Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (39). Und sitzt im Fahrradabteil der Regionalbahn

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sieben Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für den eben erst erschienenen Roman Jetzt bist du da (Berlin Verlag, 2023) bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.

In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?

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39

Dieses Foto habe ich neulich in einer ziemlich vollen Regionalbahn gemacht. Ich saß, wie die anderen auch im Fahrradabteil, auf den Ohren trug ich Kopfhörer und hörte den ALLES GESAGT PODCAST der ZEIT; ich weiß nicht, ob Sie den kennen, aber er ist oft ziemlich gut. Also, er ist dann ziemlich gut, wenn die Menschen, die eingeladen sind, keine Angst haben, sich zu zeigen. Und wenn die Menschen, die eingeladen sind, genauso klug und gesprächig und lebendig sind, wie Christoph Amend und Jochen Wegner, die den Podcast moderieren, kuratieren, und alles. Ich saß also im Zug und hörte Christine Westermann zu, die sich in diesem Gespräch, wie immer nicht versteckte. Und während Christine Westermann unter anderem darüber erzählte, wie sie am Anfang der 90er-Jahre quasi wöchentlich zwischen San Francisco und Köln pendelte, und warum sie das tat und warum sie das tun wollte – oder wie sie und Götz Alsmann in der WDR-Show Zimmer-frei einmal, beim legendären Bilderrätsel der Sendung, so ein süßes Plundergebäck mit einem Baseballschläger durch die Gegend pfefferten (Lösung des Rätsels: Teilchenbeschleuniger!), und was für Leserbriefe in der Redaktion einliefen, weil „mit dem Essen spielt man nicht“ – und also während Christine Westermann erzählte und dabei mit den beiden Moderatoren im Studio zu Abend aß, Hibiskusbutter, Wurstsalat aus Fleischkäse und so weiter, schaute ich den Menschen auf die Füße und auf die Schuhe.

Und das kennen Sie sicher auch, am Anfang von Liebesbeziehungen, wenn man sich des anderen noch nicht so sicher ist und manchmal unvermittelter schweigt, als man will, fragt der oder die eine oder andere beim Frühstück plötzlich: Was denkst Du? Und dann steht man ziemlich doof da, wenn man gerade zum Beispiel gedacht hat, dass man bitte gleich wieder ins Bett gehen möchte, während der andere sagt: Sollen wir in diese Ausstellung gehen? Und dann kommt es eben drauf an. Also auf den eigenen Sex-Appeal und den der Ausstellung. Und ob man sagen will, was man gerade denkt auch.

Im Zug saß neben mir einer, der hat, das kann man an den Schuhen nicht wirklich erkennen, auch wenn es Laufschuhe sind, am München-Marathon teilgenommen, der an diesem Tag stattgefunden hatte. Er trug so ein Werbegeschenk bei sich, dem ich das entnehmen konnte, und seine Freundin hat auch daran teilgenommen: Sie trug ein Blasenpflaster an der Ferse. Und während also Christine Westermann über das Essen sprach und man auch hörte, dass sie aß, bekam ich ziemlich Hunger, und nur deshalb hätte ich die Marathonläuferin und den Marathonläufer gerne gefragt, was sie heute noch essen werden, und ob sie gerade darüber nachdenken? Ob sie überhaupt über etwas nachdenken gerade, oder einfach leergelaufen sind. Und da machte ich das Foto von den Füßen und den Schuhen. Und falls Sie wissen wollen, was ich mir dabei dachte: Ich dachte, dass es mir gefällt, wie wenig die Schuhe über den Kopf, der sie an den Füßen trägt, verraten.

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