und gleichzeitig, seine Grenzen zu überwinden. Er ist nirgends in der Welt verankert, treibt umher wie eine Luftblase. In dieser Tragik wirkt selbst das sagenumwobene LA nur wie ein blendender Schriftzug. Sein Pendant, das dörfliche Niemandsland, bleibt namenlos. Lediglich der umliegende Wald soll sich bald einen Namen machen, indem er verschluckt, was nicht gefunden werden will ...
Ein Spiel der Illusionen
„Dass alle Orte der Welt gleichzeitig existieren“, schickt Levin einen Angstschauer über den Rücken. Diese Parallelität erzeugt in ihm einen quälenden Eskapismus. Nirgendwo anzudocken, schließt auch die Gefahr ein, überall nichts zu sein. Levin schwebt beständig zwischen den Weltenrändern, die so scharf sind wie Messerklingen. Versucht, das zurückzuerobern, was er glaubt, einmal verloren zu haben: Liebe, Nähe, Zugehörigkeit – zu seiner Verflossenen Cook, zu seinem Kindergartenfreund Momo und dem fremd gewordenen Bruder. Levin scheint das Existieren nur mit Distanz zu sich und seiner Umgebung aushalten zu können. Und doch ist da die unterschwellige Sehnsucht nach Rhythmus, nach Einklang, nicht nur mit sich. Die Sehnsucht nach Verbindung. Selbst wenn sie sich wieder als Illusion erweisen sollte.
„Wie einfach das Leben wäre, könnte man es mit Faustschlägen traktieren“, denkt Levin an einer Stelle. Denn was könnte er mit einem Schlag treffen? Welche Kraft hat er dem Leben zu entgegenzusetzen? Obwohl er sich dermaßen über den eigenen Körper definiert, sein Bruder in der Kampfmetaphorik seiner Games aufgeht, bleibt die physische Angreifbarkeit aus. Zuvor verschwindet jemand hinter einem Bildschirm und wird unfassbar. Die Beziehung der Brüder ist zu fragil, ihre Unerreichbarkeit, ihre Isolation so weit fortgeschritten – es scheint unmöglich, sich durchzuschlagen. Stattdessen bleibt nur: etwas nachzufahren, einer Kontur aufzulauern, um irgendwann den eigenen Kern zu kratzen.
Aus dem Kinderzimmer in die Apokalypse
Die womöglich einzige Konstante der Brüder ist ihre gemeinsame Kindheit. Ist der eine immerhin kurzzeitig aus dem „Kinderzimmergehege“ ausgebrochen, scheint der andere es nie zu verlassen. Schließlich gesteht Gregor in einem Anflug von Brüderlichkeit, in eine Frau verliebt gewesen zu sein, die er nur aus dem Internet kennt. Sie soll ihn um 3000 Euro betrogen haben. Levin schmiedet einen verhängnisvollen Plan, um das Geld und seinen Bruder wieder für sich zu gewinnen.
Doch es kündigt sich ein schweres Unwetter an, die Weltuhr steht auf kurz vor Apokalypse: Levin und Cook spekulieren über die „ständige Möglichkeit eines Gammablitzes“. „Das wäre dann wirklich das plötzliche Ende ... Wir werden alle geröstet, und man kann überhaupt nichts dagegen unternehmen.“ Alles ein bisschen zu schockierend, um wahr zu werden, oder? In Toyboy begleitet Levin stets die Angst vor dem Ungeheuerlichen. Wir spüren, wie der Vorhang der Welt sich verengt, wie unsere Umgebung zu einem Schlitz wird. Eingekesselt finden wir uns wieder, an ein Entkommen ist nicht zu denken. Der Schlitz, die Begrenztheit unserer Zeit, unserer Welt, unserer Geistes-Körper – was ist das anderes als der nicht enden wollende Kampf um Erlösung?
Es ist, als würde Levin inständig bitten und lautlos hoffen: Komm, wirf mich, komm, spiel mich, so wie ich es selbst nicht kann. Bis er erkennt, dass er kein Toyboy mehr sein muss. Denn nur, wenn er herausgefordert wird, aus einer Situation, nur, wenn er gezwungen ist, sich zu verlassen, kann er sich aufmachen, vielleicht jemanden zu retten, vielleicht jemand anderen außer sich selbst, vielleicht den ebenso vereinzelten Gregor.
Levin merkt an diesem Scheidepunkt, dass er sich einzig mit seiner ganzen Präsenz, mit seinem familiären Körper dem entfremdeten Bruder nähern kann: „Ich muss genau jetzt über mich selbst hinausgreifen, oder Gregor ist verloren.“ Mit diesem Auftrag irrt er durch den tiefen Wald: Ausgerechnet während des Unwetters vermutet er dort seinen urplötzlich verschwundenen Bruder. Was wird er im Orientierungsverlust finden? Einen Moment der letzten Einheit vor dem Zusammenbruch? Ein Stück Bewusstsein?
Es sind diese zutraulichen Augenblicke, die der Roman entfaltet, wenn er sich um die Beziehung der Brüder kümmert. Wenn man ihnen über die Schulter schauen darf, geradezu in den Nacken kneifen kann und sie ein wenig begreift. Jonas Theresia ist hier ein fürsorglicher und präziser Erzähler. Man jagt beim Lesen ständig der nächsten Sekunde nach, in der Nähe aufblitzt. Um nicht auch zu einer der erstarrten Hirschkühe zu werden, denen Levin begegnet. Und eigentlich hechtet man der eigenen Hoffnung hinterher, dass doch alles so aussichtslos nicht sein könne.
Jonas Theresia: Toyboy. Kein & Aber Verlag, Zürich – Berlin 2025, 222 S., ISBN 978-3-0369-5065-5