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„Ich weiß nicht, aus welchem Brunnen ich schöpfe“. Totenrede auf Barbara Bronnen

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(c) privat/Arche Verlag

Morgen, am 19. August 2023, wäre Barbara Bronnen 85 Jahre alt geworden. Sie verfasste zahlreiche Romane und andere Prosawerke. Viele Jahre lang war sie Kolumnistin der Abendzeitung. 2019 verstarb Barbara Bronnen in München. Ihre langjährige Freundin Brigitta Rambeck hielt auf sie die Totenrede.

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Lieber Dieter Lemmel-Bronnen, lieber Florian, liebe Franziska, liebe Anja, liebe Familie, Freunde, Leser, Kollegen und Bekannte von Barbara Bronnen, die Sie heute alle hier versammelt sind, um sich von dieser außergewöhnlichen Frau zu verabschieden,

 

schwer vorstellbar, dass dieses Bündel an Energie und Kreativität nun nicht mehr – mit flammend rotem Haar – durch ihren Lieblings-Erdteil Schwabing radelt, u.a. unterwegs zum fast täglich besuchten Nordbad, schmerzlicher noch der Gedanke, dass man nunmehr in der Zentnerstraße vergeblich nach oben grüßt, wo man jahrzehntelang direkt unterm Dach die unermüdlich tätige Autorin Barbara Bronnen zunächst an der Schreibmaschine, später dann an ihrem Laptop vermuten konnte.

Bis zuletzt wehrte sie sich gegen die Zumutungen des Alters, die sie schon geraume Weile in ihren Büchern ohne jede Wehleidigkeit thematisiert hatte.

Auch nach ihrem Schlaganfall war ihr Lebensmut ungebrochen, und selbst als noch weitere schwere Leiden kaum mehr Hoffnung erlaubten, hielt sie im Rahmen des Möglichen geselligen Kontakt mit Familie und Freunden: Ihren 80. Geburtstag beging sie noch in größerer Runde zuhause in der Zentnerstraße, liebevoll umsorgt von ihrem Sohn Florian und seiner großen, warmherzigen Familie. Ihr letztes Silvester feierte sie mit Freunden – von Leiden gezeichnet, aber mit mitteilsamer Fröhlichkeit.

Bis zuletzt befasste sie sich auch noch mit der Ausarbeitung ihrer Autobiografie, die sie nun allerdings nicht druckfertig redigiert hinterlässt, die aber immerhin einen Stand erreicht hat, der eine Fertigstellung durch den Verlag durchaus als möglich erscheinen lässt.

Ich werde im Folgenden weitgehend mit Barbaras eigenen Worten sprechen, das heißt einige markante Stellen aus diesem nachgelassenen unveröffentlichten Kompendium zitieren. Vorweg aber möchte ich einen kurzen Überblick über ihre gewissermaßen „offizielle Schriftsteller-Vita“ geben:

1938 in Berlin geboren, aufgewachsen in Österreich, studierte Barbara Bronnen Germanistik und Philosophie in München, wo sie 1962 über Fritz von Herzmanovsky-Orlando promovierte und im Anschluss daran als Lektorin, Journalistin und Sachbuchautorin arbeitete. München, insbesondere Schwabing, ist ihr rasch zur Heimat und zum Ausgangspunkt ihres schriftstellerischen Werks geworden. Alle hiesigen Literaturpreise – vom Tukan- über den Ernst-Hofrichter- bis zum Schwabinger Kunstpreis sind ihr nach und nach zuerkannt worden. In dem Ur-Schwabinger Seerosenkreis hat sie bereits unter Ernst Günther Bleisch aus ihren Büchern gelesen, ehe sie nach seinem Tod aktiv im inneren Kreis der Literatengruppe mitwirkte. Zu ihren Lieblingsthemen gehörte die Vorstellung bedeutender Frauen in schwierigen Zeiten – so etwa Ricarda Huch, Inge Müller und Marlene Dietrich, aber auch umfangreiche Sujets wie etwa die Literatur der DDR gehörten zu den Bereichen, zu denen sie weit mehr beizutragen hatte als angelesene philologische Kenntnisse. In Seerose und Traumstadt trat sie gern auch mit ihrer Schwester Franziska auf, mitunter begleitete auch Schwager Pierre Dominique Ponnelle den Abend mit musikalischen Beiträgen.

Eine grundsätzliche – teils schmerzliche, teils innige – jedenfalls lebenslange Bezogenheit auf die Familie durchzieht, wie man bei der Durchsicht ihrer Memoiren erstaunt feststellen kann, das gesamte Leben und Schreiben von Barbara Bronnen, die man in der persönlichen Begegnung ja spontan eher als besonders unabhängige, emanzipierte, eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen hatte.

Von früher Kindheit an wollte Barbara, inspiriert von ihrem Vater, dem ebenso berühmten wie umstrittenen Autor Arnolt Bronnen, das Schreiben zum Beruf machen. Doch erst mit etwa 40 Jahren begann sie sich selbstbewusst als freie Schriftstellerin zu definieren. Ihr erster – autobiografischer – Roman Die Tochter (1980) ermutigte sie zu der Entscheidung: „Schreiben ohne den geringsten Vorbehalt. Nur das schreiben, was ich schreiben will.“

Inzwischen ist ein umfangreiches Oeuvre entstanden, in dem sich Barbara Bronnen nicht nur – stets informiert und kritisch – mit den Schicksalen ihrer Herkunftsfamilie und den historischen und politischen Gegebenheiten ihrer Epoche befasst, sondern auch die eigene – wechselvolle – Lebensgeschichte nach und nach zum Anlass für Auseinandersetzungen mit den jeweils zeitbedingt-aktuellen wie auch den grundsätzlichen Problemen der conditio humana nimmt. Etliche weitere Romane entstanden – u.a. Die Diebin, Die Briefstellerin, Die Überzählige, Liebe um Liebe, Leas siebter Brief, Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden, Am Ende ein Anfang, Liebe bis in den Tod –, die sich zuletzt schwerpunktmäßig der Problematik der späten Jahre widmeten, schonungslos, aber auch mit teils liebevollem Humor.

Daneben veröffentlichte Barbara Bronnen Aktuell-Dokumentarisches (Wie mein Kind mich bekommen hat, Mütter ohne Männer), Biografisches (Karl Valentin und Liesl Karlstadt) sowie eine Reihe themenbezogener Essaybände (Die Stadt der Tagebücher, Friedhöfe) und zahlreiche Anthologien (u.a. Frauen-Tagebücher aus der NS-Zeit).

In ihrem vielleicht bekanntesten Roman Das Monokel umkreist Barbara Bronnen einmal mehr anhand der ebenso problematischen wie exemplarischen Biografie ihres Vaters einige Grundfragen unserer Zeit – und ihrer eigenen Lebensgeschichte, die sie in einem Interview folgendermaßen formulierte: 1) „Wie geht meine, wie eine jüngere und noch jüngere Generation mit den Folgen unserer Geschichte um?“ 2) „Wie erfährt ein junger, von Kapitalismus und Kaltem Krieg geprägter Mensch wie ich einen sozialistischen Staat?“ Noch deutlicher als in ihren früheren Büchern kommt in diesem Roman auch das ihr eigene Stilprinzip zum Tragen: sorgfältig recherchierte Fakten aufzubereiten in einem fiktionalen Rahmen, und so auch einer jüngeren Generation in lesbarer Form zu vermitteln, „dass Geschichte etwas Lebendiges ist, etwas, das wir machen oder erleiden“.

Bis zuletzt hielt das Schreiben sie in Atem, am Leben. „Es ist unerklärlich und wunderbar – solange ich schreibe, bin ich glücklich und fühle mich kraftvoll und gesund.“ -- „Erfüllte Tage“, notiert sie in dem erwähnten autobiographischen Manuskript. „Ich weiß nicht, aus welchem Brunnen ich schöpfe.“ Der Titel (Mein liebes Leben) übt eine seltsame Wirkung auf mich aus. Er scheint mich fort- und zurückzutragen – ich wählte ihn, bevor die Krankheit in mein Leben trat ...“

Die Rückschau von der Warte eines gelebten Lebens lässt einen frischen, unverstellten Blick auf menschliche Begegnungen zu und macht darüber hinaus auch eine neue Einschätzung der eigenen Person möglich. Was dabei entsteht, ist, so Barbara Bronnen, „eine Biographie mit Kulissenwechsel, die transparent macht, wie ein von außen gesehenes Leben einem inneren gegenübersteht, bis sich innere Zwänge und Selbsttäuschungen auflösen und einem klareren Selbstbild Platz machen“.

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Ich möchte Ihnen jetzt einen Abschnitt aus ihrem unveröffentlichten Text vorlesen, und so Barbaras ganz persönliche Sprache in ihrer Geradlinigkeit, ihrer Präzision, ihrer Leichtigkeit und ihrem Humor noch einmal anklingen zu lassen:

„Mein Leben ist ein Buch,“ schreibt sie. „Abgegriffen, mit Eselsohren, Anmerkungen, Unterstreichungen. Ich kann darin blättern, vor und zurück. Kann Bilder von meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester, meinem Sohn und meinen Enkelkindern, meinem Mann und meinem Geliebten finden, meinen Freunden und Freundinnen, meinen Lehrern, Lektoren und Verlegern. Kann die Seiten wie in einem Daumenkino vorwärts schnellen lassen oder den Rückwärtsgang einlegen. Ich will das Buch für meinen Leser aufschlagen und ihm mit den Mitteln der Sprache so nah wie möglich kommen, will, dass er mich sieht und spürt, die er noch nie gesehen hat, umgeben von den Lebensbedingungen, unter denen ich lebe, ohne Rücksicht auf Details, die man von mir nicht erwartet. Was ich schreibe, wird meine Wahrheit sein.

Ich kann in diesem Buch meine erste Italienreise nach der Matura entdecken, per Autostopp im LKW mit drei italienischen Maurern nach Vicenza, Venedig, Florenz. Und gleich nach der Rückkehr per Autostopp mit einem weißen Amischlitten nach München. Kann die Nachkriegstage in München, erlebt mit meiner kundigen Großmutter, wiedererwecken und sehe uns entgeistert vor den herabgefallenen Löwenköpfen am Siegestor stehen, sehe die paar hundert frierenden Menschen dem Marsch der Militärkapelle an der Feldherrnhalle lauschen, blättere zurück und betrachte die beiden eiskalten Riesenpaläste, Mausoleen der Hitlerepoche am Königsplatz – in einem wurde in meinem Geburtsjahr das Münchner Abkommen unterzeichnet – und üble Bilder überschwemmen meinen Verstand. Mein Kopf blättert weiter und beruhigt sich beim ersten Blumencorso der wiederaufbauenden Fünfzigerjahre in der Schellingstraße, und regt sich auf, weil alles anders zu werden scheint in den Sechzigerjahren, aber ich weiß nicht, wie, ich tanze nackt mit Franz auf dem Balkon. Das heitere Bild, das eine neu gewonnene Freiheit in einer Zeit demonstriert, in der ich dem Keller der Angepasstheit entfliehe, verschmilzt mit dem düsteren Eindruck, wie ich mit Michael Braun von den Tupamaros in ihrer WG in der Leonrodstraße Parolen gegen die Konsensgesellschaft von mir gebe, und ich zucke zurück, wenn ich meine aggressiven Reden höre in der Achtundsechzigerzeit, wie ich meine Mutter maßregle im aufbrechenden Generationenkonflikt. Ich bin mittendrin, und die historische Epoche dieser Jahre mit ihren politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Tendenzen hat manche Gesten, Worte, Gedanken, Entscheidungen von mir geprägt. Meine Kleidung, meine Art, mich in jener Zeit zu schminken, demonstrieren meine Besessenheit, die eigene Persönlichkeit auszuleben – sich ausleben ist das Schlüsselwort. Ich empfinde eine Art pubertärer Genugtuung, wenn ich mich autoritär gebärde, und betrachte mich mit einem Anflug von Distanz als Mitläuferin, wobei offen bleibt, wann und inwiefern. Mittendrin stecke ich, und außerhalb in traumhaftem Terrain, wenn ich, eine Folge meiner intensiven Beschäftigung, zu der Terroristin Vera Sassulitsch werde, oder, bei meinen Toskana-Forschungen, zur ausschweifenden Gräfin von Castiglione. Mein Beruf lässt zaubrisches Davontreiben in Zweitleben zu.

Ich lasse mich auf Verwegenes ein und marschiere bei Demos mit, brülle Hohohotschimin! und kehre rosig und zufrieden zurück. Ich finde es mit einem Mal so erniedrigend, normal und bürgerlich zu sein ...

Dann springen die Bilder über ins Jahr 1989, ich verrenke mich am 11. November, einen Tag nach dem Mauerfall, wild beim Beat mit meinem in Ostberlin aufgewachsenen Bruder und seiner sturzbesoffenen Motorrad-Gang auf der Glienickerbrücke und heule Rotz und Wasser, weil mich das Ende der DDR so mitnimmt.

Ich verharre andächtig beim zärtlichen Bild meiner Hingegebenheit in den Armen meines Geliebten, spüre das Zittern meiner Hände beim Weiterblättern, vermerke die ersten Risse, die nach seinem Tod in meinem körperlichen Wohlbefinden auftauchen, die ersten Geheimboten zum drohenden Schlaganfall. Mein Blick haftet entrüstet auf meinem Nachttisch, angefüllt mit Medikamenten und ich lausche auf die unheimliche Detonation nach der Stenose eines der Gefäße meines Gehirns und den Knall, mit dem ich zu Boden gehe. Ich kann mein ungläubiges Gefühl nicht abschütteln, wenn ich mich im Rollstuhl sehe, und ich all die Bewegungen des Lebens, mit drei Jahren bereits beherrscht, aufs Neue lernen muss.

Seit ich allein lebe, habe ich es mir abgewöhnt, mich mit mir selber zu beschäftigen – mir kam es vor, als hätte ich mich für immer von dieser Leidenschaft der Selbstbetrachtung befreit, die meine Jugend und Pubertät quälte. Altsein, und unverbesserlich ich selbst sein und das noch mit einem Glas Wein vor dem Fernseher – allein die Vorstellung brachte mich in eine melancholische Stimmung, die ans Selbstmörderische grenzte. Ich will nicht eine angeknackste Venus sein, von der es heißt, sie hat einmal geliebt. Ich bleibe hartnäckig auf der Suche nach dem geheimnisvollen Kribbeln des Eros, er darf nicht schrumpfen, von mir aus mag er auch metaphysisch sein. Jetzt aber zieht es mich wieder, nicht nur der Wunsch meines Verlegers, sondern auch ein natürlicher Lauf des Lebens, zu meinem Fundament, zu den Fragen nach dem, das über sich selber schweigt, zum Wurzelgeflecht.“

Einen breiten Raum in Barbaras nachgelassenen Memoiren nimmt auch ihre Rolle als Mutter, Schwiegermutter und Großmutter ein. Ein allmähliches Verstehen und Akzeptieren ganz anderer, weniger hochgespannter Lebensentwürfe, als sie in ihrer Herkunftsfamilie quasi „vorprogrammiert“ waren, hatte sich da von langer Hand angebahnt und gab ihr am Ende Geborgenheit in der Familie ihres Sohns: „Florians Geburt war das größte Geschenk, das die Reife mir spät darbot“, schreibt sie, „ein ungeahntes, bereits abgeschriebenes Glück. Ich erwarb im Alter von Neununddreißig ein neues Ufer und einen neuen Hafen in einer neuen Welt. Das vertrieb den Zauber des narzisstischen Schlummers – es war ein nicht immer schmerzloses Herauskommen aus der Selbstvergessenheit ... Mit den Enkelkindern erlebe ich jetzt die Freude, einfach nur zu sein; das beinhaltet eine flüchtige Ahnung von dem, was möglich ist und eine gewisse Sorglosigkeit, die mein Sohn trotz aller Verpflichtungen ausstrahlt und die manchmal auf mich übergeht.“

Einen zweiten Ruhepol in ihrem oft unübersichtlichen Leben bot ihr Refugium in der Toskana: Rückzugsort zum Schreiben, aber auch Inbegriff des prallen, sinnenfrohen, geerdeten Daseins. „Ein Haus. Ein Baum. Ein Kind. Ein Buch“, schreibt sie. „Mein Leben dort ist geprägt von letzten Dingen. Die letzte Brombeere auf der Zunge, die letzte Tomate, echte Butter, echte Milch ... mein letztes Haus, wenn ich Glück habe; mein letztes Buch, meine letzte Liebe, mein letzter Baum ... Lebe ich, weil ich schreibe? Oder schreibe ich, weil ich lebe? Ich weiß es nicht.“

Klar aber ist, dass für sie das „schlichte Dasein“ nicht alles war, dass sie, bei allen privaten Verwerfungen ihres Schicksals, immer kritisch und womöglich aktiv teilnahm an den politischen und sozialen Entwicklungen ihrer Zeit. Dies spiegelt sich auch in dem Spruch von Friedrich Schiller, den sie für ihre Traueranzeige vorgeschlagen hat:

Würde des Menschen
Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Wir werden Barbara Bronnen vermissen – ihre Lebhaftigkeit, ihren Charme, ihre Ehrlichkeit, ihre Streitbarkeit, ihren klaren Verstand und ihre mitreißende Begeisterungsfähigkeit.