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22.05.2013, 12:54 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [163]: Dunkle Gedanken in Gustavs Namen

Auch die Natur vermag nicht mehr zu trösten. Das Erlebnis wandelt sich in die pure Negativität, wo das Innere versagt, ja: vor dem Äußeren versagen muss, wenn man, wie Gustav, zu gut ist für eben diese Welt. Der junge Mann wird zum Sprachrohr des Autors, aus seinem Leidensbrief tönt Jean Paul heraus – Jean Paul, der Erzähler, dessen Stil aus den sentimentalischen Passagen der Romane bekannt ist, und der so gern einen Satz mit dem Schmerzenslaut „Ach!“ beginnt. Hier, in der „grünenden Natur“ vergisst er sie und die Kontraminen, „und ich sehe bloß die langen Flöre, die an den Stangen aus dem Hause eines Färbers gegenüber in die Höhe fliegen, schon wie Nächte über den Gesichtern armer Mütter hängen, damit der Tau des Jammers in Dunkeln hinter den Leichen falle, die wir am Morgen machen lernen“. Schwärzer geht’s nimmer, wo aus der blühenden, vollsaftig grünen Natur das „kahle Nadelholz“ und die „kotigen Wurzeln“ herauswachsen, und wo „der schwarze Teich voll Sumpf“ sich ins Sichtfeld setzt.

Nur seltsam: warum denkt Gustav nun ausdrücklich nicht an Kontraminen? Kontraminen – nie gehört? Wieder befinden wir uns im Reich des Militärs, denn Gegenminengänge dienten dazu, Minen der belagerten Festungen zu sprengen. Mine gegen Mine also. Gustav sieht also nicht die Technik, sondern schon das Ergebnis: den Tod und vor allem die Trauer. Was hilft dagegen: das Produktive, vielleicht die Politik als Fortsetzung nicht des Krieges mit anderen Mitteln, sondern des Friedens. Dürfte er, denkt er, doch den Sessionstisch wählen. Die Alternative scheint sehr vernünftig zu sein, doch verwehrt es ihm ausgerechnet der Autor, der dafür eine Fußnote einschiebt: gegen den „kakochymischen“, den „schlechtsaftigen“ Staatskörper[1]. Jean Paul ist skeptisch, die Fußnote bringt es an den Tag: der Staat selbst ist verdorben – und man sollte nicht annehmen, dass er diesen Schluss auf das Fürstentum Scheerau allein bezieht. Immerhin spielt der Roman vier Jahre vor 1789, er schreibt ihn 1791, als die Revolution gegen den kakochymischen Staat schon schreckliche Opfer gefordert hat. Gustav aber vermag, als er den Brief schreibt, noch keine wirklich verändernde Gegenposition zu all der Wirrsal zu sehen, oder anders: er würde sich als Medizinierer des Unglücks betätigen, der die Stille der Natur nachahmt, indem er deren „Wohltaten dem Dürftigen hinausträgt“ (was immer damit gemeint ist). Widerstand durch Wohltun: das mag eine Gegenposition sein, wenn man so sensibel ist wie Gustav.

Der Sektor aber endet nicht mit sentimentalischen Erwägungen, sondern mit einer eher satirischen Bemerkung des Erzählers, die viel für sich hat: Der Vater, der unbedingt will, dass Gustav Offizier werden soll, verschmäht „ruhigere Geschäftmänner, wie diese den noch ruhigeren geschäftlosen Gelehrten verachten“. Vielleicht ist das ja auch Natur: ein Instinkt gegen die Anderen, die man nicht verstehen kann, zur Not auch gegen den eigenen Sohn.

Pietro Micca nel punto di dar fuoco alla mina volge a Dio e alla Patria i suoi ultimi pensieri. So einer wird Gustav vermutlich nie werden: ein Mann, der Minen sprengt und dafür sein Leben opfert. Pietro Micca ist eine legendäre Gestalt des Spanischen Erbfolgekriegs. Als Angehöriger des piemontesischen Heeres zündete er 1706, auf eigene Kosten, während der Schlacht von Turin, in einem Minengang eine Sprengladung von 20 Kilogramm Schießpulver, um einen französischen Einbruch in die Festung zu verhindern. Der coup gelang, Micca wurde 30 Meter weit geschleudert, die Franzosen zogen ab, und das Piemont war von ihnen befreit. Zum Dank haben die Piemonteser dem toten Helden ein Museum gewidmet.

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[1] Wir hatten das schon mal.

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