Info
21.11.2023, 16:05 Uhr
Andrea Heuser
Spektakula

Die Eröffnung des Literaturfests im Haus der Kunst barg einen unverhofften Schlüsselmoment

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/Malva%20und%20Band_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/Malva und Band_500.jpg?width=500&height=325
Malva und Band © Catherina Hess

Das 14. Literaturfest München, das vom 15. November bis 3. Dezember 2023 stattfindet, wird auch in diesem Jahr wieder viele Orte des Münchener Kulturlebens bespielen; u.a. das Haus der Kunst, das Literaturhaus München, die Monacensia, die Kammerspiele, das Residenztheater, den Gasteig HP8, das Fat Cat, die Ludwig-Maximilians-Universität München, um nur einige der prominentesten Stätten zu nennen. Das Programm bietet, darauf wies bereits Nicola Bardola in seiner Ankündigung hin, „eine große Vielfalt mit überraschenden Schwerpunkten.“ Zum Festival 2023 gehören auch die 64. Münchner Bücherschau, die von der Monacensia konzipierte „Münchner Schiene“ und das Festprogramm des Literaturhauses München mit dem Markt der unabhängigen Verlage „Andere Bücher“. Wie sah nun der Auftakt aus?

*

Im Wartesaal der Literatur – so kam man sich zu Beginn des Abends tatsächlich ein wenig vor. Denn bedauerlicherweise standen sich die treu erschienenen Gäste bei diesem Festakt erst einmal eine geraume Weile die Beine in den Bauch. Zwar tröstete einen die beschwingt-lässige Musik von Malva und Band dann schließlich etwas darüber hinweg; dennoch: Das Fehlen von Stühlen, Stehtischen und vor allem Getränken ließ leider kaum ein festliches, dem Anlass gemäßes Willkommensgefühl aufkeimen. Positiv gewendet könnte man sagen, dass manch einer sich mangels Bequemlichkeit oder kulinarischer Ablenkung so vielleicht konzentrierter auf das Gespräch mit der neben ihm stehenden Person einließ.

Zeit zum Zuhören…

Und Zuhören, dies betonte Tanja Graf, die Leiterin des Literaturhauses, in ihrer charmanten und einnehmenden Begrüßungsrede, sei in diesen hoch prekären Zeiten nun einmal ganz besonders wichtig. Wobei weißen Männern zuzuhören – dies zeigt ein Blick auf das Literaturfest-Plakat: ein weißer, gesichtsloser Mann mit Zeigefinger vor dem Mund („Psst“?) – sich derzeit eher als schwierig erweist. „Jung, weiblich und divers wird heuer unser Programm. Alte weiße Männer werden in der Minderheit sein“, versprach Tanja Graf.

Ein wenig mulmig wurde mir da schon zumute; denn so lobenswert und ermutigend gerade aus Sicht einer Autorin ein weiblich-diverses-junges Programm natürlich ist: Warum muss die Wertschätzung des einen stets mit der Herabsetzung des anderen einhergehen? Auch eine bewusste Umkehrung des Minderheitenverhältnisses zementiert ja letztlich den Antagonismus von Minderheiten. Zumal sich die für das Programm so betonte „Minderheit des alten, weißen Mannes“ an diesem Eröffnungsabend nicht nur nicht spiegelte, sondern ganz im Gegenteil: Von jung, weiblich und divers war an diesem Abend, abgesehen von Malva und Band, leider rein gar nichts zu spüren.

„Psst…!“

Überhaupt waren unter den zahlreich erschienenen Literaturbetriebs-Gästen des Abends insgesamt bedrückend wenige Autorinnen und Autoren jedweden Alters und Geschlechts zu entdecken. Ob sie sich von diesem Literaturfest, das tatsächlich sehr viel (Etabliertes, Prominentes, Institutionalisiertes, Zeitgeistgemäßes) bietet, aber wenig „Freies“ wirklich wagt, persönlich weniger angesprochen und eingeladen fühlten, oder ob dies andere Gründe hatte – man kann hier nur Vermutungen anstellen.

Der gesamte Eröffnungsfestakt jedenfalls blieb rednerisch fest in der Hand des weißen Mannes. Immerhin lösten dessen Reden bei den Zuhörerinnen und Zuhörern keinen „Pst!“-Reflex aus. Aber schließlich haben wir derzeit wirklich auch ganz andere Sorgen, was die Problematik der Meinungs- und Redefreiheit anbelangt.

Oberbürgermeister Dieter Reiter hob in seiner Begrüßung daher auch die Bedeutung des heutigen writers in prison day hervor und appellierte mit Salman Rushdies Worten an die Unerlässlichkeit, „die schlechte Rede mit besserer Rede zu kontern“. Andrea Lissoni, der Direktor vom Haus der Kunst, und Klaus Füreder, Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, versprachen den Gästen ein vielschichtiges schillerndes Programm, und der vierte „alte, weiße Mann“ des Abends, der Autor und Kurator des Forums 2023, Lukas Bärfuss, dem wir das schöne diesjährige Motto „Was wir erben, was wir hinterlassen“ verdanken, sprach einprägsam von der „Porösität unserer Gegenwart, die wir alle empfinden“. Allerdings, möchte man da sagen. Nur: Wer ist eigentlich „wir“?

Wer ist eigentlich „wir“?

Die Keynote des fünften Redners an diesem Abend, des für die tragischerweise mit einem Ausreiseverbot belegte indische Schriftstellerin Arundhati Roy eingesprungenen Omri Boehms, bot zu dieser Frage nicht nur einige erhellende Ansichten. Die Festrede des israelischen Philosophen und Hochschulgelehrten war tatsächlich auch ein absolutes Schüsselerlebnis.

Beglückend-inspirierend sprach er zu uns von der Schwierigkeit, heutzutage noch einen echten, universalistischen ethischen Standpunkt formulieren zu können. Ist es noch möglich, fragte Boehm, eine Kritik unserer Gegenwart im Geiste des aufklärerischen, deutsch-jüdischen Erbes, eines ethischen Monotheismus zu wagen?

In Bezugnahme auf das erste Buch Moses, die Zerstörung von Sodom und Gomorra, sieht Boehm das eigentliche, elementare und lebenspraktische Erbe dieses Humanismus in Abrahams Einspruch gegen Gottes Gewalttat begründet; in dessen Versuch, selbst gegenüber der Macht seines Gottes menschlich zu bleiben. Denn, so Boehm, „angesichts der Zurückweisung aller Macht mit Blick auf das Gebot der Gerechtigkeit, hatte kein Mensch der Welt jemals das Recht, irgendjemandem zu gehorchen. Und genau das Wesen, das dieses Recht nicht hat, ist absolut maßgeblich.“        

Für diejenigen, denen Boehms auf Englisch gehaltene Rede im dynamisch-schnellen Fluss des Vortrags stellenweise zu voraussetzungsvoll und zu akademisch-dicht war, wurde der Philosoph, der im Übrigen für einen bi-nationalen israelischen Staat plädiert, dann auch politisch konkret:

Seit dem 7. Oktober wissen wir, was auf dem Spiel steht. Nachdem wir erst den abscheulichen Anschlag der Hamas auf israelische Zivilisten (und das Zögern gewisser Kreise, sich klar dagegen auszusprechen) erlebt haben und danach die Bombardierung von Gaza (sowie die kalte Schulter, die bestimmte andere Kreise angesichts einer sich anbahnenden humanitären Katastrophe dem Völkerrecht zeigen), wissen wir um die Gefahren einer Gesellschaft, in der kaum ein politisches Lager bereit ist, wahrhaft universalistische Gebote zu verteidigen.

„Wir“ in finsteren Zeiten

Die Überlegungen zum Menschsein, zu der einen Menschheit, die Omri Boehm so prägnant und aus einem geistesgeschichtlich verankerten, deutsch-jüdischen Humanismus heraus formulierte, stellen sich natürlich gerade in finsteren Zeiten mit einer unausweichlichen Dringlichkeit. Und damit untrennbar verbunden auch die Frage nach der Würde des Menschen:  

Die Idee der einen Menschheit traf damals wie heute auf finstere Zeiten. Aber vielleicht ist gerade dies die Definition einer finsteren Zeit: eine, in der die Idee von der Menschheit in Bedrängnis gerät. Die meisten stehen nach wie vor zu der Aussage „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, doch während das eine politische Lager sie unablässig wiederholt, aber kaum über die Grundlagen verfügt, die unbedingte Pflicht zu verstehen, die aus dem Begriff „unantastbar“ folgt (oder über das Verantwortungsbewusstsein, diese Pflicht zu erfüllen), begreift das andere politische Lager dieses universalistische, ja kantische Gebot nicht etwa als Antwort auf vergangene und gegenwärtige Verbrechen, sondern als deren Grund – und als Grund für westliche Gewalt und Ausbeutung.

Humanismus, so lautete entsprechend Boehms Schlussfolgerung, sei dann zu einer bloßen „Maske der Herrschenden“ verkommen: „Sie maskiert die Zerstörung von Natur, die Kolonisierung ganzer Kontinente sowie die Versklavung, wenn nicht sogar Ermordung unzähliger Menschen.“

Entsprechend fasst Boehm das Menschlich-Sein nicht biologisch-ontologisch, also nicht als gegebenen menschlichen Daseins-Zustand auf, sondern als eine moralische Aufgabe: „Dass wir Menschen, dass wir menschlich sind, ist keine simple Tatsache – und kann streng genommen auch gar keine sein. Nein, wir sind imstande unser Menschsein zu denken, weil – oder wenn – wir fähig sind, das Gebot zu befolgen menschlich zu sein.“

„Wo es keine Menschen gibt, bemühe dich, menschlich zu sein.“ (Mischna, Sprüche der Väter)  

Wer also werden „wir“ sein?

Es ist Boehms erhellender und zutiefst humaner, inspirierender Rede zu verdanken, dass diese Literaturfest-Eröffnung zu einem so besonderen Ereignis wurde. Und dass all die, die wie ich unter einem geistigen Klima des „Psst!“, des zunehmenden intellektuellen Verstummens, der Phrasen, Floskeln und Schlagwörter, der Kurzschlüsse und vergifteten Hassdiskurse leiden, sehr viel positiver und dankbar angeregt den weiteren Abend genießen konnten.

Ein Abend, der sich dann endlich auch festlich und „eröffnet“ anfühlte. Denn jetzt gesellten sich zur offenen Bar mit wunderbarem Wein tatsächlich auch Stühle. Und während sich die Gläser, die Sitze und auch die Gespräche der Gäste „füllten“, hallte sicherlich nicht nur in mir Boehms offene Frage weiter nach: Wer werden wir sein?

Wir werden nicht die sein, die eine Antwort darauf geben, sondern die, die von der Antwort geeint werden – von einer, die heutzutage nur wenige zu geben bereit sind: dass nämlich die einzige Möglichkeit, die Leben der Menschen auf der einen Seite als unendlich wichtig zu begreifen, darin besteht, die Leben der Menschen auf der anderen Seite als gleichermaßen unendlich wichtig anzusehen. Und dass deshalb jede mögliche Lösung für diese Finsternis politisch sein muss, nicht militärisch – ausgehend vom einzigen Prinzip, das man kontextlos verfechten sollte: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

**

Die hier zitierten Passagen aus der Festrede Omri Boehms wurden von Jan Schönherr aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Mit der freundlichen Genehmigung des Literaturhauses München.

Externe Links:

Das gesamte Programm