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05.08.2022, 17:11 Uhr
Friedrich Ulf Röhrer-Ertl
Text & Debatte
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Mori Ōgai (Oktober 1916)

Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (2)

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Ostflügel des ehemaligen Militärlazaretts in München, Lazarettstraße, 2009. Statt zum KVR ist der Militärarzt Ôgai am Dienstag im „Kriegsministerium, in der Kommandostelle des Armeecorps und in der Kommandostelle der Garnison“.

Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“. 

In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl. 

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Ankunft, Faschingstreiben & Theater

 

Mori Ôgai verlässt Dresden am Sonntagabend, 21 Uhr. Kein Wort, ob der Zug pünktlich war, aber wir sollten nicht unsere heutigen Maßstäbe auf frühere Zeiten anwenden – er kann, er mag es gewesen sein. Sein sächsischer Hauptlehrer, der Militärhygieniker Wilhelm August Roth (1833-1892) hatte ihn davor mit Rührung verabschiedet. „[Er] trug ein selbst verfaßtes Gedicht vor. Vor lauter Rührung liefen ihm unaufhaltsam die Tränen. Auch mir kullerten sie unwillkürlich an den Wangen hinunter“. Das Tagebuch Ôgais schwelgt nicht oft in solchen Details, aber die zahllosen Namen, die darin ihr Stelldichein geben, zeigen deutlich, dass der schmächtige junge japanische Arzt es verstand, sich rasch Freunde zu machen.

Die Zugfahrt scheint recht ereignislos. Mit ihm reisen zwei weitere Ärzte, Wilke und Wahlberg. Wahlberg, Carl Ferdinand von Wahlberg (1847-1920), 15 Jahre älter als Ôgai und damit 1886 mitnichten 50, wie dieser notiert („trotz seiner fünfzig Jahre ist er temperamentvoll wie ein junger Bursche“), interessiert ihn offensichtlich mehr. Er ist schon Schriftsteller, schreibt „phantastische Geschichten und Dramen“. „Gewöhnlich nennt er Finnland als seine Heimat. Er scheint sich nicht damit abzufinden, daß es zu Rußland gehört.“ Tatsächlich, Wahlberg, als Sohn eines finnlandschwedischen Pfarrers bei den Wolgadeutschen geboren, gehört zur intellektuellen Elite im Großfürstentum Finnlands. Karrieretechnisch wird er Ôgai gleichziehen und dort einmal der oberste Militärarzt werden. Interessant: sein Vater, seine Vorfahren, sein Bruder – protestantische Geistliche, er selbst liegt aber auf dem orthodoxen Friedhof in Helsinki begraben. Was für Geschichten dort dahinterstecken? Ôgai und Wahlberg, Dichter und Ärzte, kommen in München als Freunde an.

Bei Tagesanbruch ist man schon irgendwo in Thüringen oder Bayern. Schnee fällt, Ôgai kratzt das Fenster frei. Die Landschaft geht auf und ab, anders als im Norden. Ihm fallen Bauernfrauen in roten und grünen Tüchern auf. „Vermutlich eine alte Tracht“. Mehr Details, Herr Möwenfern! Vielleicht könnte man es dann sagen.

Schließlich, Montag um 11 Uhr vormittags, Ankunft in München. Für seine erste Nacht steigt Herr Möwenfern im „Deutschen Kaiser“ ab, heute ein grauer Klotz direkt neben dem zusammen- und neuerdings mehr und mehr auseinandergeschusterten Hauptbahnhof. Vom Bau, den Ôgai gesehen hat, sind tatsächlich noch viele kleine Reste im teilabgerissenen Gebäude zu sehen, die Eleganz des vielgestaltigen, fast italienisch anmutenden alten Bürklein-Baus mit seinen damals erst wenige Jahre zuvor fertiggestellten Erweiterungen ist freilich dahin – nicht, dass sie Niederschlag in seinem Tagebuch gefunden hätte.

Es ist Rosenmontag in München, Faschingszeit. „In den Straßen der Stadt herrschte heute ein buntes und reges Treiben. Allerorten sah ich Männer und Frauen mit Masken und in recht sonderbarer Bekleidung. Hier wird wohl gerade der sogenannte Carneval gefeiert [...]“. Manche Dinge sind 1886 also nicht anders als heute, den Lapsus, aus dem gschlamperten bayerischen Fasching einen preußisch hackenzusammenschlagenden Karneval zu machen, wollen wir ihm nachsehen. Auf jeden Fall kein Kulturschock – Herr Möwenfern macht seine Wege, geht abends mit dem neuen Freund Wahlberg ins Gärtnerplatztheater (das ein wichtiger Fixpunkt seiner Münchener Tage werden soll) und im Anschluss – Schlaf ist nur für den, der's braucht, noch im Centralsaal auf einem Maskenball. Dieser Centralsaal war wohl einer der Centralsäle, neben Kil's Colosseum in der Kolosseumsstraße, einer der, man könnte sagen, Partylocations im damaligen München. Das Gebäude steht noch, heute ist darin das Mandarin Oriental untergebracht.

„Auch ich hatte mir eine Maske gekauft“ – wahrscheinlich eine Halbmaske nach venezianischer Art, zumindest trägt eine solche wohl die Kellnerin Babette „in einem weißen Kleid mit grünem Muster und einer schwarzen Maske“, die ihn zum Tanz auffordert und dann – Herr Möwenfern kann und will nicht tanzen – mit ihm etwas trinkt, und „wir waren so recht vergnügt“. Ôgai bringt sie schließlich nach Hause, notiert noch, wo Babette arbeitet, in der „Kronfleischküche (Frauenstraße 12)“. Wo sie bei ihrer Tante wohnt, das schreibt er freilich nicht. Babette bittet ihn um einen weiteren Besuch, aber: „Ich habe sie nie besucht und daher auch nie erfahren, ob sie es aufrichtig gemeint hat“. Sicher ist die Stelle ein Einschub, eine spätere Reflexion wie so vieles im Tagebuch. Ob Herr Möwenfern hier aufrichtig war? Er wirkt hier wie die Männer in so vielen Geschichten, die Mori Ôgai später schreiben wird: galant, leicht desinteressiert und passiv. So ganz kann man es ihm nicht abnehmen, aber wenn da mehr war, er selbst oder seine Mutter haben es zensiert.

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Die nächsten Tage sind angefüllt mit all den Formalitäten, die ein Umzug in eine neue Stadt mit sich bringt, auch wenn das 1886 etwas anders war als heute. Statt zum KVR ist der Militärarzt Ôgai am Dienstag im „Kriegsministerium, in der Kommandostelle des Armeecorps und in der Kommandostelle der Garnison“. Er besucht zuerst das Hygiene-Institut seines zukünftigen Lehrers Max von Pettenkofer und besucht ihn schließlich daheim, in den Räumen der Residenzapotheke („Das Haus ist zwar recht groß, aber nicht besonders prächtig“). Sie sind sich nicht unsympathisch, der „weißhäuptige ältere Herr mit einem breiten Gesicht und großen Ohren“ und der junge Japaner.

Mittwochs steht ein Besuch im Garnisonslazarett im Oberwiesenfeld. Den Bau, den Ôgai ausführlich beschreibt, gibt es heute nur noch zu einem kleinen Teil, der zum Deutschen Herzzentrum gehört. Damals war er hochmodern und teilweise noch im Bau, ein Teil der riesigen Militärstadt, die sich entlang der Dachauer Straße nach Norden hin ausbreitete. Freilich: „Die Krankenhäuser in Dresden sind viel besser“. Der Chefarzt trägt ein Ensemble aus Uniform mit ziviler Krawatte (ist nicht auch heute noch eine Krawatte das Markenzeichen eines Chefarztes?).

Mittwochabend ein Klassiker: Herr Möwenfern besucht den Ärztlichen Verein von München und gerät in eine Diskussion. Ein Arzt behauptet (korrekt, wie man heute weiß), dass Krankheitserreger im Trinkwasser für Typhus verantwortlich sind. „Pettenkofer erhob sich und widersprach ihm. Seine Worte waren von einer wundervollen Schärfe. Dann lächelte er und erklärte: ‚Ich predige das nun schon seit dreißig Jahren. Die Welt hat es immer noch nicht gelernt. Ist das nicht beklagenswert?‘“

Ja, Max von Pettenkofer und die Krankheitserreger. Wenige Jahre später, 1892, wird er öffentlich eine Kultur von Cholerabakterien schlucken, um zu beweisen, dass sie nicht, nun ja, schuld an der Cholera seien. Er kommt mit etwas Durchfall davon, was letztlich eindrucksvoll zeigt, warum es heute z.B. noch Homöopathie gibt.

Donnerstag mietet sich Herr Möwenfern ein Zimmer gegenüber dem Hygieneinstitut, Heustraße 16 b, 3. Stock bei J. Palm. „Sie haben eine vierzehnjährige Tochter, die gut Klavier spielt“. Wir werden diese Stätten in einer späteren Folge besuchen. Nur so viel sei verraten: Wie damals sieht es nicht mehr aus.

Freitag steht ein Besuch bei einem Universitätsrat in der LMU an. Wichtiger ist Herrn Möwenfern freilich der erste Besuch im Hoftheater. Gemeint ist das Nationaltheater, denn wo heute fast ausschließlich noch Oper und Ballett ihr Zuhause haben, wurden damals auch noch Theaterstücke gegeben. In einer Zeit ohne Kino, Schallplatte, Radio, Fernsehen, Internet, Netflix (you name it, they ain’t got it) war so ein Theater alles das und jede Abwechslung gerade gut genug. Diesmal ist es die 1871 entstandene Tragödie Klytaemnestra von Georg Siegert (1836-1921). Wikipedia kennt ihn nicht, aber Franz Brümmer wusste 1913 in seinem Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart auf S. 427 zu berichten, dass Siegert, Philologe und Lehrer für klassische Sprachen am Kadettenkorps (also am heutigen Wilhelmsgymnasium, denn dort wurden die Kadetten mit ausgebildet), 1883 in den Ruhestand trat, „um seither als dramatischer Schriftställer tätig zu sein“. Dramatisch ist seine Klytämnestra sicher, der Text online zu finden. Ob es Herrn Möwenfern gefallen hat? Er erwähnt die damals gefeierten Schauspielerinnen Clara Ziegler (1844-1909) und „Fräulein Bland“, also Hermine Bland (1850-1919), erklärt ansonsten aber nur konziliant: „Alle zeigten durchaus künstlerische Leistungen“. Schade, insbesondere zu Ziegler hätte ich gerne mehr erfahren, schon, weil ich das Deutsche Theatermuseum (das als Stiftung der Schauspielerin begann) recht gerne besuche.

Den Samstag entspannt sich unser Herr Möwenfern, nur ein kleiner Besuch wird vermerkt. Wer weiß, wahrscheinlich las er. Zum begeisterten Leser mehr in einer anderen Folge.